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»Warum soll der Täter das Opfer von der Maria-Bründl-Quelle hierhergebracht haben?«, fragte Grünbrecht.
»Tja, das müssen wir noch klären.« Kolanski steckte die Daumen in die Gürtelschlaufen seiner Hose und starrte auf den Toten, als wartete er auf dessen Kommentar.
»Die Kabelbinder hat er sich gewiss auch nicht selber angelegt und festgezurrt«, antwortete stattdessen Grünbrecht.
»Aber es würde erklären, warum er betet«, warf Mirscher ein. »Ich meine, warum ihn jemand als betend dargestellt hat«, stellte er richtig. Schließlich beteten Tote nicht mehr.
»Blödsinn! Was ihr da von euch gebt, gehört in ein Märchenbuch und nicht in einen Polizeibericht«, bereitete Stern den wilden Spekulationen ein Ende. Dennoch blieb ebenso für ihn die Auffindeposition des Toten ein Rätsel. Um keinen Fehler zu begehen, wenn doch etwas an dieser Heilwasser-Theorie dran sein sollte, sagte er zu Weber, dass er den Toten bei der Obduktion auf etwaige Krankheiten untersuchen solle. Allzu groß schätzte er die Wahrscheinlichkeit allerdings nicht ein, dass das Opfer tatsächlich krank gewesen war. Schließlich stand es mit seinen 35 Jahren gerade in der Blüte seines Lebens.
»Erzählt mir mehr über den Toten«, verlangte Stern von den Kollegen.
Grünbrecht zückte ihren Notizblock und las vor. »Also, Oliver Koch befand sich am Anfang seiner politischen Karriere. Er gehörte der rechten Partei an, war verheiratet und hatte ein Kind.«
»Weiter?«, hakte Stern ungeduldig nach.
Grünbrecht klappte ihren Notizblick zu und sagte: »Nichts weiter. Wir haben erst mit den Ermittlungen angefangen. Das Wenige, was ich Ihnen über Oliver Koch sagen kann, weiß ich vom Totengräber. In so einem kleinen Ort kennt jeder jeden. Obwohl gut gekannt hat er den Koch anscheinend nicht, das behauptet er zumindest.«
»Interessant«, brummte Stern.
»Wahrscheinlich war dieser Koch seiner Meinung nach in der falschen Partei, und er wollte nicht, dass wir denken, dass er auch zu denen gehört.«
Ein Totengräber, der eine Leiche findet, sinnierte Stern. Das Ganze mutete ziemlich ungewöhnlich an, ganz egal, zu welcher Fraktion der Tote gezählt hatte.
»Kommen Sie, Grünbrecht, wir beide reden mit dem Mann. Die Spurensicherung soll den Friedhof nach einem Gegenstand absuchen, mit dem man das Opfer niedergeschlagen haben könnte. Und natürlich suchen wir nach dem Tatort. Haltet Ausschau nach etwas, das dafür infrage kommt, jemanden zu ertränken. Mirscher und Kolanski, ihr beide befragt die Leute vor dem Friedhof. Vielleicht ist jemand dabei, der etwas gesehen hat.«
Stern schritt seiner Kollegin voran in Richtung des Kreuzes, das im alten Teil der Gräberanlage in der Mitte auf einem Betonsockel thronte und die Toten zu bewachen schien. Von dort aus beobachtete der Totengräber nach wie vor das Geschehen neugierig. Stimmt schon, so ein Mord auf einem Friedhof war etwas Besonderes, dachte Stern, ebenso, dass dieser Fall ganz St. Oswald aus seinem friedlichen Dornröschenschlaf rütteln würde. Plötzlich gab es einen Mörder in den eigenen Reihen. Sie würden sich gegenseitig verdächtigen, etwas mit dem Tod von Oliver Koch zu tun zu haben. Misstrauen und Denunzierungen würden ab heute Einzug in die Bevölkerung halten und gedeihen wie Unkraut auf einem wohlgenährten Boden.
»Chefinspektor Oskar Stern, das ist meine Kollegin Gruppeninspektorin Mara Grünbrecht«, stellte Stern sich und seine Kollegin dem Totengräber vor. »Wie heißen Sie?«
»Hans Blöchinger. Eigentlich heiß’ ich ja Johannes, aber alle sag’n Hans zu mir. Ist kürzer. Kann man sich leichter merk’n«, sprudelte es aus dem Angesprochenen heraus.
Na gut, eine Leiche zu finden war keine alltägliche Sache, da war Erregung schon angesagt, dachte Stern und hoffte, dass der Mann in seiner Aufregung nichts angefasst hatte. Dann nämlich würden sie am Tatort seine Fingerabdrücke finden, vielleicht sogar auf dem Opfer. »Sie haben den Toten entdeckt?«
»Ja, heut’ Morgen. Ich wollt’ ein Grab ausschaufeln für eine andere Leich’, für eine frische. Aber die hier ist noch frischer.« Der Totengräber deutete hinüber auf das Grab, auf dem das Opfer gefunden worden war, das gerade von zwei in weißen Overalls steckenden Männern in einen grauen Blechsarg gehoben wurde. »Die andere Leich’ ist nämlich schon 83 Jahre alt, ist also schrumpelig. Eine Frau ist es.«
»Ist Ihnen bei dem Toten irgendetwas aufgefallen, das außergewöhnlich ist?«, fragte Stern.
»Wenn S’ mich frag’n, ist bei der Leich’ alles außerg’wöhnlich«, antwortete Blöchinger, und Stern gab ihm in Gedanken recht. »Sonst sterb’n die Leut’ ja im Bett oder auf der Straß’n. Oder werd’n erschossen wie in Amerika. Aber so …« Erneut zeigte der Totengräber hinüber zu jener Stelle auf dem Friedhof, von wo sich die Männer gerade mit dem geöffneten Sarg auf den Weg in die Gerichtsmedizin machten, da sich der Sargdeckel aufgrund der Totenstarre der Leiche nicht schließen ließ. Dort würde ihm Dominik Weber alle Geheimnisse entlocken, die er vor ihnen verbarg. Ob er tatsächlich ertrunken oder an dem Schlag auf den Kopf gestorben war. Und ob er tatsächlich an einer schweren Krankheit gelitten und Heil im Quellwasser von Maria Bründl gesucht hatte. Ein Unfall war nicht auszuschließen, wenngleich er äußerst unwahrscheinlich war. Aber vielleicht hatte tatsächlich jemand die Leiche gefunden und sie aus Angst, mit einem Verbrechen in Verbindung gebracht zu werden, hierhergeschafft, ohne sich zu erkennen zu geben. Die festgezurrten Hände deuteten jedoch eher auf vorsätzlichen Mord und eine Zurschaustellung des Opfers hin. Deshalb würden sie die Unfalltheorie nicht weiter verfolgen. Für Stern lag ohnehin auf der Hand, dass es sich um Mord handelte. Die in Pose gebrachte Leiche sprach eindeutig dafür.
»Haben Sie jemanden auf dem Friedhof gesehen, der Ihnen verdächtig vorkam?«
»Na! Zu so früher Stund’ sind noch keine Leut’ auf ’m Friedhof. Da bin ich immer allein«, erklärte Blöchinger. Er wirkte nun etwas entspannter als zu Beginn der Befragung.
»Was haben Sie eigentlich so früh hier gemacht?«, wollte Grünbrecht von dem Totengräber wissen.
»Ich hab ja schon g’sagt, dass ich ein Grab ausheben muss, für die alte Frau, die vor ein paar Tagen g’storben ist. Die ist friedlich entschlafen. Zumindest denken das alle, weil wiss’n tut man so etwas ja eigentlich nie«, erwiderte Blöchinger.
»Gibt es einen begründeten Anlass für diese Spekulation?«, fragte Stern. Ein zweites Opfer würde ihm gerade noch fehlen.
»Nein! Aber wiss’n tut man es trotzdem net.«
Stern verdrehte ungewollt die Augen. »Dafür gibt es die Totenbeschau, Herr Blöchinger. Damit alles seine Ordnung hat und keine Gewalttat als natürlicher Tod durchgeht.«
»Kann ich weiterarbeit’n? Am Nachmittag ist das Begräbnis der Frau, und da muss ich mich wirklich beeilen, dass ich das schaff’«, erklärte der Totengräber. »Das ist nämlich net klass’, wenn die Familie kommt und den Sarg net in die Erde reinlassen kann. Stellen S’ Ihnen das mal vor!«
»Ich kann Ihnen nicht versprechen, dass das Begräbnis am Nachmittag überhaupt stattfinden kann. Der Friedhof ist schließlich ein Tatort, und wir müssen zuerst alle Spuren sichern«, sagte Stern.
Der Totengräber nahm die Nachricht mit Bestürzung auf. »Das geht net! Bei uns ist noch nie ein Begräbnis abg’sagt word’n! Das ist ja net wie ein Konzert oder eine Party. Das ist eine Leich’, und die Leich’ vergammelt, wann die net unter die Erd’ kommt.« Auf seinem Gesicht wechselten Unglaube und Entsetzen einander ab. Anscheinend konnte er Sterns Worte nicht glauben, noch viel weniger wollte er sie an die Betroffenen weiterleiten, die dadurch vor einem unangenehmen Problem stünden, wofür Stern dann doch Verständnis aufbrachte.
»Wo wollen Sie denn graben?«, frage er.
»Dort drüben, gleich hinter dem schönen Kreuz von unser’m Herrn Pfarrer. Dort, wo die neuen Gräber alle sind. Dort muss ich graben.« Blöchinger deutete in die angesprochene Richtung, hinüber in den neuen Teil des Friedhofes, wo eine grüne Rasenfläche zu sehen war. Offensichtlich hatte man in St. Oswald vorgesorgt und den Friedhof erweitert, damit jeder Tote seinen Platz in geweihter Erde fand.
»Das ist okay. Wenn Sie in diesem Teil des Friedhofes bleiben, dürfen Sie das Grab ausheben«, entschied Stern und ließ den Totengräber ziehen. Er war zweifelsohne ein einfacher Mann, jedoch einer, der seine Arbeit äußerst ernst nahm.
2. Kapitel
Chefinspektor Oskar Stern und Gruppeninspektorin Mara Grünbrecht kehrten nach der Befragung des Totengräbers zurück zur Fundstelle der Leiche. Stern inspizierte die Grabstätte erneut und rätselte, was der Täter mit der Positionierung des Opfers hatte ausdrücken wollen, welche Botschaft dahintersteckte und ob das Opfer und die Tote in dem Grab einander gekannt hatten.
»Paula Eckinger«, las er die Inschrift auf dem Grabstein laut vor. »Sie ist nur 29 Jahre alt geworden.«
»Glauben Sie, dass es eine Verbindung zwischen unserem Opfer, diesem Oliver Koch, und Paula Eckinger gibt?«, griff Grünbrecht seine Überlegungen auf.
»Wir sollten herausfinden, wie die Frau gestorben ist und ob sie Koch gekannt hat.«
»Okay.« Grünbrecht wollte sich schon an die Beschaffung der Informationen machen, als Stern sie zurückhielt.
»Mirscher und Kolanski sollen das erledigen, und sie sollen sich auch umhören, wie Koch als Politiker gewesen ist. Ob er beliebt war oder nicht. Wir beide fahren zu diesem Bründl, von dem Kolanski gesprochen hat.«
»Wieso das …? Ich dachte, Sie glauben eh nicht …«
»Ich will ausschließen, dass wir etwas übersehen. Auch wenn das mit dem Bründl unwahrscheinlich ist. Aber wir suchen nach etwas, in dem das Opfer ertrunken sein könnte, so wie Weber behauptet hat«, erklärte Stern seine Beweggründe. »Und wenn wir bei diesem Bründl Kampfspuren finden, haben wir vielleicht den Tatort. Denn auf dem Grab ist Koch sicher nicht ertrunken. Und auf dem Friedhof sehe ich auch sonst nichts, wo Wasser drinnen ist. Der Trog unter dem Kreuz ist ja leer.«
»Okay, Chef. Wir nehmen meinen Wagen«, schlug Grünbrecht vor und googelte bereits im Gehen alles Wissenswerte über das Maria Bründl im Exenholz, das gut zwei Kilometer außerhalb von St. Oswald in einem ausgedehnten Waldstück lag. Während sie den Motor des BMW startete, setzte sie Stern darüber in Kenntnis, was sie im weltweiten Netz in Erfahrung gebracht hatte. »Anscheinend gibt es zu diesem Bründl eine Geschichte. Ein Holzfäller hat sich schwer bei der Arbeit verletzt. Anschließend hat er mit dem Wasser die Wunde behandelt und ist rasch genesen.«
»Zufall«, brummte Stern.
»Diese Heilung war nur die erste. Ab da an sind ständig Menschen zu der Quelle gepilgert und wurden von ihren Leiden erlöst«, berichtete Grünbrecht weiter, was im Internet geschrieben stand.
»Ach was! Wir Menschen klammern uns in der Not an alles Mögliche. Der Glaube an dieses Wasser aktiviert die Selbstheilungskräfte, und die haben diese Menschen, von denen da geschrieben steht, gesund werden lassen. Und nicht das Wasser, das angeblich irgendwelche Heilkräfte besitzt.« Stern hielt nicht viel von solchen Dingen. Schon gar nicht, wenn es keine Beweise gab, sondern nur Aussagen von den angeblich Geheilten, die seines Erachtens nicht in der Lage waren, objektiv Zeugnis abzulegen. Mit Zeugenaussagen hatte er im Laufe seiner Dienstzeit so seine unliebsamen Erfahrungen gemacht. Einmal hatte ein Zeuge sogar beim Leben seiner Mutter geschworen und einen bestimmten Menschen als Täter identifiziert, der jedoch zur Tatzeit nachgewiesen in China gewesen war.
»Es gibt dort eine Kapelle«, erzählte Grünbrecht, als sie die Ortstafel passierten und sich der Wald vor ihnen ausbreitete. »Wenn ich mich richtig daran erinnere, was ich eben im Internet gelesen habe, hat man sie um 1696 erbaut. Der Altar kam erst viel später hinzu, von irgendjemandem aus Ottensheim.«
»Einem gewissen Meister Kepplinger«, ergänzte Stern.
Grünbrecht spähte neugierig zu ihrem Chef hinüber und war überrascht, dass er den Namen jenes Mannes kannte, der den Altar der Kapelle erschaffen hatte. Weder stufte sie Stern als besonders gläubig noch als geschichtlich interessiert ein.
»Tja, da staunen Sie, Grünbrecht, was? Auch ich kann mit einem Handy mehr tun, als bloß zu telefonieren.« Stern hielt sein Smartphone in die Höhe, auf dem die Seite der Gemeinde St. Oswald über das Maria Bründl geöffnet war, und wedelte damit herum. Nur mit dem Lesen tat er sich schwer. Er brauchte eine Brille, war ihm seit Längerem klar, aber irgendwie sträubte er sich, diese Tatsache zu akzeptieren. Mit einer Brille, so glaubte er, wäre er dem Pensionsantritt noch näher als ohne, und mit seinen 59 Jahren fühlte er sich dem Rentnerdasein ohnehin schon viel zu nahe. Deshalb hatte er die Schriftgröße auf seinem Handy auf Maximum gestellt, um die Informationen halbwegs entziffern zu können. »Im Jahr 1680 ließen die damaligen Herrscher von Weinberg eine Badeanlage bei der Quelle errichten, 1761 wurde diese Anlage neu gebaut und im Jahr 1955 geschlossen«, las er laut vor.
»Schade, sonst hätten wir ein Bad nehmen können. Dadurch hätten wir am eigenen Leib erfahren, ob das Wasser eine Wirkung hat oder nicht«, scherzte Grünbrecht und bog in die Zufahrt zur Heilquelle ein. Auf dem Parkplatz vor der spätbarocken Wallfahrtskapelle Maria Bründl hielten sie an.
»Natürlich hat Wasser eine Wirkung. Man wird davon sauber und es löscht den Durst«, brummte Stern.
»Das natürlich auch, aber das meinte ich nicht. Irgendetwas muss doch dran sein an dieser Heilwasser-Geschichte.«
»Laut wissenschaftlichen Untersuchungen weist die Quelle einen Radongehalt von 5,6 nCi pro Liter auf«, dozierte Stern.
»Und was bedeutet das?«, fragte Grünbrecht, die keinen blassen Schimmer hatte, was ihr Vorgesetzter damit ausdrücken wollte. »Radon ist doch so radioaktives Zeug, oder etwa nicht?«
»Schon, aber wenn man der Medizin Glauben schenken darf, hilft das natürlich vorkommende Radon im Wasser bei Rheuma sowie Haut- und Atemwegserkrankungen.« Stern beendete die Internetrecherche und steckte das Handy in die Brusttasche seiner Jacke. »Und wie wir mit eignen Augen feststellen können, glauben ganz viele Menschen an die Heilkraft dieses Radonwassers.« Stern und Grünbrecht beobachteten vom Wagen aus, wie mehrere Personen ganze Kisten voller Wasserflaschen aus dem Wald herauskarrten.
»Irgendwo dort drinnen ist wohl die Quelle«, schlussfolgerte Grünbrecht.
»Ich schlage vor, wir sehen uns das mal an.« Stern stieg aus dem BMW und folgte den Pilgern hinein in den Wald. Nur einen Steinwurf von der Kapelle entfernt befand sich am Beginn eines Hangs eine Abfüllstation, zu der das Wasser der Quelle geleitet wurde, damit die Menschen beim Abfüllen ihrer Flaschen die Andacht in der Kapelle nicht störten. Mindestens acht Personen belagerten die Entnahmestelle, und Stern überlegte, wie viele weitere seit dem Mord an dem Politiker hier gewesen sein mochten. Sie alle hatten dazu beigetragen, dass alle Kampfspuren – wenn es welche gegeben hatte – vernichtet worden waren.
»Hier werden wir nichts finden, Chef«, kam Grünbrecht zu dem gleichen Ergebnis.
»An einem derart stark frequentierten Ort ist es immer schwer, Spuren zu sichten, Grünbrecht. Schauen wir uns den steinernen Brunnen mal genauer an, ob es überhaupt möglich wäre, dass darin jemand ertrinkt.«
»Oder ersäuft wird.«
»Auch das ist natürlich denkbar.«
Die Kriminalbeamten warteten darauf, bis die Menschen mit ihrem abgezapften Heilwasser von dannen gezogen waren, und besahen sich anschließend die Abfüllstation.
»Wir haben Glück, Chef. Dort oben ist eine Kamera. Sie zeigt auf den Platz vor der Entnahmestelle.«
»Der Winkel ist nicht gerade vielversprechend«, warf Stern ein. »Alles, was sich direkt vor der Quelle abspielt, wird nicht gefilmt. Und wenn man seitwärts den Hang runterkommt, erfasst einen die Kamera auch nicht.«
»Trotzdem sollten wir den Betreiber um die Aufnahmen bitten.«
»Übernehmen Sie das, Grünbrecht.«
Die Gruppeninspektorin notierte sich die Anweisung, und Stern stellte sich vor, wie der Mord an diesem Platz abgelaufen sein könnte.
»Wenn die Brunnen zur Gänze mit Wasser gefüllt sind, kann man darin jemanden ertränken. Und an diesem Hahn«, Stern deutete auf den Zapfhahn, der aus der Steinmauer ragte, »kann man sich leicht stoßen, wenn einem der Kopf unter Wasser gedrückt wird.«
»Das würde die Verletzung am Hinterkopf des Opfers erklären. Demnach müssten wir Spuren an dem Hahn finden«, resümierte Grünbrecht.
»Wenn inzwischen nicht zu viel Wasser durch Heilsuchende heruntergelaufen ist«, warf Stern ein.
»Die Spurensicherung soll trotzdem herkommen und alles absuchen«, erwiderte Grünbrecht, während sie das Handy entsperrte und nach der gewünschten Nummer scrollte.
»Wenn es Kampfspuren gegeben hat, sind die vernichtet«, sagte Stern zu Grünbrecht, was er sich vorhin bereits gedacht hatte, und deutete auf den Boden. »In den letzten Stunden sind hier bestimmt Dutzende Füße darüber getrampelt.«
»An der Entnahmestelle werden wir wahrscheinlich unzählige Spuren von genauso vielen Leuten finden«, zeigte Grünbrecht sich ebenfalls nicht gerade hoffnungsvoll, einen Treffer zu landen und somit zu einem schnellen Ergebnis im Mordfall Oliver Koch zu kommen. Anschließend wählte sie die Nummer der Spurensicherung.
Währenddessen begutachtete Stern das Granitbecken der Entnahmestelle und fragte sich, ob es tatsächlich möglich war, dass dieses Wasser, das irgendwo nahe der Kapelle aus der Erde kam, Heilkräfte besaß. Wenn ja, konnte es nicht schaden, sich damit das Gesicht zu waschen und die Augen zu reiben, entschied er kurzerhand, bevor Grünbrecht ihr Telefonat beendete. Dann musste er ihr auch nichts erklären. Er warf rasch einen Blick zu ihr hinüber, und als er sie mit dem Rücken zu sich stehend der Spurensicherung Anweisungen geben sah, bückte er sich und benetzte das Gesicht mit dem kühlen Nass. Mehrmals wusch er sich die Augen und hoffte, dass dadurch eine Brille nicht mehr nötig wäre.
»Chef, was machen Sie da?«, fragte Grünbrecht plötzlich hinter ihm.
»Äh …« Stern fiel es schwer, auf die Schnelle eine passende Antwort zu finden. Sein Gesicht war nass, das Wasser tropfte von seinem Kinn auf Brust und Bauch und hinterließ auf dem blauen Hemd dunkle Flecken. Es war zwecklos, ihm fiel keine Ausrede ein, also blieb er bei der Wahrheit. Oder der Beinahe-Wahrheit. »Mir war heiß, und da habe ich mich ein wenig abgekühlt.« Mit der Hand wischte er das überschüssige Wasser ab, um zu verhindern, dass es weiter seine Kleidung durchnässte.
»Sie könnten einen Tatort verunreinigt haben«, wies Grünbrecht ihn auf diese Möglichkeit hin.
»Ich bin mir sicher, dass der Mord nicht hier stattgefunden hat. Außerdem habe ich aufgepasst, dass ich nichts berührt habe bis auf den Hahn. Und den haben Unzählige vor mir angefasst.«
»Ihnen war gar nicht heiß. Sie haben das Wasser ausprobiert, weil Sie wissen wollen, ob es tatsächlich Heilkräfte besitzt. Wegen Ihrer Augen. Und ich dachte, Sie halten nichts von diesem Hokuspokus. Sie sollten sich eine Brille zulegen, Chef.« Grünbrecht sah ihren Vorgesetzten herausfordernd an. Stets wetterte er gegen Gefühle und Glauben. Immer verlangte er Fakten. Doch wo waren die Beweise für die Heilkraft dieses Wassers?
»Ich halte auch nichts davon. Aber wenn wir schon mal da sind, kann es nicht schaden, es zu testen«, rechtfertigte Stern sein Handeln.
Grünbrecht schüttelte den Kopf. »Wenn ich das Mirscher und Kolanski erzähle …«
»Nichts werden Sie, Grünbrecht! Das bleibt unser kleines Geheimnis!« Stern hob drohend den Zeigefinger.
»Sie können mich nicht zum Schweigen zwingen, Chef. Wenn ich es für mich behalte, dann mache ich das aus freien Stücken«, stellte die Gruppeninspektorin klar.
Stern seufzte. Natürlich hatte Grünbrecht recht, auch was sein ansonsten so penibel auf Fakten getrimmtes Bewusstsein anbelangte. Für einen Augenblick hatte er sich hinreißen lassen und an die Kraft des Wassers glauben wollen. Nun, schaden würde es ihm bestimmt nicht, hoffte er, auch wenn darin in einer höheren Konzentration als üblich Radon zu sein schien. Er würde dadurch schon nicht erblinden. Obwohl sich jetzt ein ungutes Gefühl bei ihm einstellte.
»Wir sollten für Weber eine Probe mitnehmen. Die kann er mit den Rückständen in der Kleidung des Opfers abgleichen. Wegen dem hohen Radongehalt müsste leicht herauszufinden sein, ob das Opfer hier getötet wurde«, wechselte er rasch das Thema.
»Haben Sie etwas dabei, in das wir das Wasser füllen können? Oder wollen Sie Ihr Hemd zur Verfügung stellen?«, stichelte Grünbrecht und deutete auf die dunklen feuchten Flecken auf Sterns Brust.
Stern ignorierte seine Kollegin und bat eine der Frauen, die eben mit mehreren leeren Flaschen in den Wald gepilgert kamen, um ein Behältnis. Und weil er es gar so charmant anstellte, füllte ihm die dralle Endvierzigerin auch noch selbiges, was Stern ein überhebliches Grinsen ins Gesicht zauberte. Dann aber musste er die Damen enttäuschen und ihnen mitteilen, dass sie heute kein Heilwasser mehr würden zapfen können, da die Spurensicherung alles untersuchen musste. Nur für die falsche Blondine, die ihm eines ihrer Gefäße überlassen hatte, machte er eine Ausnahme. Sekunden später war die Spurensicherung bereits im Anmarsch und sperrte das Gebiet rund um die Heilquelle ab. Stern übergab ihnen die Flasche mit dem Quellwasser, welches später im Labor analysiert und mit den Proben von der Kleidung des Opfers abgeglichen werden würde. Sollte sich ebenso Wasser in der Lunge des Toten befinden, würde das natürlich ebenfalls auf eine eventuelle Übereinstimmung überprüft werden.
»Kommen Sie! Wir fahren nach St. Oswald zurück. Ich bin gespannt, was Kolanski und Mirscher indessen über das Opfer herausgefunden haben«, sagte Stern, als sie wieder oben am Parkplatz standen. Anschließend ließ er sich auf den Beifahrersitz von Grünbrechts BMW fallen.
*
Zurück auf dem St. Oswalder Friedhof sahen Stern und Grünbrecht, dass die Autos der Kollegen immer noch am Eingang des Friedhofs parkten. Grünbrecht stellte ihren Wagen auf der Straßenseite gegenüber ab. Da fiel Sterns Blick auf eine ihm bekannte Gestalt. Eleonore Winkler, Reporterin bei den OÖ. News, kam den Friedhofsweg herunter und geradewegs auf ihn zugestöckelt.
»Chefinspektor Stern!«, rief sie und wedelte mit einem Aufnahmegerät in der Hand, um auf sich aufmerksam zu machen.
Stern fragte sich, warum die Journalistin bereits Kenntnis von dem Mordfall hatte, gab sich aber sofort selbst die Antwort. Die junge ehrgeizige Frau hatte bestimmt mal wieder den Polizeifunk abgehört.
»Frau Winkler«, grüßte Stern zurückhaltend und wollte sich an der zarten Reporterin vorbeidrücken, doch die stellte sich ihm selbstbewusst mit ihren Stöckelschuhen in den Weg. Sie trug ein hellblaues Kostüm, um den Hals hatte sie einen azurblauen Seidenschal gewickelt. In diesem Outfit hätte die Journalistin über einen Catwalk flanieren können, hier vor dem Friedhof wirkte sie eindeutig overdressed.
»Stern, darf ich Sie zu dem Mord interviewen?«, fragte sie mit einem Augenaufschlag wie einst Marilyn Monroe.
»Sie wissen, dass ich Ihnen über laufende Ermittlungen keine Auskunft geben darf. Dafür ist die Pressestelle in der Nietzschestraße am Landeskriminalamt zuständig«, erwiderte Stern gelassen.
»Sie bestätigen also, dass es sich um Mord handelt?«, redete Winkler in ihr Aufnahmegerät hinein und hielt es anschließend Stern hin.
»Das hab ich nicht gesagt«, brummte Stern grimmig. Die Journalistin verstand es jedes Mal, ihn aus der Reserve zu locken.
»Ausgeschlossen haben Sie es allerdings auch nicht.«
Stern blieb stehen. Seine Gelassenheit war wie weggepustet. Eindringlich betrachtete er die Frau. »Wir wissen doch noch gar nicht, ob es Mord war. Wir haben eben erst mit den Ermittlungen angefangen.«
»Können Sie mir zumindest sagen, wer der Tote ist?«, fragte Winkler.
»Solange seine Identität nicht bestätigt ist, kann ich das nicht«, sagte Stern und ging weiter.
»Stern?«, rief Winkler ihm hinterher.
Der Chefinspektor blieb nicht stehen und drehte sich auch nicht um. Er hatte mittlerweile das Friedhofstor erreicht und zog es hinter sich zu. Erleichtert, wie er feststellte, denn dieses Tor bot ihm vor der neugierigen und gleichzeitig scharfsinnigen Frau ein wenig Schutz. Wenngleich er dieses Gefühl als lächerlich abtat. Immerhin war er eine stattliche Erscheinung, vielleicht ein bisschen zu stattlich, wenn er an die paar Kilo zu viel dachte, die er auf die Waage brachte, und die Frau wog gut ein Drittel weniger als er. Was sollte sie ihm da schon entgegensetzen? Dennoch strahlte sie etwas aus, was ihm Respekt einflößte. Es war ihr Verstand, der dieses Gefühl bei ihm auslöste.


