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»Geben Sie mir ein Exklusiv-Interview, so wie damals, als der Liebenauer Priester ermordet wurde?« Eleonore Winkler klimperte mit ihren stark getuschten Wimpern. Sie wusste ihre weiblichen Reize einzusetzen, das musste Stern zugeben.
»Damals haben Sie mir einen Tipp gegeben, erinnern Sie sich?« Stern hatte hinter dem Tor aus Gitterstäben angehalten.
»Ja, ich erinnere mich«, flötete Winkler durch die Stäbe hindurch. »Wenn ich Ihnen wieder einen Tipp gebe, steht das Interview dann? Die Menschen interessieren sich viel mehr für eine Story, die aus dem Mund eines Chefinspektors stammt«, sagte sie, griff durch die Gitterstäbe, fasste nach dem Revers von Sterns Jacke und zupfte ihn zurecht, »als für die langweiligen Fakten einer Pressestelle.«
Stern, dem Winklers Verhalten langsam unangenehm wurde, überlegte, was schon schiefgehen sollte, wenn er in diesen Deal einwilligte? Eigentlich nichts. »Ich bin gespannt, welchen Tipp ich von Ihnen kriege, der uns hilft, den Mord rascher aufzuklären«, sagte er und wandte sich ab.
»Ich sagte doch, dass es sich um einen Mord handelt«, lachte Eleonore Winkler und klatschte einmal in die Hand. Auch wenn sie draußen vor den Toren des Friedhofs bei den anderen Schaulustigen warten musste, freute sie sich über diesen kleinen Erfolg.
Stern biss sich auf die Lippen. Dass ihm dieser blöde Kommentar entfleucht war, ärgerte ihn. Er hoffte, dass die Reporterin mit dieser Information sorgfältig umging, da sie sich schließlich ein Exklusiv-Interview von ihm erhoffte. Beeinflussen konnte er es nun allerdings nicht mehr.
Mirscher und Kolanski hatten sich indessen in der Leichenhalle einquartiert und befragten dort die auskunftswilligen St. Oswalder.
»Habt ihr etwas herausgefunden, das uns weiterhilft?«, wollte Stern von Gruppeninspektor Hermann Kolanski wissen.
»Nur das Übliche. Einen wirklich Verdächtigen haben wir nicht, aber wir stehen ja erst am Anfang der Ermittlungen«, vernichtete Kolanski Sterns Hoffnung, den Fall rasch zu lösen.
»Okay. Grünbrecht und ich fahren zur Witwe und überbringen ihr die Nachricht vom Tod ihres Mannes«, sagte Stern.
»Ich möchte auf gar keinen Fall mit euch tauschen«, gab Kolanski ehrlich zu. »Da höre ich mir viel lieber an, was die St. Oswalder zu sagen haben, auch wenn vieles davon nur Klatsch und Tratsch ist. Wusstest du, dass die hier das erste oberösterreichische Schnapsmuseum haben?«
»Nein, wusste ich nicht«, brummte Stern und blickte auf die Uhr. Es war längst nach Mittag, sein Magen knurrte. Das trug nicht gerade dazu bei, ihn bei Laune zu halten.
»Das sollten wir uns mal ansehen«, redete Kolanski weiter von dem Schnapsmuseum.
»Ach, sollten wir?« Sterns Stimmung verbesserte sich dadurch nicht wirklich.
»Anscheinend kann man die Schnäpse dort verköstigen«, fügte Kolanski hinzu.
»Ich hab Hunger, Kolanski. Ich brauch etwas zum Beißen und nicht zum Saufen!«, fuhr Stern den Kollegen an. »Außerdem sollst du mit den Leuten nicht über das Schnapsmuseum reden, sondern über das Opfer!«
»Dann sollten wir unbedingt bald etwas essen«, lenkte Kolanski sofort ein, um seinen Chef nicht noch mehr zu reizen.
»Wir treffen uns nachher im Gasthaus im Ort. Ich hab da eines gesehen, als ich hergefahren bin. Liegt direkt an der Straße«, sagte Stern, der selber wusste, dass er im Begriff war, unleidig zu werden. Hunger brachte diese Eigenschaft bei ihm zum Vorschein. Er hielt nach Grünbrecht Ausschau, und als er sie bei Mirscher entdeckte, deutete er ihr, dass sie mit ihm mitkommen solle. Das war auch so eine Sache, die seine Laune regelmäßig in den Keller sinken ließ. Mirscher und Grünbrecht hatten vor zu heiraten, und Bormann, der Dienststellenleiter, lag ihm seit Wochen in den Ohren, dass er die Angelegenheit regeln solle, was bedeutete, dass einer von den beiden die Abteilung verlassen musste. Doch Stern wollte sich nicht für oder gegen einen aus seinem Team entscheiden. Er wollte, dass alles blieb wie es war. Denn so war es gut. Alles lief, wie es laufen sollte.
Wenn er sich für Grünbrecht entschied, dauerte es bestimmt nicht lange, bis sie ein Kind bekam. Dann würde er auch sie verlieren, zumindest für eine gewisse Zeit, die allerdings lange genug war, dass er sich derweilen in den Ruhestand verabschiedete. Das passte nicht zu seinen Plänen, da er sie eigentlich als seine Nachfolgerin vorschlagen wollte. Mara Grünbrecht war die geborene Ermittlerin, hatte ein Gespür für Menschen und einen todsicheren Riecher, was die Motive der Täter anbelangte. Sie war die perfekte Ergänzung zu ihm. Er war der reife, auf Fakten getrimmte Kriminalbeamte und sie eine junge Inspektorin, die auch Bauchgefühle zuließ. Außerdem wäre sie in der Lage, Mirscher und Kolanski eine gute Vorgesetzte zu sein. Wahrscheinlich besser, als er es jemals gewesen war. Und wenn er sich für Mirscher entschied, brauchte er sich zwar über eine lange Babypause keine Gedanken zu machen, so wie er die beiden einschätzte, dennoch war der Kollege nicht so mit dem Herzen ein Ermittler wie Grünbrecht, auch wenn er ein guter Polizist war. Grünbrecht ging mit einer Leidenschaft an die Sache ran, die Mirscher fehlte. Außerdem …
»Wohin fahren wir?«, unterbrach Grünbrecht seine Gedanken.
»Zur Witwe nach Brunngassen in St. Oswald«, antwortete Stern und vertagte die längst überfällige Entscheidung, wer denn nun in eine andere Abteilung wechseln sollte, zum wiederholten Mal auf später.
»Ich hab die Adresse«, sagte Grünbrecht und hielt ihr Handy hoch.
»Natürlich haben Sie die«, antwortete Stern nicht überrascht. Er wusste, wie zuverlässig seine Kollegin war. Erneut schmerzte es ihn, sie vielleicht gehen lassen zu müssen.
Schweigend fuhren sie nach Brunngassen zu Silvia Koch, um ihr vom Tod ihres Mannes zu berichten. Das Überbringen von Todesnachrichten war etwas, an das sich Stern nie hatte gewöhnen können und auf das er sich geistig vorbereiten musste. Als sie vor dem schmucken Einfamilienhaus anhielten, fiel ihnen vor der Tür ein Kinderwagen auf. Stern erinnerte sich, dass Grünbrecht gesagt hatte, dass die Kochs ein Kind hatten.
»Ich hasse diesen Teil unseres Jobs«, sprach Grünbrecht aus, was Stern dachte.
»Bringen wir es hinter uns«, sagte er und stieg aus dem Wagen.
Das Haus der Kochs lag am Rande von Brunngassen mit Blick auf den nahegelegenen 18-Loch-Golfplatz, der an diesem Tag, dank des schönen Wetters, gut besucht war, vorwiegend von Rentnern. Wenn Stern erst einmal im Ruhestand war, würde er sich ebenso eine Beschäftigung suchen müssen, überlegte er. So eine gemütliche Wanderung über einen Golfplatz, und hie und da einen Ball in ein Loch katapultieren, wäre vielleicht das Richtige. Doch jetzt galt es, eine Frau über den Tod ihres Mannes zu informieren. Er zog die Hose hoch und schritt vor Grünbrecht die Einfahrt her zu dem Haus der Kochs. Dort angekommen warf er einen Blick in den Kinderwagen, ein Kleinkind schlummerte darin. Die Haustür stand halb offen. Es hatte den Anschein, als wären Mutter und Kind eben von einem Spaziergang zurückgekehrt.
»Na toll«, seufzte Grünbrecht, der es offensichtlich besonders naheging, einer jungen Mutter sagen zu müssen, dass sie Witwe war. Stern überlegte, ob das etwas damit zu tun hatte, dass sie vielleicht selber schwanger war, verscheuchte diesen Gedanken jedoch sofort. Noch gab es keine Anzeichen dafür.
Der Chefinspektor spähte durch den Türspalt und drückte auf die Türglocke. Eine helle Tonabfolge ertönte. Im Inneren des Hauses waren Geräusche zu hören, jemand näherte sich der Tür. Als diese zur Gänze geöffnet wurde, stand eine Frau um die 30 vor den Kriminalbeamten, die langen blonden Haare zu einem lockeren Zopf zusammengebunden und auf ihrem Shirt Reste von Nahrung. Anscheinend hatte sie nach der Fütterung des Kindes bislang keine Zeit gefunden, sich umzuziehen. Sie wirkte gestresst. Wahrscheinlich nutzte sie die wenigen Stunden, in der das Kind schlief, um ein paar Dinge im Haushalt zu erledigen.
»Frau Silvia Koch?«, fragte Stern, damit er Gewissheit hatte, nicht einer falschen Person die Todesnachricht zu überbringen.
»Ja?« Die Frau warf einen Blick in den Kinderwagen, und als sie feststellte, dass das Kind weiterhin seelenruhig schlief, wanderten ihre Augen zurück zu den fremden Leuten vor ihrer Haustür.
»Chefinspektor Oskar Stern, das ist meine Kollegin Gruppeninspektorin Mara Grünbrecht. Wir sind vom Landeskriminalamt Oberösterreich und müssen Ihnen leider eine traurige Mitteilung machen. Ihr Mann wurde heute Morgen tot aufgefunden«, sagte Stern und beobachtete die Frau genau, damit er jede ihrer Regungen registrierte.
»Oliver? Das kann nicht sein.« Die Ehefrau des Opfers blickte die Inspektoren ungläubig an.
»Es tut uns sehr leid, Frau Koch«, sagte Grünbrecht. »Wir haben Ihren Mann tot aufgefunden.«
»Sind Sie sicher, dass es Oliver ist?« Die Unterlippe der Frau zitterte, ihre Augen füllten sich mit Tränen. Ihr Verstand schien sich zu weigern, den Tod ihres Mannes auch nur in Erwägung zu ziehen.
»Wir sind sicher«, bestätigte Stern.
»Nein!« Die Frau sank zu Boden und hielt sich wie eine Ertrinkende am Türstock fest. Sie weinte, schrie, bis nur noch seltsame Geräusche ihrer Kehle entschlüpften. Von Grünbrecht ließ sie sich hochziehen und ins Wohnzimmer führen. Die Gruppeninspektorin geleitete sie zur Couch, wo die Witwe niedersank und sich wie ein verletztes Tier wand.
»Wir brauchen einen Arzt! Der soll ihr ein Beruhigungsmittel geben«, bemerkte Grünbrecht. Stern griff umgehend zu seinem Mobiltelefon und wählte den Notruf.
»Ich sehe nach dem Kind«, sagte er, als er das Gespräch beendet hatte und sie auf das Eintreffen des Mediziners warten mussten. Indessen brachte Grünbrecht in Erfahrung, wer sich um die Familie kümmern konnte, und rief die Schwester von Silvia Koch an. Die versprach, umgehend herzukommen.
Eine halbe Stunde später standen die Kriminalbeamten erneut vor dem Haus in Brunngassen, herausgefunden hatten sie jedoch nichts. Der Arzt und das Kriseninterventionsteam umsorgten die junge Witwe, die Tante das mittlerweile wache Kind.
»Ich schlage vor, wir kommen später noch mal. Lassen wir der Frau ein wenig Zeit, diesen schweren Schlag zu verkraften. In ihrem Zustand bekommen wir ohnehin nicht viel aus ihr heraus. Ich frage mich aber, warum sie ihren Mann nicht als vermisst gemeldet hat? Schließlich hat er die Nacht nicht zu Hause verbracht«, spekulierte Stern.
»Dafür kann es mehrere Gründe geben«, warf Grünbrecht ein. »Vielleicht ist sie mit dem Baby überfordert und hat nicht einmal gewusst, ob ihr Mann zu Hause gewesen ist oder nicht. Viele Paare schlafen, wenn sie kleine Kinder haben, in getrennten Zimmern.«
»Ach ja?« Stern war hellhörig geworden. Hatte er eben so etwas Ähnliches herausgehört, wie dass Grünbrecht doch keine Kinder haben wollte?
»So etwas gibt es, klar«, bekräftigte Grünbrecht.
»Soll das heißen, dass Sie …?« Stern stammelte umständlich herum.
»Dass ich was?« Grünbrecht verstand nicht, was ihr Chef meinte.
»Na, wollen Sie einmal …?« Erneut beendete Stern den Satz nicht, sondern hoffte, dass auch so klar wurde, was er meinte.
Doch dem war nicht so. »Was will ich?«, fragte Grünbrecht.
»Na, ein Kind!«, platzte Stern heraus.
»Was hat der Fall damit zu tun, ob ich ein Kind will?« Grünbrecht zog verständnislos die Stirn in Falten.
»Nichts. Ich wollte nur wissen, ob Sie mal Kinder haben wollen«, erklärte Stern gereizt. Über so etwas zu reden fiel ihm nicht leicht, schon gar nicht mit Grünbrecht. Dennoch fühlte er sich jetzt, wo die Sache ausgesprochen war, irgendwie erleichtert.
Grünbrecht schmunzelte. Endlich hatte sie verstanden, auf was ihr Chef hinauswollte. »Natürlich will ich mal Kinder haben, ich finde diesen Wunsch ganz normal. Aber zuerst werden Edwin und ich heiraten.«
Stern wusste nicht, ob er erleichtert sein sollte oder nicht. Die Entscheidung, wer von den beiden nach der Hochzeit das Team verlassen musste, nahm ihm Grünbrechts Antwort jedenfalls nicht ab. Er wollte nicht weiter nachhaken, da ihm das Gespräch unangenehm war und er jetzt sowieso nichts ändern konnte. Außerdem machte sich sein Magen wieder bemerkbar und schickte Geräusche die Speiseröhre empor, die dem Brummen eines Bären ähnelten. Er entschied, dass der richtige Zeitpunkt gekommen war, um Kolanski und Mirscher im ortsansässigen Gasthaus zu treffen und seiner schlechten Laune mit einem saftigen Schweinsbraten samt Kraut und Semmelknödel ein Ende zu bereiten.
Eine Viertelstunde später betraten er und Grünbrecht die Gaststube. Gemütliches Flair empfing sie, ebenso wie aufgeregte Wirtsleute, die natürlich alles über den Mord wissen wollten.
Mit den Worten »Laufende Ermittlungen« erklärte Stern ihnen, warum sie nichts erzählen durften, und setzte sich an einen freien Tisch. Dort wurden sie von der hiesigen Stammtischrunde misstrauisch beäugt.
»Mirscher und Kolanski kommen gleich«, informierte ihn Grünbrecht nach einem Blick auf ihr Handy und blätterte anschließend in der Speisekarte. Stern hielt seine Karte eine Armlänge von sich gestreckt, um sie besser studieren zu können. Diese verdammte Altersweitsichtigkeit war in den letzten Wochen rapide fortgeschritten. Wenn er nicht irrte und er die verschwommene Aneinanderreihung von Buchstaben richtig interpretierte, war das erste Gericht auf der Speisekarte ein Schweinsbraten mit Semmelknödel. Seine Lieblingsspeise. Die würde er nehmen. Also brauchte er gar nicht weiterzulesen.
»Die Ehefrau als Täterin können wir wohl ausschließen«, ließ er die Begegnung mit Silvia Koch Revue passieren und klappte die Speisekarte zu. Mit der Bestellung wollten sie bis zum Eintreffen der Kollegen warten. Vorausgesetzt, das dauerte nicht mehr allzu lange.
»Das denke ich auch«, schloss sich Grünbrecht seiner Meinung an. »Trotzdem sollten wir nachher noch einmal zu ihr fahren und mit ihr reden. Vielleicht hat sie ja einen Verdacht, wer ihrem Mann das angetan haben könnte, und vor allem warum.«
»Das machen wir«, brummte Stern und rieb sich die Hände. In dem Gasthaus duftete es verführerisch, und Sterns Verlangen, seinen Hunger zu stillen, wuchs von Sekunde zu Sekunde weiter an. »Wo bleiben bloß Mirscher und Kolanski? Ich verhungere …«
Im selben Augenblick schwang die Tür der Gaststube auf und die Kollegen traten ein.
Stern war erleichtert. »Wenn man vom Teufel spricht.«
Grünbrecht lächelte den Eintretenden entgegen. Ein angedeuteter Kuss flog durch die Luft, was Stern einen Seufzer entriss. Mirscher setzte sich neben seine Verlobte, Kolanski nahm neben dem Chefinspektor Platz. Der bestellte nun endlich seinen geliebten Schweinsbraten, Grünbrecht wie üblich einen Salat und Mirscher ein Kotelett nach Mühlviertler Art mit Speck und Champignons. Kolanski begnügte sich mit einer Suppe und begründete seine Zurückhaltung mit dem durch den Mordfall einhergehenden Zeitmangel, genügend Sport treiben zu können, weshalb er bei gleichbleibendem Verzehr von Speisen an Gewicht zulegen würde. Das wolle er auf gar keinen Fall. Stern, dem Kolanskis Sportleidenschaft schon immer schleierhaft gewesen war, ließ sich den Appetit deswegen nicht verderben und orderte noch einen Semmelknödel extra zu seinem Schweinsbraten.
»Was habt ihr über das Opfer herausgefunden?«, begann er mit der Besprechung des Falls.
»Oliver Koch war so etwas wie eine jüngere Ausgabe von Donald Trump. Jähzornig, hat jeden Furz getwittert. Unberechenbar soll er gewesen sein und frauenverachtend«, kam Kolanski ebenfalls gleich zur Sache.
»Muss man heutzutage so sein, um gewählt zu werden?«, stieß Grünbrecht verächtlich aus.
»Er hat gegen die Unterbringung von Flüchtlingen in dem ehemaligen Gasthaus Maria Bründl gewettert, das zuvor leer gestanden hat. Das hat ihm nicht nur Freunde beschert, haben mir die St. Oswalder erzählt. Der Großteil der Bevölkerung steht der Aufnahme von Flüchtlingen nämlich positiv gegenüber«, redete Mirscher weiter.
Schon wieder dieses Maria Bründl, dachte Stern, und seine Gedanken schweiften kurz zu seinem Selbstversuch mit dem radonhaltigen, angebliche Heilkräfte besitzenden Wasser ab. Er schaute aus dem Fenster auf das gegenüberliegende Haus, an dem ein Reklameschild befestigt war, um zu testen, ob seine Sehkraft sich inzwischen verbessert hatte. Als er keine Veränderung bemerkte, versuchte er erneut, den Text auf der Speisekarte zu entziffern, was ihm jedoch ebenso schwerfiel. Also hatte sich weder an seiner Kurzsichtigkeit noch an seiner Altersweitsichtigkeit etwas geändert.
»Bei einem Teil der Österreicher hätte ihm das große Sympathie eingebracht«, spuckte Grünbrecht angewidert aus. Es war ihr anzusehen, was sie davon hielt. »Ich verstehe nicht, was in unserem Land los ist. Uns geht’s doch gut, so gut wie schon lange nicht mehr. Wir haben ein funktionierendes Sozialsystem, sodass kaum jemand unter den Rost fällt, und dennoch verlangen viele Österreicher nach dem rechten Lager, einem ›starken Mann‹.«
»Eine seltsame Entwicklung, wie auch die Art des Todes von unserem Opfer seltsam ist«, lenkte Stern das Gespräch wieder auf ihren Fall.
»Ertrunken auf einem Grab«, brachte Kolanski es auf den Punkt.
»Das steht noch nicht fest«, warf Stern ein.
»Aber wie die Dinge liegen, ist es wahrscheinlich.«
Dem wusste Stern nichts entgegenzusetzen. Dennoch würde erst Webers Obduktion der Leiche Gewissheit bringen.
»Der Fundort ist aller Wahrscheinlichkeit nach nicht der Tatort«, sagte Mirscher. »Wir wissen noch immer nicht, wo das Opfer getötet wurde.«
Die Unterhaltung verstummte, weil das Essen serviert wurde. Ein saftiger Schweinsbraten samt drei Semmelknödel wanderte vor Stern auf den Tisch, und ihm lief der Speichel im Mund zusammen. Dass diese Mahlzeit die letzte für lange Zeit sein würde, wusste er zu diesem Zeitpunkt nicht.
3. Kapitel
Nach dem Essen fuhren Stern und Grünbrecht erneut zu Silvia Koch in der Hoffnung, dass die Wirkung des Beruhigungsmittels inzwischen eingesetzt hatte und sie ihr ein paar Fragen stellen konnten. Als die Kriminalbeamten im Haus der Kochs eintrafen, lag die Witwe auf der Couch im Wohnzimmer, mit einer Decke bis zu den Schultern eingehüllt, und starrte vor sich hin. Stern war nicht sicher, ob sie ihre Anwesenheit überhaupt registrierte.
»Frau Koch?«, fragte er und berührte sie sanft am Arm.
Die Angesprochene hob den Kopf und blickte ihn mit geröteten Augen an.
»Ich bin Chefinspektor Oskar Stern, das ist meine Kollegin Gruppeninspektorin Mara Grünbrecht. Wir waren vorhin schon mal da, erinnern Sie sich?«
Die Frau nickte und schlug die Decke zur Seite.
»Können Sie uns ein paar Fragen beantworten?«
Silvia Koch versuchte, sich langsam aufzusetzen. Es war ihr anzumerken, dass sie unter dem Einfluss eines Beruhigungsmittels stand. Stern war unschlüssig, ob er ihr helfen sollte, da schob Grünbrecht ihre Hand in den Rücken der Witwe, um sie bei ihren Bemühungen, in die Senkrechte zu kommen, zu unterstützen. Die Decke legte Grünbrecht ihr anschließend auf die Beine.
»Wollen S’ einen Kaffee hab’n?«, fragte die Schwester der Frau, die ihnen zuvor die Tür geöffnet hatte und jetzt mit dem Kind auf dem Arm die Szene beobachtete. Auch ihr war die Last anzusehen, der Kummer, der diese Familie erschütterte. Stern lehnte dankend ab. Er fand es nicht angebracht, sich von diesen Menschen bedienen zu lassen, wo sie doch den Tod eines geliebten Menschen zu beklagen hatten.
»Was wollen S’ denn wissen?«, fragte Silvia Koch mit dünner Stimme. Gleichzeitig zog sie die Decke bis zu den Schultern hoch, als fröstelte sie. Ein Zeichen dafür, dass sie unter Schock stand, denn in dem Wohnzimmer war es angenehm warm temperiert.
Stern nahm einen Stuhl, stellte ihn vor das Sofa und setzte sich darauf. »Frau Koch, haben Sie eine Ahnung, wer Ihrem Mann das angetan hat?«, begann er mit der Befragung.
»Wie … wie ist er denn …?« Silvia Koch sah die Kriminalbeamten unsicher an. Wahrscheinlich hatte sie Angst, die genaue Todesursache zu erfahren, die Umstände zur Kenntnis nehmen zu müssen, wie es passiert war, und vor allem warum es geschehen war. Sie würde sich dann mit Dingen auseinandersetzen müssen, die sie vielleicht gar nicht wissen wollte, die sie wohlmöglich bislang verdrängt hatte. Dennoch trieb die meisten Menschen ein innerer Motor an, jede noch so winzige Wissenslücke zu füllen, auch wenn die Folgen unangenehm waren.
»Wir wissen es nicht genau. Er ist entweder ertrunken oder erstickt«, berichtete Stern.
»Ertrunken? Mein Mann ist ein ausgezeichneter Schwimmer g’wesen. Wo soll er denn ertrunken sein?«
»Auch das wissen wir nicht.«
»Wo haben Sie ihn g’funden?«
»Auf dem Friedhof.«
Schweigend verarbeitete Silvia Koch diese Nachricht, als hätte sie Schwierigkeiten, das eben Gehörte zu verstehen. Na gut, wenn jemand behauptete, der eigene Mann sei auf einem Friedhof ertrunken, war das tatsächlich außergewöhnlich, fand Stern. Aber wahrscheinlich war ebenso das Beruhigungsmittel schuld daran, dass die Frau im Augenblick so unnahbar wirkte. So distanziert.
»Frau Koch, ist Ihr Mann bedroht worden?«, versuchte Stern erneut, etwas aus der Frau herauszubekommen, das für den Fall relevant sein könnte.
Die Witwe schüttelte den Kopf. »Nein. Mein Mann ist ein anständiger Mensch g’wesen. Er hat keine Feinde g’habt, und schon gar keine, die ihn umbringen wollten. Sie wissen, dass es in der Politik net immer fein zugeht, das g’hört zu dem G’schäft nun mal dazu. Hernach geht man aber wieder auf ein Bier mitsammen.«
»Vielleicht hat einer von der Konkurrenz das nicht so entspannt gesehen«, stellte Stern in den Raum.
»Glauben S’ mir: Der Oliver hat sich um die Leut’ g’sorgt. Und wenn er es mal bis ganz nach oben g’schafft hätt’, hat er immer g’sagt, dass er dann ein Politiker für alle hätt’ sein wollen. Nicht so wie die jetzige Regierung, die es nur ihrer Wählerschaft recht machen will. Er wollte den Menschen dienen, nicht nur dem Geld.«
»Das hört sich ja alles vielversprechend an«, ließ Stern sich hinreißen zu sagen, obwohl er der Meinung war, dass die meisten Politiker, wenn sie erst mal eine gewisse Position innehatten, diesen Idealismus verloren und ihre ganze Energie dafür einsetzten, die eigene Partei zu stärken und wiedergewählt zu werden. Das Volk, für das sie sich vorher so vehement stark gemacht hatten, war ihnen dann egal. »Aber wir sind nicht hier, um die Wahlsprüche Ihres Mannes zu hören. Wir wollen die Umstände seines Todes aufklären.«
»Er hat oft bis spät in die Nacht hinein g’arbeitet. Gemeinderatssitzungen und so a Schmarrn. Alles nur für die Politik. Für mich und die Kleine hat er keine Zeit g’habt, seit sie auf der Welt ist.« Die Augen der Frau füllten sich mit Tränen, und ihr Blick wanderte hinüber zu dem in den Armen der Tante glucksenden Kind.
»Wie heißt sie denn?«, fragte Grünbrecht.
»Elisabeth. Wir nennen sie Sissi. Sie ist so ein Sonnenschein.« Ein Lächeln zeichnete sich auf dem Gesicht der Frau ab, als sie ihre Tochter ansah.
»Hat Ihr Mann in letzter Zeit mit jemandem Streit gehabt?«, kam Stern zum eigentlichen Thema zurück.
Das Lächeln der Frau erstarb. »Nicht, dass ich wüsst’. Aber vielleicht weiß ich ja net mehr alles, was mein Mann so g’trieben hat. So sieht es zumindest aus. Was denken Sie?«
Stern ignorierte die an ihn gerichtete Frage und fuhr fort: »Wieso ist Ihnen nicht aufgefallen, dass Ihr Mann in der Nacht nicht zu Hause gewesen ist?«
»Wir haben g’trennte Schlafzimmer, seit Sissi da ist. Er hat g’sagt, dass er es nicht aushält, wenn sie die ganze Nacht schreit.«
»Tut sie das denn?«, hakte Grünbrecht nach.
Stern zog die Augenbrauen hoch. Seiner Meinung nach interessierte sich Grünbrecht viel zu sehr für das Kind. Außerdem lugte sie ständig zu dem Mädchen hinüber, welches nun auf einer Decke am Boden saß und versuchte, Klötze aus Holz in einen hohlen Würfel zu stecken. Aber das mit den getrennten Schlafzimmern erklärte, warum Silvia Koch das nächtliche Ausbleiben ihres Mannes nicht bemerkt hatte.
»Jetzt nicht mehr so viel, anfangs hat sie vier Stunden am Stück g’schrien. Das kam sogar ziemlich häufig vor«, erzählte Silvia Koch. »Es war echt nervenaufreibend.«
»Beim Frühstück haben Sie ihn auch nicht vermisst?«, fragte Stern weiter.


