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»Wenn wir eine unruhige Nacht haben, kann es schon sein, dass er zur Arbeit geht, wenn ich und Sissi endlich schlafen«, erklärte Silvia Koch. »Und die letzte Nacht war so eine. In der Früh hat die Sissi dann brav g’schlafen.«
»Ihr Mann hat seine politischen Ansichten unter anderem auf Twitter verbreitet und sich dabei nicht nur Freunde gemacht.«
»Darüber weiß ich nix. Mit Twitter und Facebook, und wie sie alle heißen, hab ich nix zu tun. Ich muss g’stehen, dass ich mich damit net wirklich auskenn’, eigentlich gar net. Ich red’ lieber mit den Leuten, wenn ich ihnen auf der Straße begegne.«
»Alles klar. Hat es Streit in der Gemeinde gegeben?«
»Nicht mehr als sonst«, sagte die Witwe. Es war ihr anzusehen, dass sie das Gespräch erschöpfte. »Wie ich Ihnen schon g’sagt hab, mein Mann ist ein guter Mensch g’wesen. Er wollt’ für alle Politik machen und nicht nur für ein paar wenige. Ihm hat man vertrauen können. Er hätt’ g’halten, was er versprochen hat, wenn man ihn zum Bürgermeister g’wählt oder in die Landespolitik abberufen hätt’ … irgendwann einmal.«
Stern seufzte. Das politische Gelaber ging ihm auf die Nerven. Dafür hatte er nichts übrig. »Wenn Ihnen etwas einfällt, Frau Koch, das uns weiterhelfen könnte, rufen Sie uns bitte an.« Er hielt der Witwe seine Visitenkarte hin und stand auf. Silvia Koch nahm die Karte entgegen und starrte sie an, als hätte sie immer noch nicht ganz begriffen, was los war. Wenn das Beruhigungsmittel nachließ, würde sie die Wucht der Realität erneut treffen, und dann ging alles von vorn los. Stern hatte Mitleid mit der Frau.
»Danke, wir finden den Weg allein hinaus«, sagte Grünbrecht an die Schwester gewandt, die gerade das Baby holte, um es zu wickeln. Ein säuerlicher Geruch ging von der Kleinen aus, und Stern hoffte, dass dieser Abschreckung genug für Grünbrecht war, einmal eigenen Kindern den Hintern säubern zu müssen.
»Von so viel politischem Gerede kriege ich Kopfschmerzen«, sagte er, als sie draußen vor dem Haus auf den Wagen zusteuerten. »Die Frau sollte sich überlegen, ob sie nicht selbst in die Politik gehen will. Das Zeug dazu hätte sie.«
»Sie sagt doch nur, was sie immer von ihrem Mann gehört hat. Ich glaube, sie hat ihn wirklich geliebt. Bei ihm hingegen bin ich mir nicht so sicher.«
»Wieso?«, hakte Stern überrascht nach, weil er erfahren wollte, was seine Kollegin zu einer derartigen Annahme veranlasste.
»Ich denke, dass ihm die Karriere wichtiger gewesen ist als seine Ehefrau. Und sein Kind! Wieso sonst hätte er abends so lange arbeiten sollen? Oder er hatte ein Gspusi.«
Stern überlegte und brummte. »Mord aus Eifersucht?«
»Möglich.«
»Mirscher und Kolanski sollen prüfen, ob sie eine Geliebte von diesem Koch ausfindig machen können. In einem Ort wie diesem lässt sich ein Verhältnis sicher nicht lange verheimlichen«, ordnete Stern an.
»Noch etwas anderes, Chef«, sagte Grünbrecht, als sie den Wagen erreichten.
»Ja?«
»Haben Sie am Freitagabend schon etwas vor?«
Stern war überrascht. »Äh … nein.« Er hatte keine Ahnung, warum Grünbrecht das wissen wollte.
»Ich veranstalte bei mir zu Hause eine kleine Party, und ich würde mich freuen, wenn Sie kommen.«
Stern, dessen Gehirn bereits zu rotieren angefangen hatte, als Grünbrecht das mit der Party erwähnt hatte, überlegte fieberhaft nach einem möglichen Grund für diese Feier. Grünbrecht arbeitete seit drei Jahren im LKA, und noch nie hatte sie ihn zu sich nach Hause eingeladen. War sie etwa schon schwanger? Und wollte sie bei dieser Feier die frohe Botschaft verkünden?
Grünbrecht bemerkte Sterns Zögern offensichtlich und erklärte: »Mirscher und Kolanski werden da sein und noch ein paar Freunde von mir.«
Natürlich würde Mirscher auch da sein, dachte Stern panisch, schluckte und fragte: »Gibt’s dafür einen bestimmten Anlass?« Schweiß drängte durch seine Poren an die Oberfläche, und die Vorstellung, dass Grünbrecht tatsächlich …
»Ich hab Geburtstag!«
»Sie haben was?« Stern hatte so sehr damit gerechnet, dass Grünbrecht ihm mitteilte, sie würde das Team verlassen, dass er einen Moment brauchte, um die Information zu verarbeiten.
»Geburtstag. Ich hab Geburtstag. Geht’s Ihnen gut, Chef?«
»Ja!«, beeilte sich Stern mit einer Antwort. »Natürlich geht’s mir gut.« Obwohl – sicher war er sich nicht.
»Für einen Augenblick dachte ich, Sie hätten einen Schlaganfall erlitten oder etwas Ähnliches. Sie sind ganz blass und schwitzen.«
»Das ist nur … dieser Fall«, redete Stern sich heraus. Er konnte unmöglich sagen, was er wirklich gedacht hatte.
»Sind Sie sicher?«, hakte die Kollegin nach.
»Todsicher«, bekräftigte Stern die Lüge.
»Dann ist es ja gut. Ich dachte schon, Sie wollten mir eine Abfuhr erteilen wegen der Party. Sie kommen doch, oder?«
»Natürlich komme ich«, brummte Stern. »Und danke für die Einladung.«
»Ich koche, meine Freundin Sabine sorgt für den Nachtisch, und die Jungs kümmern sich um die Getränke.«
»Ich bringe Wein mit«, sagte Stern und legte damit eine Falle aus. Wenn Grünbrecht am Freitag Wein tränke, konnte sie unmöglich in freudiger Erwartung sein und diese Sache wäre erst mal vom Tisch. Stern war mit seiner Idee zufrieden.
»Das ist lieb von Ihnen«, sagte Grünbrecht, und Stern bekam sofort ein schlechtes Gewissen. Natürlich war das keinesfalls lieb von ihm, sondern heimtückisch. Hinterfotzig. Er seufzte ob seiner schändlichen Gedanken und hoffte, dass Grünbrecht nichts davon bemerkte.
»Sie können gerne eine Begleitung mitbringen«, sagte sie.
»Eine Begleitung?«, wiederholte Stern schon wieder baff.
»Ja. Vielleicht diejenige, wegen der Sie immer zu spät zum Dienst erscheinen.« Grünbrecht lächelte. Auch hinterfotzig, wie Stern vorkam, da sie ebenso hinter sein Geheimnis kommen wollte. Nun waren sie quitt.
Stern dachte an die Katzenfamilie in seiner Wohnung. Grünbrecht würde Augen machen, wenn er mit der Rasselbande vor ihrer Tür stünde. Aber hey! Vielleicht war das gar keine so schlechte Idee! Er könnte Grünbrecht eines der Kätzchen zum Geburtstag schenken, dann wäre er einen Teil seines Katzenproblems los. Sie hatte ohnehin bereits vor längerer Zeit einmal anklingen lassen, dass ihr ein Haustier gefallen würde.
»Mal sehen«, antwortete er kryptisch. »Seien Sie nicht enttäuscht, wenn ich alleine komme. Essen werde ich auf alle Fälle für zwei.« Stern strich über seinen fülligen Bauch.
»Okay.« Grünbrecht bohrte nicht weiter nach, wofür Stern ihr dankbar war. »Nach dem Essen am Freitag drehen wir noch eine Runde durch die Linzer Altstadt, auf einen Absacker. Ziehen Sie sich also was Hübsches an.« Grünbrecht warf einen Blick auf das alte Sakko ihres Chefs und lächelte erneut zweideutig, nichtsahnend, dass es völlig egal war, was Stern am Freitag trug, da sie die Linzer Altstadt nie erreichen würden.
4. Kapitel
Als Stern am nächsten Morgen im Landeskriminalamt in Linz in der Nietzschestraße eintraf, waren die Kollegen bereits versammelt und hefteten Notizen über den aktuellen Fall an eine Magnetwand.
»Na, auch schon da?«, begrüßte Kolanski ihn mit breitem Grinsen.
Stern ignorierte den Gruppeninspektor und brummte ein »Guten Morgen« in die Runde. Danach wollte er wissen, was es Neues gab.
»Dieser Oliver Koch ist anscheinend öfter am Golfplatz in St. Oswald gewesen als im Gemeindeamt«, erklärte Mirscher herablassend.
»Und wenn er nicht Golf gespielt hat, hat er sich in Linz bei seinen Parteifreunden herumgetrieben und dort genetzwerkt. Offenbar wollte er tatsächlich groß rauskommen, aber nicht als Bürgermeister von St. Oswald, sondern als Landes-Nummer-eins seiner Partei.« Kolanski betonte das Wort »Landes-Nummer-eins«, als gäbe es nichts Wichtigeres. Zumindest wenn man Politiker war.
»Ein aufstrebender Fisch im Haifischbecken also«, resümierte Stern. »Checkt sein politisches Umfeld, wer ihn unterstützt hat und wer etwas gegen ihn hatte. Wenn es in der Politik nach oben geht, hat man nicht nur Freunde.«
»Ja, Chef.«
»Ich habe bei der Gemeinde in St. Oswald angerufen und nach den Bändern der Überwachungskamera gefragt, die bei dem Bründl angebracht ist. Die haben mir gesagt, dass darauf niemand zu sehen sei, da die Kamera in den Wald hineingerichtet war. Irgend so ein Scherzkeks hat sie wohl verstellt, haben die gemeint. Manchmal treiben sich dort Jugendliche herum, die knutschen und fummeln und dabei ungestört sein wollen. Vielleicht waren die es«, berichtete Grünbrecht.
»Kommt das denn öfter vor?«, wollte Stern wissen.
»Dass Jugendliche knutschen? Davon gehe ich …«
»Blödsinn! Ich meine, dass die Kamera verstellt wird?«
»Das passiert hin und wieder, laut den Gemeindemitarbeitern. Wenn’s keine Jugendlichen waren, dann vielleicht jemand, der sich geniert hat, weil er Wasser gezapft hat und nicht wollte, dass er dabei gefilmt wird. Dieser ganze Heilwasser-Hokuspokus mutet ja doch ein wenig abergläubisch an, und nicht jeder will als abergläubisch gelten, gell?«, erwiderte Grünbrecht und sah Stern dabei amüsiert an. Denn natürlich war ebenso er mit dieser Anspielung gemeint.
»Wenn es eh schon mehrmals vorgekommen ist, dass die Kamera vom Bründl weggedreht wurde, ist das weniger verdächtig, als wenn es nur dieses eine Mal so gewesen ist. Denn dann wäre es ein Indiz dafür, dass jemand die Geschehnisse bei der Wasserentnahmestelle vertuschen wollte«, erklärte Stern, insgeheim froh darüber, dass durch das Verstellen der Kamera seine Gesichtswäsche nicht aufgenommen worden war. Das hätte ihm noch gefehlt, dass man ausgerechnet ihn vor dem Bründl sah, wie er sich mit dem radonhaltigen Wasser die Augen benetzte. Ihm reichte es schon, als gekürter Langsamfahrer von den Kollegen durch den Kakao gezogen zu werden.
»Die Tote in dem Grab, auf dem wir das Opfer gefunden haben, heißt Paula Eckinger, was wir ja schon wissen«, wechselte Grünbrecht das Thema, da sie diese Kamerasache nicht weiterbrachte. »Paula Eckinger ist vor einem Jahr im Alter von 29 bei einem Verkehrsunfall tödlich verunglückt. Ein entgegenkommendes Fahrzeug hat sie und ihren Mann von der Straße abgedrängt, woraufhin ihr Auto gegen einen Baum prallte. Danach hat der Lenker des anderen Wagens Fahrerflucht begangen. Paula Eckinger ist am Unfallort verstorben, ihr Mann, der am Steuer gesessen hat, ist seither an den Rollstuhl gefesselt.«
»Hat man den Fahrer des anderen Wagens erwischt?«
»Nein.«
»Scheiße!«
Grünbrecht ging zur Magnetwand und befestigte darauf einen mehrere Jahre alten, ausgedruckten Zeitungsartikel. »Paula Eckinger wurde einmal zur Miss Mühlviertel gekürt. Sie war schön, ehrgeizig und fromm. Zumindest, wenn man diesem Artikel einer regionalen Wochenzeitung Glauben schenkt.« Auf dem abgedruckten Foto strahlte die damals 20-Jährige in das Objektiv des Fotografen. Über die rechte Schulter und die Brust hing eine Schärpe mit dem Aufdruck »Miss Mühlviertel« neben den Logos der Sponsoren der Misswahl. Darunter trug Paula ein knappes schwarzes Kleid, das ihre Figur vollends zur Geltung brachte. Stern musste zugeben, dass sie eine echte Schönheit gewesen war.
Kolanski stieß einen leisen Pfiff aus und Mirscher sagte: »Ja, das tue ich.« Dabei schien sich sein Blick für Grünbrechts Geschmack zu lange auf Eckingers Foto zu heften. Die Gruppeninspektorin verdrehte die Augen und hieb ihren Verlobten mit dem Ellbogen in die Seite. Mirscher war ein Typ, der einem nicht beim ersten Mal auffiel, und Grünbrecht hatte sich erst langsam in ihn verliebt, in seine blauen Augen und die kurzen brünetten Haare, die manchmal kreuz und quer standen. Vor allem schätze sie an ihm, dass er Gesprächen über Gefühle nicht aus dem Weg ging, was für einen Mann ziemlich untypisch war. Zumindest gemessen an den Männern, die Grünbrecht bisher kennengelernt hatte.
»Ich meinte nicht, ob sie schön gewesen ist, das steht zweifelsohne außer Frage«, sagte Grünbrecht leicht schnippisch. »Sondern ob sie tatsächlich derart fromm war, wie in dem Zeitungsbericht behauptet wird. Ein junges Mädel, das so blendend aussieht, hat doch bestimmt viele Verehrer.«
»Gibt es eine Verbindung zwischen ihr und diesem Oliver Koch?«, hakte Stern nach.
»Diese Frage kann ich noch nicht beantworten«, gab Grünbrecht zu. »Dazu muss ich erst die Eltern befragen oder die Nachbarn oder wen auch immer.«
»Vielleicht sollten wir mit dem Ehemann reden. Weiß der überhaupt schon Bescheid, was am Grab seiner Frau passiert ist?«
»Also von mir nicht«, sagte Mirscher, und auch Kolanski hob abwehrend die Hände.
»Dann übernehmen wir das, Grünbrecht.« Stern stand auf und wandte sich zur Tür.
»Wer fährt?«, wollte die Kollegin wissen.
»Ich«, brummte Stern. Doch als er den gelangweilten Gesichtsausdruck von Grünbrecht sah und sich an seinen Titel als langsamster Autofahrer des Landeskriminalamtes, den ihm die angeheiterten Kollegen bei der letzten Weihnachtsfeier feierlich verliehen hatten, erinnerte, streckte er den Arm aus und ließ den Schlüssel seines Audi A6 in Grünbrechts offene Hand fallen. Er wusste, dass sie lieber mit seinem luxuriösen Schlitten fuhr als mit ihrem Dienstwagen.
»Danke, Chef!«, sagte sie kokett und marschierte Po wackelnd an Mirscher und Kolanski vorbei in Richtung Ausgang. Die erstaunten Blicke der Kollegen folgten ihr, ebenso blöde Kommentare, wie dass Mirscher eine Gehaltserhöhung wolle und Kolanski acht aufeinanderfolgende Wochen Urlaub, um mit dem Fahrrad Australien zu durchqueren. Denn wenn Stern Grünbrecht seinen Wagen steuern ließ, musste er in Top-Laune sein, schlussfolgerten sie. Vielleicht würde er ihnen dann ebenso diese kleinen Annehmlichkeiten zugestehen. Einen Versuch, so schienen sie zu denken, war es zumindest wert.
Doch Stern schüttelte nur den Kopf, murmelte: »Kindsköpfe«, und verließ mit seiner Kollegin das Landeskriminalamt.
Grünbrecht jagte mit Sterns Audi die A7 in Richtung Freistadt hinauf, dass Stern Angst bekam, sie könnten in eine Radarfalle der Autobahnpolizei geraten. Seine junge Kollegin liebte das schnelle Fahren, das wusste er, aber dass sie ausgerechnet mit seinem Wagen sämtliche Geschwindigkeitsbegrenzungen übertreten musste, empfand er dann doch als provokant. Er entschied sich, ein Wort des Tadels auszusprechen.
»Können Sie den Fuß ein wenig vom Gaspedal nehmen? Der Mann im Rollstuhl läuft uns schon nicht weg.«
»Sie haben doch nicht etwa Angst, Chef?«, wollte Grünbrecht mit einem Seitenblick auf seine verkrampften Hände, die sich links am Sitz und rechts am Griff über dem Fenster festklammerten, wissen.
»Ich? Angst? So ein Schmarrn!«, blaffte Stern. »Ich will halt nicht die Strafe zahlen, die wir zweifelsohne kassieren, wenn Sie weiterhin so rasen.«
»Das ist ein Polizeiwagen, Chef«, erklärte Grünbrecht in knappen Worten, während sie konzentriert nach vorn durch die Windschutzscheibe sah, um links an einer Schlange langsam fahrender Wagen vorbeizuschießen. Wenn Stern nicht irrte, hatte sie vorhin sogar mit Lichtsignalen auf sich aufmerksam gemacht und dadurch die anderen Fahrer zur Seite gescheucht.
»Wir sind zivil unterwegs. Wir haben kein Blaulicht und keine Sirene.«
»Wenn die Kollegen von der Autobahnpolizei die Autonummer kontrollieren, werden sie ganz rasch feststellen, dass sie …«
»Grünbrecht, runter vom Gas!«, fiel Stern ihr ins Wort.
»Aber …«
»Kein Aber!«, fügte er mit einem Tonfall hinzu, der keinen Widerspruch duldete. Nur selten ließ er den Vorgesetzten auf diese Weise raushängen, und das auch nur dann, wenn es unbedingt sein musste. Und jetzt musste es sein! Seine Finger, die Sitz und Haltegriff umklammerten, begannen sich schon zu verkrampfen.
Murrend drosselte Grünbrecht das Tempo auf eine für Stern angenehme Geschwindigkeit. Seine Hände lösten sich langsam von den Festhaltemöglichkeiten, und er atmete erleichtert auf. Warum diese jungen Dinger immer so rasen mussten, war ihm ein Rätsel. Selbst bei Mordfällen war es nicht notwendig, dass man derart halsbrecherisch unterwegs war. Leichen liefen nicht weg.
In Sterns Brusttasche vibrierte das Handy. Stern zog es heraus und sah auf das Display: Dominik Weber, der Gerichtsmediziner.
»Grüß dich, Weber. Was gibt’s?«
»Grüß dich, Stern. Euer Opfer ist tatsächlich ertrunken. Ich hab in seiner Lunge Wasser gefunden«, verkündete der Gerichtsmediziner etwas zu gut gelaunt, fand Stern.
»Das erklärt dann auch seine nasse Kleidung. Wahrscheinlich wurde der Kopf gewaltsam unter Wasser gedrückt, da seine Sachen nur bis zur Brust feucht waren«, schlussfolgerte Stern. »Haben die Kollegen im Labor das Wasser aus der Lunge mit der Probe, die ich dir geschickt habe, schon verglichen?«
»Äh …?« Anscheinend hatte Weber keinen blassen Schimmer, wovon Stern redete.
»Weber?«, bellte Stern ins Telefon.
»Ich bin hier, Oskar«, meldete sich der Angesprochene nun nicht mehr ganz so gut gelaunt. »Ich dachte, das Bründl-Wasser, das du mir geschickt hast, wäre für mich … ich meine, für mich persönlich, da ich ja auf solche Dinge stehe, du weißt schon …«
»Was hast du damit gemacht?«, fragte Stern nichts Gutes ahnend.
»Ich … ich hab’s getrunken«, verkündete Weber.
»Du hast was?« Stern schnaubte. »Das war ein Beweismittel, Weber!«
»Da stand nur ›Bründl-Wasser für Weber‹ oben«, erklärte der Gerichtsmediziner. Er hatte wohl angenommen, es wäre ein Geschenk für ihn, eine kleine Aufmerksamkeit unter Kollegen quasi. Was ihm, wenn er eine Sekunde darüber nachgedacht hätte, seltsam hätte vorkommen müssen.
»Ja, weil du es untersuchen solltest, du …!« Stern brauchte einen Augenblick, um sich zu beruhigen. Anschließend sagte er, dass sie jetzt seinetwegen noch einmal zum Maria Bründl fahren müssten, um eine Vergleichsprobe zu holen, die Weber dann – zum Teufel noch mal – mit dem Wasser in der Lunge des Opfers abgleichen solle. Und zwar unverzüglich und auf der Stelle, sobald die Probe bei ihm eintreffe. Es dürfe keine Verzögerung mehr geben, denn sonst …
»Alles klar. Kein Problem! Danke, Oskar!« Dem Gerichtsmediziner war die Erleichterung selbst durch das Handy anzuhören, und Stern beendete das Telefonat mit einem aufgebrachten Tippen auf den roten Hörer auf dem Display.
»Was ist passiert?«, wollte Grünbrecht wissen.
Stern schnaubte noch immer, entschied sich aber für eine halbwegs disziplinierte Antwort: »Weber hat das Bründl-Wasser ausgesoffen.«
»Nicht wahr?«
»Doch!«
Die Gruppeninspektorin lachte.
»Was ist daran witzig?«, fragte Stern echauffiert.
Grünbrecht bemühte sich, die Sache etwas ernster zu nehmen. »Nichts, Chef«, sagte sie, obwohl ihre Mundwinkel verräterisch zuckten. Dass Weber Beweismaterial trank, weil er es als Geschenk von Stern ansah, empfand sie mehr als unterhaltsam. Wenn das die Runde im LKA machte …
»Wir müssen noch mal zur Quelle und eine weitere Probe holen«, spuckte der Chefinspektor aus, als hätte er etwas Giftiges im Mund.
»Ja, Chef«, gluckste Grünbrecht, und Stern rollte genervt mit den Augen.
Gott sei Dank hielten sie in diesem Augenblick vor dem Haus des Witwers an. Der Chefinspektor stieß die Tür des Audis auf und stieg aus. Ihm fiel sofort die Rollstuhlrampe beim Eingang auf, die nachträglich angebracht worden zu sein schien. Ein Zeichen, dass sie hier richtig waren.
Nach mehrmaligem Läuten wurde ihnen die Tür geöffnet. »Herr Eckinger?«, fragte Stern den Mann im Rollstuhl vor sich, obwohl er sich sicher war, dass er der Ehemann des Unfallopfers von vor einem Jahr sein musste. So viele querschnittsgelähmte Menschen gab es in St. Oswald bestimmt nicht.
»Richtig, Manuel Eckinger. Und wer sind Sie?« Eckinger kam bis ganz nach vorn an die Haustürkante gerollt, die mit Holzkeilen entschärft worden war, damit er bequem darüberfahren konnte.
»Chefinspektor Oskar Stern, das ist meine Kollegin Gruppeninspektorin Mara Grünbrecht. Wir sind vom Landeskriminalamt Oberösterreich in Linz und untersuchen den Mord an Oliver Koch. Dürfen wir reinkommen?«
»Oliver Koch? Der Politiker? Darf ich frag’n, was Sie von mir woll’n?« Eckinger machte keinerlei Anstalten, den Weg ins Haus freizugeben.
»Das würden wir lieber drinnen mit Ihnen besprechen«, antwortete Stern.
Eckinger wendete den Rollstuhl und fuhr den Beamten voraus ins Wohnzimmer. Das gesamte Haus war behindertengerecht umgebaut und die Einrichtung entsprechend angepasst worden. Die obersten Regale waren leer, sodass Eckinger alles bequem von seiner Position im Rollstuhl erreichen konnte. Die Teppiche hatte man entfernt, das erkannte Stern anhand von hellen Umrissen am Boden. An der Treppe ins Obergeschoss war ein Lift montiert, und Stern fiel auf, dass alle Türen im Erdgeschoss fehlten.
»Kaffee?«, fragte Eckinger.
»Gerne«, antwortete Stern.
»Milch? Zucker?«
»Schwarz.«
»Und für Sie?« Eckinger blickte Grünbrecht aus seinen blauen Augen an, die einst bestimmt jedes Mädchenherz zum Schmelzen gebracht hatten. Er fixierte die Gruppeninspektorin wie eine Schlange ein Kaninchen. Dass sie ihm gefiel, war unschwer zu übersehen.
»Für mich bitte mit Milch«, antwortete Grünbrecht, die sich ihrer Wirkung auf Manuel Eckinger durchaus bewusst zu sein schien.
»Bitte nehmen Sie Platz.« Eckinger deutete auf eine Essgruppe. An der Frontseite des Tisches fehlte ein Stuhl, damit er dort mit dem Rollstuhl ranfahren konnte.
»Ich helfe Ihnen …«
»Des schaff’ ich schon!«, unterbrach Eckinger die Gruppeninspektorin mit einem Lächeln, das nicht über seinen Unmut hinwegtäuschen konnte. Immerhin lebte er nun schon seit einem Jahr in dieser Situation. Er kam gut allein zurecht.
»Natürlich.« Grünbrecht war ihr Verhalten sofort unangenehm.
»Ich nehme an, dass Sie mit mir reden woll’n, weil dieser Koch auf dem Grab meiner Frau gefund’n word’n ist«, sagte Eckinger, während er den Kriminalbeamten den Rücken zuwandte und in der Küche hantierte. »Die Spatzen pfeifen’s bereits von den St. Oswalder Dächern.«
»Genau deswegen sind wir hier«, bestätigte Stern Eckingers Vermutung.
»Wissen S’ schon, wer ihn ermordet hat?«, fragte Eckinger und holte Zucker aus einem Regal und Milch aus dem Kühlschrank.
»Nein, dafür ist es noch zu früh«, beantwortete Stern Eckingers Frage.
»Dann wissen S’ wahrscheinlich auch net, warum man ihn auf dem Grab meiner Frau abg’legt, abg’stellt, zurückg’lassen hat – oder wie immer man das bezeichnen will?«
»Sie sind erstaunlich gut informiert.« Stern wusste, dass sich der Tratsch und Klatsch auf dem Land schneller verbreitete als eine wichtige Info am Landeskriminalamt.
»In einem kleinen Ort wie St. Oswald spricht sich so etwas rasch herum«, bestätigte Eckinger Sterns Vermutung.
»Ich hatte zuvor den Eindruck, dass Sie überrascht waren.«
»Nur wesweg’n S’ deshalb zu mir kommen.«
»Wir hatten gehofft, dass Sie uns weiterhelfen können.« Stern nahm einen Schluck Kaffee, der mittlerweile vor ihm auf dem Tisch stand. »Haben Koch und Ihre Frau einander gekannt?«
Eckinger schien zu überlegen. »Natürlich haben die sich g’kannt. St. Oswald ist ein kleines Kaff, da kennt jeder jeden. Wenn auch net gut, dann zumindest flüchtig.«
»Wie gut haben die beiden sich gekannt?«, hakte Grünbrecht nach.
»Ich würd’ sagen, net so gut. Man hat sich halt auf der Straß’ g’grüßt. Mehr war da net«, erklärte Eckinger und gesellte sich zu ihnen an den Tisch.
»Glauben Sie, dass das Grab Ihrer Frau vom Täter zufällig gewählt wurde?«
»Kann sein. Vielleicht aber auch net. Ist das net Ihre Aufgabe, das herausz’finden?«
»Wie war das damals mit dem Autounfall?«, wechselte Stern das Thema, da Eckinger anscheinend nichts zum ungewöhnlichen Auffindungsort des Opfers beitragen konnte.
Der Angesprochene seufzte tief. Es fiel ihm offensichtlich schwer, über die Vergangenheit zu reden. Er wandte sich ab und fuhr mit seinem Rollstuhl zu der mindestens zwei Meter breiten Terrassentür, die einen großzügigen Blick hinaus in den Garten gewährte.
»Paula hat Rosen geliebt. Seit sie net mehr lebt, verwildert unser Garten«, sagte er nach ein paar Augenblicken des Schweigens. Seine Gedanken schienen irgendwo in der Vergangenheit festzuhängen. Weit weg von diesem Raum und weit weg von den Büschen und Sträuchern, deren Blätter aufgrund des Herbstes bunt gefärbt waren. Wahrscheinlich hatte er das Bild seiner Frau vor sich, wie sie dort draußen arbeitete und alles zum Blühen brachte. Wie sie lachte und sich der Schönheit der Natur erfreute. Jetzt trugen die Blätter kräftige Braun- und Rottöne und fielen bereits zu Boden. Die Herbstzeitlosen wuchsen üppig an allen Ecken, als gäbe es nichts Wichtigeres, als noch einmal zu erblühen, bevor die kalte Jahreszeit hereinbrach. Gelbe und rosa Rosen säumten den gekiesten Weg, der in jeden Winkel der Anlage führte. Es war klar zu erkennen, dass den Garten jemand mit viel Liebe gestaltet hatte. Doch dieser Jemand fehlte jetzt. Eckinger senkte den Kopf, atmete tief durch und kam zurück an den Tisch.


