Antisemitismus – Heterogenität – Allianzen

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Katrin Reimer-Gordinskaya • Oliver Decker • Gert Pickel (Hrsg.)
DER BERLIN-MONITOR
Antisemitismus Heterogenität Allianzen
Jüdische Perspektiven auf Herausforderungen der Berliner Zivilgesellschaft
Katrin Reimer-Gordinskaya • Selana Tzschiesche

Der Berlin-Monitor ist ein seit 2019 von der Berliner Senatsverwaltung für Justiz, Verbraucherschutz und Antidiskriminierung gefördertes Forschungsprojekt durchgeführt in Kooperation der Universität Leipzig und der Hochschule Magdeburg-Stendal.
www.berlin-monitor.de
© 2021 zu Klampen Verlag, Röse 21, 31832 Springe, zuklampen.de
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über ‹http://dnb.dnb.de› abrufbar.
Autor*innen: Katrin Reimer-Gordinskaya, Selana Tzschiesche
(Hochschule Magdeburg-Stendal)
Herausgeber*innen: Prof. Dr. Katrin Reimer-Gordinskaya (Hochschule Magdeburg-Stendal), Prof. Dr. Oliver Decker (Universität Leipzig), Prof. Dr. Gert Pickel (Universität Leipzig)
Unter Mitarbeit von: Julia Schuler, Charlotte Höcker, Henriette Rodemerk, Nabila Essongri, Dorothea Föcking (Universität Leipzig)
Lektorat: Tilman Meckel
Gestaltung und Satz: Uta-Beate Mutz, Leipzig
E-Book-Herstellung: Zeilenwert GmbH
ISBN 978-3-86674-902-3
gefördert durch:

Cover
Titel
Impressum
Vorwort und Einleitung
I. Antisemitismus in Berlin: Erfahrungen, Folgen und Umgangsweisen
Einleitung
a) Kontinuitäten von Antisemitismus in Berlin und ihre aktuellen Bedeutungen
b) Begegnungen in der postnationalsozialistischen Gegenwart Berlins
c) Orte und Praktiken der Besonderung einer Minderheit
d) Jüdische Berliner*innen im ‚Israel-Blick‘ der Mehrheitsgesellschaft
e) Aggressionen: Quellen, Qualitäten und Lebensbereiche
f) Bedrohungspotenzial und widerständige Normalität im Alltag
g) Bedeutungen für Betroffene und Reaktionen Dritter in unterschiedlichen Kontexten
h) Einschränkung der Möglichkeitsräume jüdischen Alltagslebens
i) Wahrnehmung, Bewertung und Kommunikation von Antisemitismuserfahrungen
j) Individuelle Umgangsweisen: Ausweichen und Konfrontation zwischen Fremd- und Selbstbestimmung
k) Kollektiv-informelle Umgangsweisen: Zuhörer*innen und mobilisierungs(un)fähige Netzwerke
l) Kollektiv-professionelle Strukturen: Beratung, Monitoring, Empowerment, Advocacy
Zusammenfassung: Antisemitismus in Berlin – Erfahrungen, Folgen, Umgangsweisen
II. Plurale (jüdische) Zugehörigkeiten: Diskriminierung, Inklusion, Heterogenität
Einleitung
a) Plurale Zugehörigkeiten, Einengung und ‚Intersektionalität'
b) Verschiedene und verknüpfte Diskriminierung und plurale Zugehörigkeiten im Alltag
c) Verschiedene/verknüpfte Diskriminierung in der Beratungslandschaft und im Antidiskriminierungsrecht
d) Konvergenzen und Divergenzen: Aktuelle Bedeutungen von Migrationsgeschichten
e) Aufbruch und Ankunft. Kontingentflüchtlinge im hierarchischen Migrationsregime
f) Integrationsregime und Leben in der Zone der Exklusion
g) Bildungswege wider institutionelle Hürden
h) Altersarmut und Wiedergutmachungsinszenierung
i) Immer noch ‚arm, aber sexy‘? Berlin aus jüdisch-migrantischen Perspektiven – 2000 – 2020
j) Feministisch-Jüdisch-Queer: Inklusion, Abwehr – Solidarität?
k) Ostdeutsch-jüdische Erfahrungswelten: Neue Blicke auf Geschichte und ihre Gegenwart
Zusammenfassung: Plurale (jüdische) Zugehörigkeiten – Diskriminierung, Inklusion, Heterogenität
III. Gemeinsam gegen Antisemitismus, für Vielfalt und Demokratie?
Einleitung
a) Von 1989 bis zu den 2000er Jahren – Einwanderung und kultureller Wandel (in) der Stadt
b) Die 1990er: ReKonstruktion, ReVitalisierung und Pluralisierung jüdischer Lebenswelten
c) Hin zum Selbstverständnis einer ‚Migrationsgesellschaft‘ – und auf dem Weg ins Postmigrantische
d) Die 1990er und 2000er Jahre: Awareness für aktuellen Antisemitismus – langer Atem und erste Erfolge
e) Die 2010er Jahre: Perspektivwechsel, neue Institutionen und Akteur*innen und Empowerment
f) Lernprozesse, Resonanz und jüngste Erfolge: Strukturen in Politik und Zivilgesellschaft
g) Sensibilisierung und Bildung wegen und gegen Antisemitismus: Stand und Perspektiven
h) Jüdische Lebenswelten und postmigrantische Kulturen: Eigenständigkeit, Netzwerke und ‚Allianzen'
i) Kooperation, Netzwerke und Solidarisierung gegen Antisemitismus: Stand und Perspektiven
j) Gemeinsam gegen Antisemitismus und / im Rechtsextremismus?
k) Für eine Gesellschaft der Vielen einschließlich Juden*Jüdinnen in Berlin
l) Gespräche über Gräben und Brücken
m) Gemeinsam für eine offene und solidarische Gesellschaft? Bündnispolitiken in Berlin
Zusammenfassung und Ausblick
Aktivierende Befragung: Erläuterung des methodischen Vorgehens als Lese- und Rezeptionshilfe
Literaturverzeichnis
Endnoten
Vorwort und Einleitung
Berlin ist Lebensort einer heterogenen Bevölkerung, die in dieser Stadt Freiräume für diverse Lebensentwürfe schafft und findet. Zugleich spüren viele, dass diese Freiräume zunehmend bedroht sind. Der damit einhergehende Widerspruch wird nicht zuletzt in den jüdischen Communities der Stadt erlebt. Im Berlin-Monitor (vgl. Pickel et al. 2019) versuchen wir mit den uns zur Verfügung stehenden wissenschaftlichen Mitteln auszuloten, wie es um Kräfteverhältnisse zwischen progressiven und regressiven Strömungen in der Stadt bestellt ist, und Wissensgrundlagen für die Weiterentwicklung demokratischer Alltagskulturen zu schaffen.
Im Kontext der Aktivierenden Befragung, einem von drei methodischen Ansätzen (vgl. a. a. O., 70 ff., und 122 ff. in diesem Bericht), werden sukzessive vier Schwerpunkte mit qualitativ-subjektwissenschaftlichen Mitteln untersucht: Antisemitismus, Rassismen, Prekarisierung und Heteronormativität. Der vorliegende Bericht ist dem ersten Schwerpunkt gewidmet. Ausgangs- und Fluchtpunkt ist dabei die demokratische Zivilgesellschaft Berlins. Von ihr gehen wir gedanklich und praktisch-forschend jeweils aus. Ihre Akteur*innen sind die primären Adressat*innen des vorliegenden Berichts.
Vielen dieser Akteur*innen der Berliner Zivilgesellschaft ist die längere Entwicklung des Ringens um demokratische Verhältnisse (nicht nur) in Berlin bekannt. Nach einem kurzen Moment der Hoffnung, den Schwung der DDR-Oppositionsbewegung für die Entwicklung demokratischer Alltagskultur nutzen zu können, griff auch in Berlin der nationalistische Furor der 1990er Jahre um sich. Zugleich boten gegenkulturelle Bewegungen ihm die Stirn und schufen Freiräume für non-konforme Lebensweisen. Aus diesen progressiven Strömungen speiste sich der um die Jahrtausendwende ausgebildete gesamtgesellschaftliche Kompromiss, der das ethno-nationale Paradigma zugunsten der Propagierung von Vielfalt hinter sich zu lassen begann. Die seit den 2000er Jahren aufgelegten Bundes- und Landesprogramme für Demokratie geben dem Umstand Ausdruck, dass auch unter diesen Vorzeichen Menschenrechte verteidigt und Teilhabe und Anerkennung erstritten werden mussten. Und während dies einerseits gelang, erodiert andererseits die gesellschaftliche Basis eines teils instrumentell verkürzten Verständnisses einer Gesellschaft der Vielfalt. Der ‚historische Block’ (Gramsci), der diesen Kompromiss ‚für Vielfalt’ trug, sieht sich seit den 2010er Jahren von einer zunehmend organisierten und vernetzten regressiven Strömung herausgefordert.
Dass wir uns vor diesem Hintergrund zunächst dem Schwerpunkt Antisemitismus widmen, liegt nicht nur daran, dass diesem in Politik und Öffentlichkeit in den letzten Jahren größere Aufmerksamkeit geschenkt worden ist. Ausschlaggebend ist auch die Überzeugung, dass eine Demokratie in Deutschland nicht bestehen kann, wenn Juden*Jüdinnen in ihr nicht ‚ohne Angst verschieden sein‘ (Adorno) können. Damit wird keiner Hierarchisierung von Leid das Wort geredet, sondern angesprochen, dass der ‚Zivilisationsbruch, verübt an Juden‘ (Diner), die Spannung zwischen Partikularem und Universellem in sich trägt. Gesprächspartner*innen drückten ähnliche Gedanken mit Blick auf die Bedeutung von Menschenrechten in der Gegenwart so aus: Die Garantie der allgemeinen Menschenrechte im Grundgesetz ist ohne Auschwitz nicht zu denken, und das Grundgesetz hat seine Bestimmung, eine Republik zu verfassen, nicht erreicht, solange Antisemitismus virulent ist.
Es ist aus unserer subjektwissenschaftlichen Perspektive begrüßenswert, dass in der Antisemitismusforschung jüngst die Perspektive der Betroffenen ins Blickfeld gerückt wurde und so bettet sich die Aktivierende Befragung in diese (recht junge) Forschungsrichtung ein. Es geht hier also um Antisemitismus als Erfahrung, als etwas, das von Menschen in Berlin erlebt wird bzw. werden muss, sowie um die Frage, welche Folgen dies insbesondere im Hinblick auf die Einschränkung des Rechts auf Gleichheit und Differenz hat. Das Interesse unserer subjektwissenschaftlichen Handlungsforschung gilt zudem der Frage, wie Betroffene auf Antisemitismuserfahrungen reagieren und welche mehr oder weniger defensiven und offensiven Umgangsweisen sie unter bestimmten Umständen entwickeln (können). Diese drei Teilbereiche behandelt das erste Kapitel.
Weil jüdische Zugehörigkeiten plural und die jüdischen Communities in Berlin im bundesweiten Vergleich relativ vielfältig sind, war es uns ein Anliegen, diese Diversität in thematisch relevanten Bereichen zu berücksichtigen. Dazu gehört insbesondere der Umstand, dass jüdische Berliner*innen nicht allein Antisemitismus erfahren, sondern verknüpft mit oder unabhängig von diesem auch andere Formen der Diskriminierung. In und aus jüdischen Communities heraus entwickeln zivilgesellschaftliche Akteur*innen auch angesichts dessen Initiativen, die auf Inklusion zielen. Dies vollzieht sich in einer jüdischen und nicht-jüdischen Umgebung, die durch Heterogenität gekennzeichnet ist, woraus insbesondere im Kontext der nicht-jüdischen Mehrheitsgesellschaft Blindstellen und Ausschlüsse entstehen, aber auch Perspektiven für die Formulierung gemeinsamer Anliegen sichtbar werden. Diese drei Teilbereiche sind Gegenstand des zweiten Kapitels.
Das dritte Kapitel widmet sich vor diesem Hintergrund der Frage, inwieweit es in Berlin gelingt, angesichts der gegebenen Vielfalt Netzwerke, Allianzen und Bündnisse gegen Antisemitismus zu bilden. Dabei geht es auch darum zu rekapitulieren, welche Voraussetzungen in der Berliner Stadtgesellschaft geschaffen werden mussten, um diese Fragen aus jüdischen Perspektiven heraus zu stellen und praktisch aus jüdischen Communities heraus anzugehen.
Der Bericht schließt mit einer Erläuterung der Methodik und einem Ausblick auf den weiteren Verlauf der Aktivierenden Befragung.
Die Studie beruht auf Gesprächen mit 30 Expert*innen, die fachliche und/oder persönliche Einblicke in die genannten Themenbereiche geben können. Ihnen gilt unser herzlicher Dank. Wir hoffen, dass die erarbeitete Rekonstruktion eine nützliche ergänzende Grundlage für die Weiterentwicklung der Gegenwehr gegen Antisemitismus und des Engagements für eine demokratische Alltagskultur in Berlin sein kann.
Katrin Reimer-Gordinskaya (Haifa/Stendal) und
Selana Tzschiesche (Berlin)
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