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Und Dirk.
»Einen kannte ich, den Nachbarn meiner Freunde, Dirk Faist heißt er.«
Sorry, Dirk, dachte sie. Den Happen musste sie hinwerfen, vielleicht würde der Kommissar dann von ihr ablassen.
»Dirk Faist?« Seine Stimme klang zum ersten Mal überrascht, als ob er ihn kennen würde. Er nahm den Block an sich, notierte etwas. Der Kuli kleckste.
»Wir haben zwei, drei Sätze gewechselt, hatten es beide eilig vor dem Gewitter. Er kam mir angetrunken vor.«
»Sonst irgendetwas Auffälliges?«
»Nein, er war wie immer. Das heißt, ich glaube, es war ihm peinlich, mir zu begegnen, weil er … so schwitzte, er war zu warm angezogen. Er hat sich ziemlich schnell an mir vorbeigedrückt. Ich war ganz froh darüber.«
»Wie gut kennen Sie ihn?«
»Wenn ich zu Besuch bin, sehe ich ihn regelmäßig, er läuft viel herum, besonders seit … Und im Garten nebenan, wir unterhalten uns oft über den Zaun, meistens über seine Rosen und andere Pflanzen.«
Das Frage-und-Antwort-Spiel wurde unterbrochen, weil der Jemand mit ihrem Ausweis kam und ihn auf den Tisch legte. Reutter griff danach. Bevor sie fragen konnte, wie Anne das Auftauchen der Polizei aufgenommen hatte, zog der Kommissar das Gespräch an sich: »Sie sind von weit her, Ruhrgebiet … Für länger bei Ihrer Freundin?«
»Frau Neuhaus und ihren Mann – Anne und Michael – kenne ich schon aus unserer Schulzeit. Sie wohnen seit fünfunddreißig Jahren hier, wir sind die ganze Zeit Freunde geblieben und sehen uns regelmäßig.«
Damit schien seine Neugier gestillt. Silvia konzentrierte sich auf den ungenießbaren Rest Kaffee in ihrem Plastikbecher. Umsonst, der Kommissar fasste nach und begann wieder von vorne: Auffindesituation, aus welchem Grund sie vor Ort war, welche Personen sie im Park wahrgenommen habe, Aussehen, Geschlecht, Anzahl. Ihre Erinnerungen wurden bis in den letzten Winkel ausgebeutet. Ermüdend. Ja, sie war müde, trotz der ungewohnten Aufregung.
»Das wird langsam zu viel für mich. Mir gerät alles durcheinander. Wie spät ist es?« Sie brauchte eine Pause. Hier drin konnte man nicht einmal sehen, ob es draußen hell oder dunkel war.
»Es ist genau … zweiundzwanzig Uhr dreiundzwanzig.« Schräg hinter ihr musste eine Uhr an der Wand hängen, sein Blick ging unvermittelt dorthin.
»Um diese Zeit bin ich manchmal schon im Bett. Frühaufsteherin.« Sie brach ab. Hier wurde nicht geplaudert.
»Ich sehe Ihnen an, dass Sie erschöpft sind. Was halten Sie davon, wenn wir Sie jetzt zu Ihren Freunden fahren und Sie morgen gegen Mittag zu einem zweiten Termin abholen? Ich mache Sie darauf aufmerksam, dass Sie sich zur Verfügung halten müssen und die Stadt nur nach vorheriger Abmeldung verlassen dürfen. Hier ist meine Karte; wenn Ihnen noch irgendetwas einfällt, können Sie mich Tag und Nacht erreichen.« Er schob ihr seine Visitenkarte und ihren Ausweis zu.
»Meine Kamera? Mein Handy?«
»Möchten wir bis zu Ihrer nächsten Befragung morgen behalten, wenn Sie einverstanden sind. Wir werden die Fotos in der Kirche von einem Spezialisten auswerten lassen. Und geben Sie mir Ihr Passwort zum Entsperren des Telefons, bitte.«
»Dürfen Sie das? Immerhin sind das meine persönlichen Daten, die Sie da einsehen.«
»Haben Sie etwas zu verbergen?« Sein Blick änderte sich von verständnisvoll zu distanziert, er nahm seinen Oberkörper zurück, richtete sich zu eindrucksvoller Größe auf. Sie verneinte seine Frage, was dachte er sich? Sein Kollege rutschte auf dem Stuhl hin und her.
»Sie unterschreiben eine Einverständniserklärung, ich gebe Ihnen eine Empfangsquittung, und morgen bekommen Sie beides zurück. Kommen Sie, wir erledigen das, danach fahre ich Sie heim. Und erzählen Sie keinem, worüber wir gesprochen haben, erst recht nicht der Presse, das würde unseren Erfolg gefährden. Unser Lokalschreiberling ist schon draußen, er wohnt leider in Sichtweite. Sie bleiben dicht hinter mir, ich halte Ihnen den vom Leib.«
Silvia leistete die Unterschrift mit Zweifeln im Bauch. Draußen stand der Vorplatz der Polizeidienststelle unter Wasser, zahlreiche Menschen mit Kapuzen liefen umher, und es regnete immer noch. Als der Kommissar die Eingangstür hinter ihnen zuzog, hörte sie drinnen ihr Handy klingeln.
3
»Seine Sprüche kannte ich aus dem ›Tatort‹. Wie im falschen Film habe ich mich gefühlt.«
Die Ermahnung des Kommissars war vergessen, sobald sie mit ihren Freunden im Wohnzimmer saß. Durch das Erlebnis in der Kirche und das Verhör war Silvia so voller Anspannung, dass es ein Ventil brauchte. Als Anne ihr eine Decke zum Aufwärmen gab, fiel Silvia auf, dass ihre Freundin blass aussah.
Michael reagierte entrüstet auf den Bericht über das Verhalten der Polizei.
»Du bist echt naiv. Mensch, du hättest gleich einen Anwalt verlangen sollen. Hat er dich über deine Rechte belehrt? An deiner Stelle hätte ich den Mund gehalten und ihm weder die Kamera noch das Handy gegeben.«
»Aber ich habe nichts damit zu tun. Je eher das klar wird und sie sehen, dass ich nichts verheimliche, desto früher kann ich weitermachen wie bisher. Ich will so schnell wie möglich aus der Sache raus sein.«
Michael klang, als ob er es mit einem begriffsstutzigen Kind zu tun hätte: »Bestimmt sind sie froh, dich als Verdächtige zu haben. Du warst am Tatort. Das wäre nicht das erste Mal, dass einem Unschuldigen ein Strick gedreht wird. Ich will dir keine Angst machen, aber ab sofort solltest du besser aufpassen, was du sagst, wenn sie dich verhören.«
Silvia schluckte, um das enge Gefühl in ihrem Hals aufzulösen. Anne sagte: »Hör auf damit, sie hat genug mitgemacht. Silvia, du brauchst was zum Abschalten, ich koch dir einen Tee.« Doch bevor sie in die Küche gehen konnte, bot Michael einen Whisky an, den Silvia ausnahmsweise akzeptierte: »Danke, ich brauche was Stärkeres als Tee heute Abend, sonst komm ich nicht zur Ruhe. Ich sehe ständig das arme Mädchen vor mir. Zuerst hab ich gedacht, da liegt Viola.«
Michael kam mit zwei gut gefüllten Gläsern von der Bar zurück und reichte ihr eines.
»Kanntest du sie? Bist du ihr mal begegnet? Haben sie dir gesagt, wer sie ist oder wie sie heißt?«
»Nein …« Silvia beschrieb das Aussehen der jungen Frau so genau wie möglich, wie dünn sie sich angefühlt hatte, das lange schwarze Kleid, das in ihrer Erinnerung wie aus Samt gewirkt hatte, und dass ihr am Haaransatz ein Stückchen ungefärbtes braunes Haar nachgewachsen war.
Siedend heiß fiel ihr ein, dass sie einige dieser Details dem Kommissar gegenüber gar nicht erwähnt hatte. Nach ein paar heftigen Herzschlägen beruhigte sie sich wieder. Das machte sie bestimmt nicht verdächtiger. Merkwürdig, hier bei ihren Freunden konnte sie sich viel besser erinnern.
Sie leerte den Inhalt ihres Glases bewusst viel zu schnell. Wärme breitete sich im Magen aus. Während sie erzählte, hatten ihre beiden Zuhörer regungslos dagesessen und Blicke getauscht. Erst danach trank Michael wieder, und Anne schlug die Beine übereinander: »Ich habe den Polizisten in dein Zimmer gelassen, er musste deinen Ausweis suchen. Stell dir vor, der hat mir die Tür vor der Nase zugemacht, hoffentlich hat er nicht rumgeschnüffelt. Ich wusste nicht, was ich …«
»Du hast getan, was du konntest. Mach dir keine Sorgen.«
Michael holte sich einen zweiten Whisky. »Ich gehe nach oben, was am PC erledigen. Silvia, du brauchst Schlaf. Möchtest du eine Tablette? Im Bad bei Annes Medikamenten ist was.«
»Das ist lieb gemeint, aber es wird auch so gehen, danke.«
Er nahm die Whiskyflasche und das Glas mit und wünschte eine gute Nacht. Silvia sah zu Anne hinüber, die mit den Schultern zuckte.
»Das Wochenendprogramm. Er macht ab Freitagnachmittag ständig was am Computer. Das geht bis in den Morgen.« Sie winkte ab, hatte offensichtlich keine Lust, weiter darüber zu reden, und Silvia verabschiedete sich ins Bett. Der Whisky hatte innerhalb von Sekunden gewirkt, ihre Erschöpfung und das Gefühl der Entfremdung waren weg, sie fühlte sich fast entspannt. Ihr erster Blick im Gästezimmer fiel auf die Arbeitsecke. Der übliche Zustand, Notizzettel in bunten Neonfarben, ausgedruckte Seiten mit unterstrichenen Passagen, aufgeschlagene Bücher.
Und ihr geöffneter Rucksack mitten auf dem Schreibtisch.
In diesem Augenblick wurde ihr klar, dass die Polizei damit wusste, dass sie an einem Buch über Grüne Männer arbeitete und wie tief sie in dem Thema steckte.
Und eine solche Blattmaske hatte sie auf dem Hals der toten Frau gesehen. Wer kannte das Symbol in diesem Nest, gab es hier Esoteriker oder Kunsthistoriker?
Und was bedeutete das erneute hohle Gefühl in ihrem Bauch?
4
Samstag, 23. Juni
Sie beugte sich zu der liegenden Gestalt hinunter, schob die Haare beiseite, um die Wange zu fühlen, und sah den Blattspeier auf der blassen Haut. Kaum mehr als eine schnelle Skizze, die Blätter schematisiert. Seine Miene war gleichgültig. Berührte es ihn denn gar nicht, dass die Frau, auf deren Hals er prangte, gerade gestorben war? Silvia wunderte sich.
Der starre Blick unter den Lidern in dem weißen Gesicht der Toten belebte sich bei ihrer Berührung und richtete sich auf sie, eine bernsteinfarbene Iris um die Pupillen.
Die Frau war gar nicht tot! »Zum Glück lebst du, kann ich dir helfen?«
Die Stimme, die ihr antwortete, war alt und brüchig wie Pergament. Die blutleeren Lippen bewegten sich kaum.
»Es ist gut. Du kennst den Kreislauf von Werden und Vergehen. Ich vergehe jetzt.«
Mit diesen Worten umklammerte eine Hand Silvias Handgelenk, Falten erschienen auf dem soeben noch glatten Gesicht und dem Hals. Das Haar wurde zusehends grau, verwandelte sich in flusiges Altfrauenhaar. Plötzlich wirkte die Gestalt vertrocknet. Ein lang gezogenes Stöhnen entwich ihrem Mund. Silvia war sicher, das war der letzte Atemzug gewesen. Ein tiefes Entsetzen breitete sich in ihr aus und schickte Gänsehaut in Wellen über ihren Körper. Ihr Magen zog sich zusammen, das Herz klopfte wild, bis sie den Rhythmus unter der Schädeldecke spürte.
Abrupt setzte sie sich im Bett auf. Ein Alptraum. War das Stöhnen ihr eigenes gewesen? Das Gefühl von Panik, das Rauschen in den Ohren. Sie rieb ihr schmerzendes Handgelenk. Wahrscheinlich hatte sie im Schlaf die Hand verkrümmt oder darauf gelegen.
Sie warf einen Blick auf das Display des Radioweckers. Kurz vor fünf, es dämmerte neblig und feucht. Diese Nacht hatte ihren Namen eindeutig nicht verdient.
Noch fand sie sich nicht ganz zurecht, zu intensiv stand ihr das Gesicht der Frau aus dem Traum vor Augen. War das gruselig gewesen! Als die Nachwehen abgeklungen waren, stand sie steifbeinig auf und tappte barfuß zur Toilette. Im gegenüberliegenden Zimmer sah sie Licht unter der Türritze. Das hieß, Michael saß noch im Arbeitszimmer, spielte am PC oder war davor eingeschlafen.
Mittlerweile fühlte sie sich zu wach, um sich noch einmal hinzulegen. Am Buch weiterzuarbeiten wäre sinnvoll, aber in dieser Situation? Stattdessen ein inspirierender Spaziergang, hinaus in die lebendige Natur, warum nicht? Die Drosseln lockten.
Anne hatte Silvia davon überzeugt, auf ihre einsamen Wege ein schrilles Alarmgerät mitzunehmen, das in die Hosentasche passte und auf Knopfdruck einen Höllenlärm erzeugte. Pfefferspray hatte Silvia strikt abgelehnt. Wenn sie überfallen wurde, dachte sie bestimmt nicht daran, die Windrichtung zu checken. Überhaupt hielt sie solche Vorsichtsmaßnahmen für unnötig. Trotzdem steckte sie das Schrillding ein, Annes Seelenruhe zuliebe. Da der Boden vom Gewitterregen gestern Abend durchnässt war, entschied sie sich für die festen Wanderschuhe und lief hinunter ins Tal, ein Stück den Radweg entlang, der vor dem Campingplatz auch von Autos genutzt wurde, und dann den geschotterten Fußpfad hinauf. Innerhalb kurzer Zeit erreichte sie entlegenere Höhen, fernab des Stadtkerns. Die Landstraße, die sich unten am Fluss entlangzog, war so früh noch kaum befahren, was der Stille Raum gab. Ein Teil der Landschaft neben Silvia wurde zur Beerenheide. Sie ließ das karge Feld rechts liegen und bog in den Wald ein. Zwischen den Bäumen sich auflösende Nebelschwaden, Kühle, kein Vogel zu hören. Vom Wanderweg führten Nebenwege weiter nach oben in den Wald hinein, sie bog willkürlich in einen davon ab, wollte ihrem Körper bergauf etwas abverlangen. Friedlich war es. Fichten und Buchen, Moos und Unterholz, das passende Milieu für Wichtel und Elfen. Alle Spielarten von Grün. Es roch nach Pilzen. Kurz machte sie Rast und setzte sich an den Fuß eines Baumes, aber trotz ihrer Reglosigkeit traute sich nicht einmal ein Zwerg vorbei. Na gut, an einem anderen Tag, dachte sie und ging mit feuchtem Hosenboden weiter. Wo war sie überhaupt, musste sie bergauf oder bergab? Und in welche Richtung? Sie entschied sich für eine Abzweigung nach rechts und lief eine Weile quer zum bisherigen Weg. Der Wald wurde dichter. Hier waren die Rinden der Bäume mit Flechten bewachsen. Eine beeindruckende Eiche breitete ihre schrundigen Arme aus, als wolle sie sie umfangen. Dahinter tat sich eine weite Lichtung auf, die von der schräg durch die Bäume aufsteigenden Sonne erhellt wurde. Das Gewitter schien hier nicht so heftig gewesen zu sein, hatte vor allem den Boden erfrischt.
Viele Steine lagen herum. Zuerst dachte sie, dass hier ein Spiel stattgefunden hatte, bei dem bis zu faustgroße Steine zu einem Labyrinth ausgelegt wurden. Am Schluss hatten vielleicht Kinder alles wieder verstreut. Im Laufe des letzten Jahres hatte sie für ihr vorheriges Buch etliche Labyrinthe begutachtet, daher fiel ihr sofort ein Grundmuster auf. Dann erkannte sie, dass es sich eher um einen unregelmäßigen Kreis handelte, dem einzelne Teile fehlten, oder eine Art Rad mit acht Speichen. Sie hätte sich das Ganze gerne von weiter oben angesehen, um einen Gesamteindruck zu bekommen. Wahrscheinlich waren die Steine korrekt ausgerichtet gewesen, bis jemand das Muster aufgelöst hatte. In der Mitte hatte ein Feuer gebrannt, das möglicherweise erst durch den Regen erloschen war, insgesamt wirkte der Ort wie vor Kurzem verlassen. Irgendwie archaisch. Sie ging zunächst in weitem Bogen darum herum und vermied es, die Stätte zu betreten. Sie hatte das Gefühl, Respekt zeigen zu müssen. Dabei stieß sie auf eine Teelichthülle, die von einem der Steine halb verdeckt wurde. Wer war in dieser Abgeschiedenheit gewesen und wozu, hatte hier eine Versammlung oder ein Fest stattgefunden? Das Gras war nass und zeigte keine frischen Fußspuren. Ein Rätsel. Die Neugier siegte. Mit vorsichtigen und langsamen Schritten näherte sie sich der Feuerstelle und glaubte, einen Hauch von Rauch zu erschnuppern. Schon bohrte sich ihr prüfender Zeigefinger in die Asche. Die unterste Schicht fühlte sich doch noch warm an?
Und jetzt schnell weg, bevor sie ein Fluch traf. Sie lächelte. Bergab orientierte sie sich an ersten Motorgeräuschen von der Landstraße her und am Bimmeln der hellen Glocke des Rathausturms. Sie kam zurück auf den Radweg, von dem sie vor einer Weile abgebogen war. Das Gewitter hatte Blätter, Zweige und Zapfen abgerissen und auf den Weg gestreut. Schnecken mit und ohne Haus waren in der feuchten Luft unterwegs und hinterließen ihre Glitzerspuren auf dem Asphalt. Als sie einen toten Feuersalamander am Wegrand liegen sah, schob sich der Gedanke an die Verstorbene hartnäckig zwischen sie und den Morgen.
Nach einer anständigen Tasse Kaffee wieder zurück im Gästezimmer, setzte sie sich an den Minischreibtisch und klappte ihren Laptop auf.
Von: Silvia.Salomon@interweb.com
An: Lilaflieder@coolmail.de
23. Juni, 8:46 Uhr
Guten Morgen, meine liebe Viola,
per Mail lässt sich kaum beschreiben, was gestern los war. Ganz kurz: Ich habe eine tote junge Frau gefunden. Die Polizei hat mich vernommen und mich gebeten, die Stadt nicht ohne Abmeldung zu verlassen. Heute gibt es ein weiteres Verhör. Keine Ahnung, wie das weitergeht, eventuell wird aus unserem Treffen in Tübingen nichts. Alles Weitere würde ich dir gerne persönlich erzählen. Hast du gestern Abend versucht, mich anzurufen? Mein Handy bekomme ich erst heute zurück.
Magst du herkommen und mich besuchen? Morgen ist Sonntag. Ich würde mich sehr darüber freuen. Ich hoffe, dass du die Zeit findest. Für mich fühlt sich das Ganze an wie hinter einer Glasscheibe, so als ob es jemand anderem passiert.
Dir alles Liebe und Gute, lass dich nicht von deiner Forschung auffressen,
Deine Mudda
Dann schloss sie das Mailprogramm und öffnete die Buchdatei. Sie nahm Anlauf, um wenigstens eine halbe Seite zu schreiben, formulierte Sätze und löschte sie wieder. Es floss nicht. Schon war elf Uhr vorbei, in ein paar Minuten wurde sie zum Verhör abgeholt. Dabei rückte doch der Abgabetermin für das Manuskript immer näher.
Es klopfte an der Tür. Anne. »Hast du Hunger? Ich habe den Tisch gedeckt.« Sie sah übernächtigt aus.
Nachdem sie eine Weile vor den Tellern gesessen hatten, sagte Anne: »Ich glaube, ich weiß, wer die Tote ist, und Michael auch, das habe ich ihm angesehen.«
»Was? Aber wer …«
»Lynn Pfrommer. Die, wegen der ich kündigen musste.« Anne sah Silvia an. »Wahrscheinlich nehmen sie mich gleich mit, wenn …«
In diesem Moment klingelte es. Die Polizei.
5
Ihre Freundin hatte nicht mehr erklären können, warum Reutter ein Interesse daran haben sollte, sie ebenfalls zu befragen. Waren Annes Auseinandersetzungen mit der Kollegin heftiger gewesen als angenommen? Silvia hatte in den zahlreichen Telefongesprächen mit Anne fraglos akzeptiert, dass Lynn Pfrommer aggressiv und Anne die Dulderin gewesen war. Sie konnte sich ihre Freundin überhaupt nicht zornig vorstellen.
Jetzt saß sie zum zweiten Mal im Verhörraum des Polizeihäuschens. Nach nochmaliger Nachfrage, ob sie lieber ein schriftliches Protokoll hätte, hatte Reutter ein richtiges Diktiergerät auf den Tisch gelegt – es schien ernster zu werden. Sie dachte an Michaels Ermahnung, sich nicht überlisten zu lassen. Diesmal hatte sie ihren Rucksack dabei, darin ein Täschchen mit Notfallausrüstung, Feuerzeug, Taschenmesser, Pflaster … Wer wusste schon, was sie den Tag über brauchen würde. Das Alarmgerät aus der Hosentasche und ihre Jacke hatte sie vorsichtshalber auch mitgenommen. Fehlten nur die Kamera, ohne die sie sich nackt fühlte, und das Handy. Beides würde sie gleich dazupacken.
Der Kommissar und ein als Polizist verkleideter, ihr bisher unbekannter Pumuckl, der mit seinem Namen und seinem Rang vorgestellt wurde, setzten sich zu ihr. Reutter sah fit aus, korrekte seitengescheitelte Kurzhaarfrisur, anderer Anzug. Er legte ihre Kamera und das Handy auf den Tisch.
»Grüß Gott, Frau Salomon. Bitte sehr, Ihre Besitztümer. Ich brauche hier eine Unterschrift, dass Sie die Sachen zurückerhalten haben, danke. Darf ich fragen, was Sie da auf den Fotos haben und warum?«
»Das sind meine Grünen Männer. Ich arbeite an einem Buch, das heißt …«
»Das hat mir mein Kollege, der an Ihrem Schreibtisch war, gestern geschildert, es lag wohl eine Menge Material herum. Ich habe dann ein bissle über Sie recherchiert. Sie haben vor einer Weile etwas über Labyrinthe veröffentlicht, seltsames Thema, kleiner Verlag. Ist das was für Magie- und Mystik-Fans?«
»Nein, ich schreibe über für jeden auffindbare archetypische Darstellungen im deutschsprachigen Raum. Hinter denen steht eine allgemeingültige Bedeutung, eine Tradition, wie erkläre ich Ihnen das …«
»Ich finde, das widerspricht sich nicht. Viele Exemplare von dem Labyrinth-Buch verkauft?«
»Es war ein Achtungserfolg.«
»Haben Sie gut damit verdient?«
Silvia gelang ein Lächeln. »Na ja. Der Verlag wollte immerhin ein zweites Buch von mir. Das auf der Speicherkarte ist meine Ausbeute der letzten Tage dafür.«
Reutter beugte sich zu ihr, vergrößerte den Abstand allerdings wieder, als der Rothaarige ihn von der Seite ansah.
»Können Sie mir kurz und knapp schildern, was das für ein Symbol ist? Wofür steht ein Grüner Mann?«, fragte Reutter.
»Für Tod und Wiedergeburt, den ewigen Kreislauf der Dinge. Das Symbol ist uralt und findet sich auf der ganzen Welt. Grün steht für Leben und Wachsen, aus dem Vergangenen entsteht wieder Neues. Ein menschliches Gesicht weckt Neugier im Betrachter, die Kombination mit Blättern macht es noch interessanter. Zuerst wundert man sich, dann fühlt man einen Hauch von Ewigkeit … Es berührt uralte Instinkte, finden Sie nicht auch? Übrigens gibt es auch Grüne Tiere …« Sie brach ab.
Reutters Gesicht wirkte nicht mehr besonders neugierig. »Einige von denen sehen nicht gerade harmlos aus, sogar richtig gefährlich. Die mit der rausgestreckten Zunge, so was kenne ich aus dem Zusammenhang mit Teufelsdarstellungen.«
»Zugegeben, der Ursprung ist auf jeden Fall vorchristlich, heidnisch, wenn Sie so wollen, aber die meisten …«
»Und das fasziniert Sie.« Warum unterbrach er sie ständig?
»Es ist ein Thema, das in Deutschland kaum bekannt ist. Historisch glaubwürdige Literatur dazu gibt es fast ausschließlich in England und in Frankreich. Ich möchte es populärer machen.«
»Mir sind die Blattköpfe nie aufgefallen – bis gestern.« Unter seinem Blick fühlte sie sich wie unter der Lupe eines Insektenforschers. »Und weil Sie sich damit beschäftigen, haben Sie natürlich den Stempel am Hals der Toten gesehen.«
Achtung, Rutschgefahr. »Ich kann mich an keinen Stempel erinnern.« Kein Tattoo also.
»Hören Sie auf, mich anzulügen, das glaube ich Ihnen sowieso nicht.« Seine Stimme wurde lauter. »Meinem Team ist es jedenfalls so ziemlich als Erstes aufgefallen. Irgendwer hat ihr seinen Stempel aufgedrückt, jemand, der das Symbol und seine Bedeutung kennt, das liegt auf der Hand. Darüber hinaus gibt es keine Tattoos oder anderen Körperschmuck an der Leiche. Und Sie sind die Einzige, die etwas darüber weiß, weil es das Thema Ihres neuen Buches ist.«
Der Pumuckl ließ ein Räuspern hören.
Sie holte überrascht Luft. »Wollen Sie sagen, dass ich …«
»Ich will gar nichts sagen. Ich frage mich, ob sich die Auflage des Buchs steigern lässt, wenn der Fall publik wird. Erzählen Sie mir über Ihren finanziellen Hintergrund. Brauchen Sie Geld?«
Sie ging in Verteidigungshaltung. Zwei, drei Schachzüge, schon war es ihm gelungen, sie in die Ecke zu drängen und sich ein Motiv für sie zurechtzubasteln.
»Wer braucht denn kein Geld? Ich bin offiziell arbeitslos und habe dadurch Zeit zum Schreiben. Für mich reicht es zum Leben. Ich werde sowieso demnächst verrentet.«
»Warum sind Sie arbeitslos?«
»Nennen Sie es wie meine ehemaligen Brötchengeber: eine interne Umstrukturierung.«
Sie bekam mehr Raum, er lehnte sich zurück, nahm das Tempo heraus und dämpfte seine Stimme: »In welchem Bereich haben Sie bis dahin gearbeitet? Wie lange am Stück? Wie war der Verdienst?«
»Im Büro einer Immobilienfirma. Zwölf Jahre Vollzeit. Verdienst war okay.«
»Passt nicht zu Ihnen.«
»Ach, ich bin da reingerutscht. Hab schon das eine oder andere in meinem Leben gemacht.«
»So? Ich wollte von Anfang an zur Kripo und Verbrecher fangen. Welche Ausbildung haben Sie gemacht?«
»Studium Komparatistik und Latein. Brotlose Kunst, ich hab nicht auf Lehramt studiert.«
»Und jetzt der Bestseller, der Ihnen den Lebensabend absichern soll? Wie haben Sie die Frau getötet?«
Ihr Herz begann, unrhythmisch zu pochen, das musste er hören. Sie schluckte ihre Empörung herunter. »Ich könnte nie jemanden umbringen, hören Sie auf damit. Geld und Ruhm sind mir nicht wichtig genug.«
»Aha, Sie schreiben aus Spaß? Warum haben Sie kein Smartphone?«
Was redete er da von einem Smartphone? Nicht, dass sie in eine seiner Fallen geriet!
Als sie schwieg, fuhr er fort: »Ihr Handy ist prepaid und ohne Internetempfang. Haben Sie noch ein zweites, ein Smartphone, oder wollen Sie mir erzählen, dass Sie den modernen Kram nicht brauchen? Das nehme ich Ihnen nicht ab, Sie wirken wie mit beiden Beinen mitten im Leben, und Ihre Kamera ist technisch der letzte Schrei. Sie versuchen, keine Spuren zu hinterlassen, das steckt meiner Meinung nach dahinter.«
»Bisher bin ich mit dem Gerät ausgekommen … Tatsächlich habe ich mich schon mal nach einem Anbieter umgeschaut, das Handy an sich würde es ja noch tun, aber meine SIM-Karte ist uralt, 2G, glaub ich …« Sie hörte sich beim Herumstottern zu.