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Er massierte seine Nasenwurzel mit Daumen und Zeigefinger. Sein Gesichtsausdruck blieb neutral. »Wer ist diese Viola, die Sie ständig ansimsen?«
»Meine Tochter. Gehört das hierher?«
Erneut beugte Reutter sich vor, um sich mit einem Seitenblick zum Kollegen sofort zu kontrollieren und die Distanz wiederherzustellen.
»Frau Salomon, sind Sie sich im Klaren darüber, wie weit Sie in den Fall verwickelt sind? Sie waren am Tatort, kennen die Bedeutung der grünen Fratzen.«
Sie sog hörbar Luft ein, er redete weiter und überging ihren stummen Protest.
»Was ist Ihr Motiv? Höhere Verkaufszahlen für das Buch kommen mir allerdings weit hergeholt her, muss ich sagen. Für so etwas Unplanbares bringt kein normaler Mensch einen anderen um. Welche Beziehung hatten Sie also zu der Toten?«
»Keine. Ich habe sie nie zuvor gesehen.«
»Wir warten auf die Ergebnisse aus der Rechtsmedizin. Todeszeitpunkt, Rückschlüsse auf die Tatwaffe und so weiter. Ich möchte Ihnen eine Speichelprobe entnehmen, dadurch können wir die Spuren auf der Leiche zuordnen. Dass wir Ihre DNA finden werden, ist unzweifelhaft, Sie haben sie angefasst. Aber wenn wir DNA finden, die nicht von Ihnen ist, können wir Sie gegebenenfalls ausschließen.«
»Sagen Sie bitte nicht Leiche zu dem armen Mädchen. Sie lag schutzlos da und war noch so jung … Sie hatte einen Namen, und ich finde, wir sind es ihr schuldig, sie respektvoll damit anzureden.«
Reutters Augen wurden groß. Sie hatte ihn wohl überrascht.
»Lynn Pfrommer hieß sie. Sie werden es in den nächsten Tagen von den Dächern pfeifen hören. Es wird eine Menge Geschwätz geben. Und jetzt zur Speichelprobe, bitte.«
»Nein«, sagte sie energischer, als sie sich fühlte, und drückte den Rücken durch, um sich größer zu machen.
»Wir bekommen Ihre Probe sowieso, notfalls per richterlichem Beschluss.«
»Ja bitte, beantragen Sie den, darauf möchte ich bestehen. Soll ich mir einen Anwalt besorgen? Ich fand das bisher unnötig, aber Sie bedrängen …«
»Warum machen Sie das, Frau Salomon? Sie werden dadurch nur verdächtiger. Was soll ich davon halten?«
»Ich möchte diesmal die korrekte Vorgehensweise und nicht wieder ausgetrickst werden. Machen Sie bitte Ihre Arbeit.«
»Wie Sie wollen.« Er zuckte mit den Schultern. Dachte er daran, wie er sie am Abend vorher wegen des Handys über den Tisch gezogen hatte? »Morgen habe ich den Beschluss. Lassen Sie sich bloß nicht einfallen zu verschwinden. Ich kontaktiere Sie. Und nehmen Sie Ihre Sachen mit.«
Sie fühlte sich hinausgeworfen, als sie die ausgetretenen Stufen zum Hof hinunterging. Immerhin war sie nicht bei ekligem Kaffee und Brot eingesperrt worden. Der Kommissar war ein professioneller Manipulator, er spielte souverän auf der Klaviatur der Gefühle. Im Nachhinein war sie erstaunt, welche Informationen er ihr entlockt hatte.
Sobald sie zurück bei Anne war, musste sie fragen, ob ihre Freundin eigentlich ein Alibi hatte. Wenn nicht, hatte Reutter eine Verdächtige mehr. Die Tote war tatsächlich Annes verhasste ehemalige Kollegin. Rasch checkte sie ihr Handy, um herauszufinden, wer sie gestern Abend zu erreichen versucht hatte. Bestimmt war der Anruf von Viola. Doch die Liste zeigte die Nummer des Verlags. Das musste warten.
6
Sie hatte eine Fahrt im Polizeiauto entschieden abgelehnt und ging zu Fuß zurück, um Gelegenheit zu haben, sich zu beruhigen. Wäre sie doch bloß gestern Nachmittag in ihrem stickigen Zimmerchen am Schreibtisch geblieben!
Anne und Michael nahmen sie in Empfang.
»Na, alles klar so weit? Haben sie dich laufen lassen?«
An Michaels Humor hatten die Jahre bei den zurückhaltenden Schwaben nichts ändern können.
Anne wies ihn zurecht. »Michael! Das ist nicht der Zeitpunkt für Witzchen.«
»Sorry. Ich meine, sie haben sie nicht verhaftet.«
»Der Kommissar hat die Daumenschrauben fester angezogen, das stimmt, und jetzt müssen sie auf Untersuchungsergebnisse warten. Danach wird sich rausstellen, dass ich unschuldig bin. Die Frau ist Lynn Pfrommer, wie du vermutet hast, Anne, und sie finden Gott sei Dank kein überzeugendes Motiv bei mir. Ich bin bald raus aus der Sache.«
Michaels Augen waren glasig und rot, wahrscheinlich hatte er zu wenig geschlafen. Er sah fertig aus.
»Wir beide haben durchaus ein Motiv«, sagte Anne, »wir haben uns darüber unterhalten. Wahrscheinlich hatten wir sogar Gelegenheit, kommt auf die Tatzeit an. Haben sie etwas darüber gesagt? Ich mache mir Sorgen, dass sie uns verhören wollen.«
»Nein, über eine genaue Todeszeit weiß ich nichts, Lynn wirkte … wie schlafend, war noch warm, als ich sie gefunden habe. Wie lange dauert es, bis jemand kalt wird?« Wie das klang, total surreal. Silvia hob die Schultern.
»Ich war gerade nach Hause gekommen, als du los bist«, sagte Anne, »da war es kurz nach halb sieben.«
Silvia überprüfte die Liste ihrer ausgehenden Telefonate. »Um neunzehn Uhr zweiundzwanzig habe ich die Polizei angerufen.«
»Michael hat doch nach Feierabend eingekauft, auf dem Kassenzettel steht siebzehn Uhr zwanzig.«
Er schaltete sich ein. »Damit werde ich verdächtig. Hier bin ich jedenfalls angekommen, als du schon weg warst, Silvia. Ich hab unterwegs noch auf einem Parkplatz gehalten, aber das kann keiner bezeugen. Mir war schwindlig, und ich hatte Kopfschmerzen, dieses elende Wetter, ich musste eine Pause machen.« Michael rieb sich das Gesicht.
»Was hättest du denn für ein Motiv?« Silvia hörte das schabende Geräusch von Bartstoppeln, sah abwartend in die Runde.
»Mir zu helfen«, sagte Anne. »Ich habe auf jeden Fall einen Grund. Wegen Lynn Pfrommer habe ich meinen schönen, sicheren, gut bezahlten Job aufgegeben. Darauf werden sie bei ihren Ermittlungen stoßen.« Sie schüttelte sich.
»Hast du kein Alibi für die Zeit, als …«
»Nein, ich habe das Bestattungsinstitut kurz nach drei verlassen, als mich die Kollegin der Spätschicht abgelöst hat. Beim Bestatter wird nämlich abends lange gearbeitet. Nach den Beisetzungen stehen immer einige Erledigungen an, so wie Fotos ausdrucken und möglichst zügig den Angehörigen bringen, eventuell die Kondolenzpost verschicken, das Auto ausräumen und alles wegpacken, und falls am nächsten Tag Termine sind, müssen die noch vorbereitet werden. Und oft gibt es spät noch spontane Beratungsgespräche, der Tod schläft nicht. Reichlich zu tun also.«
»Hast du wirklich über drei Stunden für den Rückweg gebraucht?«
»Erst hatte ich einen Termin bei meiner Therapeutin. Das war hart … dann musste ich runterkommen. Hab mich in der Nähe der Praxis an den Bach gesetzt. Da könnten mich viele gesehen haben. Die Rückfahrt hierher dauert ungefähr eine Dreiviertelstunde. Gegen halb sechs bin ich am Bahnhof abgebogen, ich hab auf die große Uhr geschaut und das Auto in der Nähe geparkt, ich konnte nicht sofort nach Hause. Also bin ich losgelaufen zur Klosteranlage, durch den Park, ein Stück auf dem Weg ums Kloster rum, danach am Minigolfplatz vorbei in das untere der beiden parallelen Sträßchen. Durch die Obstwiesen da oben geht ein Weg zurück auf die Talstraße. Kurz vor halb sieben muss ich am Auto gewesen sein und bin dann gleich hergekommen.«
»Bist du jemandem begegnet?«
»Na klar, und das wird mich belasten.«
Zu Silvias Erstaunen holte Anne eine Packung Zigaretten aus der Hosentasche. »Hab wieder angefangen.«
Annes Nikotinkonsum schwankte häufig, wie Silvia wusste, sie hatte in den letzten Jahren etliche Male für kurze Zeit aufgehört. Ihr Verlangen nach Zigaretten sagte etwas über den Grad ihrer psychischen Labilität aus. Vor Jahren hatte Michael sie mit einem Pegel von zweieinhalb Schachteln am Tag während eines paranoiden Schubs in die Psychiatrie gebracht. Sicherlich empfand sie nun Druck durch den Kontakt mit der Polizei und durch die Schilderungen des Verbrechens.
Sobald sie die ersten Züge an der Zigarette genommen hatte, wurden die Gesten der Freundin ruhiger. Weitaus weniger atemlos setzte Anne fort: »Immerhin werden sie meine DNA nicht an der Pfrommer finden, die hätte ich nicht mal mit der Kneifzange angefasst. Ich fand sie zum Schluss richtig abstoßend, so blass und hager. Eine echte Hexe.«
Michael sagte: »Das mit der DNA gilt auch für mich. Ich habe die Kirche jahrelang nicht betreten und erst recht nicht mit ihr zusammen.«
Eine Pause entstand. Silvia beschloss, ihnen mehr zu erzählen. »Lynn hatte ein Bild auf dem Hals, ich hab’s gesehen, aber dem Kommissar gegenüber geleugnet. Ihr kennt das Symbol, ich habe euch jede Menge darüber erzählt. Es war ausgerechnet ein Blattgesicht, ich dachte, ich seh nicht richtig.«
»Ein Tattoo«, kam es von Michael.
Anne zog an ihrer Zigarette und blies den Rauch aus. »Sie hat sich in den vergangenen Jahren komplett verändert, nur noch in Schwarz, ganz anderer Stil als früher, Kleider statt Jeans, hexenmäßiger Schmuck. Auffallen um jeden Preis, das wollte sie. Ein Grüner Mann ist für mich heidnisch und geheimnisvoll, das passt gut dazu, stimmt’s?«
»Kein Tattoo, gestempelt. Es ist möglich, dass ihr Mörder das hinterlassen hat.« Silvia wurde unbehaglich zumute. Eine Hexe war Lynn gewesen, hatte Anne gerade gesagt. Reutter hatte Teufelsdarstellungen im Zusammenhang mit Grünen Männern erwähnt. Es gab ja wirklich böse wirkende Gesichter unter ihnen …
»Ach du Scheiße.« Michael stand auf und holte sich eine Flasche Bier aus der Küche. »Kann sie sich auch alleine draufgemacht haben.« Große Schlucke.
Sie musste sich auf das Gespräch konzentrieren, ihren Freunden genau zuhören und dabei den flüchtigen Gedanken von gerade eben im Hinterkopf behalten. »Reutter sagte, sie hätte sonst keinen Körperschmuck. Das Motiv ist außerdem schief gestempelt, sie selber hätte es sicherlich gerade ausgerichtet. Erzählt das bitte nicht herum, ich komme sonst in Schwierigkeiten, ich wurde ausdrücklich ermahnt, keine Infos weiterzugeben.«
»Wir sind alle drei verdächtig«, sagte Anne. Ihre Hände begannen zu zittern.
Silvia sagte: »Ich hab den Dirk im Park getroffen, kurz bevor ich in die Kirche rein bin. Ein Alibi hat er also auch nicht.«
»Der kennt doch keine Blattmasken«, sagte ihre Freundin. Michael sah nachdenklich aus.
Silvia sagte: »Vor ein paar Tagen hab ich ihm über den Zaun erzählt, warum ich zu Besuch bin und worüber ich recherchiere. Ich wollte vor dem Spaziergang hinten im Garten ein paar Stachelbeeren pflücken, hatte die Kamera dabei und hab ihm meine neuen Fotos von den Köpfen gezeigt.«
»Und da ist er los und hat sich einen Stempel gekauft?« Anne blieb skeptisch.
Michael hatte die Flasche mittlerweile fast leer getrunken. »Ich geh zu ihm rüber.«
»Lass das bleiben, sprich mit ihm nicht über den Mord!« Er will weg, dachte Silvia.
»Nee, wir wollen Fußball gucken.« Damit stand er auf und holte zwei Bier aus dem Kühlschrank. »Ich nehm uns was zu trinken mit, da freut er sich. Nachher kommt das WM-Spiel gegen die Schweden im Fernsehen.«
Sobald die Haustür hinter ihm zugefallen war, wandte Anne sich mit verkniffenem Mund an Silvia. »Bei einer Flasche mit Dirk wird’s nicht bleiben. Ich seh es ungern, dass sie so oft zusammenhocken. Michael entzieht sich mir, wir unternehmen kaum noch was gemeinsam.«
Silvia hörte zu.
»Ich glaube, er hat eine andere. Beziehungsweise hatte. Glaubst du ihm die Geschichte mit dem Parkplatz und dem Schwindelgefühl? Wer weiß, was er da gemacht hat.«
»Aber Anne, was …«
Die Blicke der Freundin flackerten. »Er kommt spät nach Hause oder geht abends weg, angeblich in seinen Videoclub mit Dirk, aber weiß ich’s? Und die Sitzungen am PC freitags und samstags, bis in den Morgen …« Tränen quollen, sie griff zur Schachtel mit den Zigaretten.
Ich muss sie beruhigen, sonst stresst sie sich zu sehr und die Sache gerät außer Kontrolle, dachte Silvia. »Du, Männer kommen auch in die Wechseljahre. Dass dein Mann sich eine andere gesucht hat, kann ich mir nicht vorstellen. Ihr seid seit Ewigkeiten zusammen und habt euch eine Menge aufgebaut, das setzt er sicher nicht aufs Spiel. Ihr versteht euch doch gut.«
Anne atmete eine Wolke aus. »Manchmal rieche ich Parfüm an ihm. Er benutzt ja nicht mal Rasierwasser. Ich bin mir sicher, dass er mit der Pfrommer zusammen war.«
Silvia zog ein Taschentuch für die Freundin hervor. Ihre Zunge klebte am Gaumen, sie brauchte etwas zu trinken. »Warte.« Sie holte zwei Radler und stellte sie auf den Couchtisch. »Wie kommst du auf Lynn?«
»Lynn … du nennst sie beim Vornamen … dabei bist du ihr nie begegnet … Sie war ein Luder, ich hab dir erzählt, was sie angestellt hat, um mich aus der Firma rauszukriegen, damit sie in Ruhe ihre Fäden spinnen kann. Und jetzt tust du so, als ob sie dir nahegestanden hätte. Ich würde ihr zutrauen, dass sie sich an Michael rangemacht hat, nur um mir eins auszuwischen. Der Idiot hat sich bestimmt geschmeichelt gefühlt, dass eine Dreißigjährige was von ihm will. Sie waren beide im Videoclub, prima Gelegenheit.«
Oje, bodenlos wie ein Sumpf. Silvia wollte vermeiden, da hineinzugeraten. »Denkst du wirklich, er hat sich privat mit Lynn, äh, der Pfrommer getroffen?«
»Ach, was weiß ich.« Anne zuckte mit den Schultern.
»Warte, ich hol dir ein sauberes Taschentuch.« Der Gang zu den im Keller gelagerten Vorräten kam Silvia gelegen. Sie versuchte, sich an den Strand von Ahlbeck in der Morgensonne zurückzuversetzen, während sie nach den Packungen suchte. Wie schön war der Urlaub auf Usedom gewesen … Jetzt musste sie die Lage da oben in den Griff kriegen. Ihre Freundin brauchte sie, schnell raus aus dem Kellerräumchen mit der niedrigen Decke und dem großen Heizkessel.
Anne saß zusammengesunken da, sie hatte ihr Radler nicht angerührt. Silvia fiel ein, dass die Freundin womöglich Medikamente nehmen musste, die sich mit Alkohol nicht vertrugen. Sie stellte die Flasche unauffällig beiseite, als sie Anne das Päckchen zuschob und sich mit einem entfalteten Tuch zu ihr auf das Sofa setzte, um den Arm um sie zu legen und ihre Tränen zu trocknen.
»Ganz ruhig. Du siehst zu schwarz. Okay, du hast Parfüm gerochen? Eine Kollegin könnte zu viel davon benutzen. Und dass er mehr Freiraum braucht, ist …«
»Du nimmst mich nicht ernst.« Anne sah sie enttäuscht an und rückte ein Stück von ihr ab. »Lass gut sein. Ich beruhige mich, und wir tun so, als wäre alles in Ordnung.« Sie wischte entschlossen in ihrem Gesicht herum.
»Anne …« Um Himmels willen, was für ein Tag.
»Lass mich bitte alleine, ich komm klar. Möchtest du nicht an deinem Buch arbeiten? Wir sehen uns morgen früh.«
»Geht es dir wirklich besser?«
Anne nickte. »Jaja, alles gut.«
Mit widerstreitenden Gefühlen ließ Silvia die Freundin im Wohnzimmer zurück. Sie ließ die Tür zum Gästezimmer hörbar ins Schloss fallen und öffnete sie dann leise wieder einen Spaltbreit.
2007-11-04-18:22
»… Nippelwetter hier, meine ferne Freundin! Was macht dein Studium? Heute hat einer zu mir ›Fluffy Bunny‹ gesagt, dieser Typ aus unserem Büro mit dem Onepack, der meint, mit der Azubine kann er’s ja machen. Gut, ich hab ihn ein bisschen provoziert und so getan, als ob ich ihn mit einem Zauberspruch banne, weil er mich genervt hat. Der hat dabei nicht mal gemerkt, dass der Spruch aus Harry Potter war, und das kennt ja nun wirklich jeder. Ich bin doch nicht mehr vierzehn. Flauschiges Häschen, so ein Mist, wenn der wüsste. Irgendwann werden sie sich über mich wundern. Die mit ihrem langweiligen, oberflächlichen Alltag. Das wahre Leben spielt sich unbemerkt von denen ab. Als ob es nur das ›Gschäft‹ gibt, die interessieren sich null für was anderes als Geld verdienen, Haus und, wenn’s hoch kommt, ihre Familie. Na ja, die Männer für Autos und Frauen, die sie geil finden. Die Frauen finde ich ätzender, im Büro behandeln sie mich wie die Außenseiterin, weil ich keinen Bock auf ihre Clubs und Bars hab. Die sind neidisch auf mich, weil ich trotzdem jeden Mann abgreifen könnte, wenn ich wollte. Ich brauche ernsthaft keine Männer. Vor allem nicht den, der mein neuer Vater sein soll, den muss ich schon lange genug ertragen. Wie konnte meine Mutter uns das antun, wir hatten es doch schön, bis er aufgetaucht ist.
Du, ich hab einer Hexe geschrieben, die hat eine Homepage. Ist auf Englisch, schade, das kann ich nicht so gut wie du. Verbundenheit mit dem Universum, Göttinnen, damit spricht sie mir aus der Seele. Hoffentlich meldet sie sich bei mir. Hier kenne ich keine wie mich.«
7
Montag, 25. Juni
Silvia schreckte auf, als ihr Telefon klingelte. »Ja, Salomon?«
»Hallo, hier ist Viola.«
Ihr Herz hüpfte.
»Ach hallo, guten Morgen, wie schön, dass du dich meldest.«
»Was ist los bei dir? Deine Mail liest sich wie ein Krimi. So was passiert doch nicht im wahren Leben.«
»Und ob, ich stecke mittendrin in der Geschichte mit der Kripo. Hab dir ja geschrieben, dass ich die tote Lynn gefunden habe, das war schlimm, sie war ungefähr so alt wie du und …«
»Unglaublich. Du meinst, du kannst nicht nach Tübingen kommen?«
»In den letzten Tagen wurde ich ein paarmal verhört. Sogar gestern, am Sonntag, haben sie mich abgeholt, da sollte ich eine DNA-Probe abgeben. Stell dir vor, dafür haben sie extra einen Richter aufgescheucht. Na gut, sie wollen die Sache schnellstens aufklären. Könntest du hierherkommen?«
»Nein, ich kann nicht frei machen, mein Terminkalender ist voll, Forschungsprojekt auf der Zielgeraden, und ich habe tausend Vorbereitungen für das neue Semester zu erledigen. Passt mir ganz gut, dass du unser Treffen absagen musst. Sorry.«
In der kurzen Stille versuchte Silvia, sich jede Enttäuschung zu verbieten. »Na, ich schreib ja auch an meinem Buch.«
Wenn das mal wahr wäre. Gestern jedenfalls nicht.
»Können wir unseren Essenstermin verschieben? In ein, zwei Wochen wird es ruhiger bei mir.« Durch das Telefon drangen blätternde Geräusche.
»Schade, ich muss dringend jemandem alles erzählen. Anne ist zu stark beansprucht, und Michael … du kennst ihn ja. Ganz kurz noch: Weißt du, was das Merkwürdigste an der Sache ist? Diese Lynn hatte einen Stempel auf dem Hals, und rate mal, was? – Einen Grünen Mann. Was für ein Zufall ist das denn!«
»Hm. Also, wenn ich bei der Kripo wäre, fände ich dich auch verdächtig, Mudda.« Viola schnaubte oder stand im Wind.
»Ja, siehste. Kommissar Reutter ist ein total trockener Typ. Als ich ihm ein bisschen mehr über das Symbol erzählen wollte, hat er ziemlich schnell abgeschaltet. Irgendwie muss ich mich entlasten, und deshalb möchte ich rausfinden, warum ein Grüner Mann auf einer Toten hinterlassen wird. Dazu könnte ich fachliche Unterstützung gebrauchen, irgendwas in Richtung Kulturgeschichte oder so, ich fühl mich gerade wie in einem Strudel.«
»Ich bin mir nicht sicher, ob ich was für dich tun kann … Ich frag mal den Vincent, der lehrt Kunstgeschichte und Theologie hier in Tübingen und ist ein Schatz. Soll er dich anrufen? Vielleicht fällt ihm was zu den komischen Blattfratzen ein, damit du deinen Hals aus der Schlinge ziehen und dem Kommissar einen Tipp geben kannst, wo er den echten Mörder suchen soll.«
»Damit würdest du mir einen Riesengefallen tun. Was ist das denn für einer? Siehst du ihn öfter?«
»Zufällig ja. Er meldet sich bei dir.« Bloß nicht nachhaken, dachte Silvia. Ihre Tochter hatte ein Talent dafür, Distanz herzustellen, und das funktionierte offenbar auch am Telefon bestens.
»Prima, danke.«
»Nicht dafür«, sagte Viola großzügig und legte auf. Silvia spürte kurz eine warme Welle im Bauch.
8
»Mord im Kloster?«, hatte »HDK« für den Schwarzwälder Boten getextet, Untertitel: »Dreißigjährige stirbt in Kirche«. Der Paparazzo hatte für ein Foto der mit Flatterband abgeriegelten Kirche gesorgt und sogar für eines der eingehüllten toten Gestalt, wie sie auf der rollbaren Trage im regnerischen Dunkel über den Hof geschoben wurde. Eindrucksvoll schaurig. In diesem Tenor lasen sich auch der Leitartikel auf der ersten Seite des Regionalteils und die weiteren Informationen auf den Lokalseiten.
»Wie am Samstag bekannt gegeben wurde, ist eine Dreißigjährige aus Wildberg am späten Freitagnachmittag beim Besuch der Klosterkirche ums Leben gekommen. Nach Aussagen der Polizei konnte der sofort herbeigerufene Notarzt nur noch den Tod durch fremde Hand feststellen. Dies wurde später offiziell bestätigt. Zurzeit befindet sich der Leichnam in der Tübinger Rechtsmedizin. Die Kriminalpolizei bittet etwaige Zeugen, die sich am Freitagnachmittag in der Kirche oder in der Nähe aufgehalten haben, sich zu melden. Anrufe mit Hinweisen an die Telefonnummer 110 werden vertraulich weitergeleitet. Besucher der Anlage werden ersucht, Rücksicht auf die noch vorhandenen Absperrungen und die laufenden Ermittlungsarbeiten zu nehmen. In den nächsten Tagen sollen weitere Spuren gesichert werden. Wie zu erfahren war, arbeiten Kriminalhauptkommissar Ralf Reutter und sein Team unter Hochdruck daran, den Fall aufzuklären. ›Jede Beobachtung kann wichtig sein, um dem Täter oder der Täterin schnellstmöglich auf die Spur zu kommen‹, äußerte er auf einer Pressekonferenz am Sonntag. ›Erste Zeugen wurden bereits befragt.‹ Aktuell sei es zu früh, über Ermittlungsergebnisse zu sprechen. Er mahnte an, die Ermittler in Ruhe ihre Arbeit tun zu lassen und sie nicht durch Gafferei und illegales Filmen mit Smartphones zu behindern. ›Sollten wir Ähnliches gewahr werden, werden wir strikt einschreiten. Das kann von Bußgeld bis zur Festsetzung reichen‹, so Reutter. Auf Nachfrage der Presse gab er an, dass die derzeitigen Ermittlungen insbesondere der Suche nach der Tatwaffe dienten, die möglicherweise vom Täter in der Umgebung entsorgt wurde. Zu diesem Zweck werden unter anderem Polizeitaucher eingesetzt. Zur Person der Getöteten gab es zunächst nur spärliche Informationen mit dem Hinweis, dass die Familie um Diskretion gebeten habe. Man fürchte den Presserummel und bitte darum, in der ersten Zeit der Trauer nicht gestört zu werden.«
Silvia hatte für eine Sekunde ein Bild vor Augen, wie Vater und Mutter mit über den Kopf gezogenen Jacken im Blitzlichtgewitter versuchten, sich einen Weg durch die Reporter zu bahnen, ohne die auf sie einstürmenden Fragen zu beantworten. Hundertmal im Fernsehen oder in der Zeitung gesehen, dachte sie müde und legte den Boten zur Seite. Anne und Michael hatten die gedruckte Zeitung abonniert, nicht die Onlineversion. Immerhin ließ sich Biomüll darin verpacken, bevor man ihn in der braunen Tonne entsorgte … Typischer Journalistenjargon, fand sie. Diese Pressefritzen. Ihre Stimmung war mittlerweile so trübe wie der Nachmittagshimmel, unruhig wanderte sie durchs Haus.
Endlich kam Anne nach Hause und überfiel sie sogleich: »Wir haben den Sterbefall Pfrommer. Ich hab’s befürchtet.«
»Euer Bestattungsinstitut richtet die Beerdigung aus?«
»Genau. Heute Morgen waren die Eltern zur Beratung bei meinem Chef. Muss ja alles geregelt werden. Der Leichnam ist noch nicht freigegeben, die Obduktion in der Rechtsmedizin läuft.« Sie holte eine Zigarette heraus und zündete sie an. Tiefe, gierige Züge.
»Ich bin mir sicher, dass sie das nicht so einfach wegstecken werden. Ach je, die Armen. Wie geht es denn weiter?«
»Wenn die Untersuchungen abgeschlossen sind, wird die Tote abgeholt und ins Bestattungsinstitut überführt. Die Eltern sind evangelisch wie du und ich und überhaupt fast alle hier und hätten gerne eine Trauerfeier in der Kirche gehabt, aber Lynn Pfrommer ist ausgetreten, sie hatte damit nichts mehr am Hut, die Hexe. Also wird zur Beerdigung statt dem Pfarrer ein Trauerredner bestellt und die Friedhofshalle benutzt.«
»Gibt es schon einen Termin?«
»Wir hoffen, dass das Ergebnis im Laufe des Tages kommt, spätestens morgen früh. Erst wenn die Todesursache eindeutig geklärt ist, gibt die Staatsanwaltschaft eine Leiche zur Bestattung frei. Im kleinen Kreis findet im Bestattungsinstitut eine Abschiednahme am offenen Sarg statt. Die Beerdigung ist dann für Donnerstag geplant.« Anne machte eine Pause, drückte den aufgerauchten Stummel aus und zündete eine weitere Zigarette an. »Die Traueranzeige wird erst nach der Beerdigung veröffentlicht, denn die Eltern Pfrommer befürchten einen Riesenauflauf von Neugierigen aus der Umgebung, wenn Ort und Termin vorher bekannt werden. Ist ein Riesending, hier in Wildberg reden alle nur noch darüber. Machst du uns einen Kaffee? Stark. Hab schlecht geschlafen.« Anne rauchte hastig und sah zerknittert und mitgenommen aus. Kein Wunder.