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Silvia ging in die Küche, die ausnahmsweise unaufgeräumt war. Michael und Anne waren eigentlich pingelig, aber sie hatte ihr Frühstücksgeschirr auf der Spüle stehen lassen und nach dem Telefonat am Morgen nicht mehr daran gedacht. Kaffee war eine gute Idee. Zurück im Wohnzimmer, fragte sie: »Wie schaffst du das überhaupt, geht es dir einigermaßen?«
»Ach … ich hab mir selber die Dosis meines Medikaments erhöht und einen Termin beim Neurologen ausgemacht.« Anne verzog den Mund, dann setzte sie die Tasse an und nahm ein paar Schlucke, obwohl der Kaffee brühend heiß sein musste, denn sie trank ihn schwarz. »Ich hab nicht so viel Mitleid, wir hatten schon schlimmere Sterbefälle in diesem Jahr.«
»Wirklich? Obwohl sie so jung war? Okay, sie hat dich mies behandelt …«
»Wenn man keine Kinder hat, identifiziert man sich nicht so mit elterlichen Gefühlen. Du scheinst allerdings eine Menge in die Pfrommer reinzulesen.«
»Stimmt. Übrigens, Viola hat mich heute angerufen. Was aus dem Mädchen geworden ist, ich finde sie manchmal so distanziert.« Sie fasste das Gespräch für Anne zusammen und erwähnte den zu erwartenden Kontakt mit dem Kunsthistoriker: »Vincent heißt er, ob er wohl aus England kommt? Engländer wissen eine Menge über Green Men, vielleicht hat er frische Ideen.«
»Das ist gut. Konzentrier dich auf dein Buch, das interessiert dich und deine Leser, sie warten darauf.«
»Heute Abend setze ich mich endlich wieder dran, versprochen.« Nach kurzem Zögern setzte sie hinzu: »Dir geht es gesundheitlich schlecht, das merke ich. Ich möchte dich nicht belasten.«
»Komm, wir gehen nach draußen an die Luft.« Anne öffnete die Terrassentür. Die Kaffeekanne nahm sie mit und stellte sie auf die Mosaikplatte des Gartentisches. Die Luft roch nach Lindenblüten. Der Garten stand üppig, das Grün drohte die schmalen Wege aus Platten und Setzsteinen zu überwuchern. Auf den Blüten saßen Scharen von Schmetterlingen und Bienen, was Silvia besonders freute.
Von nebenan waren Stuhlrücken und Schritte zu hören, dann tauchte Dirk mit einem Strohhut auf dem Kopf hinter dem Zaun auf.
»Hallo, Anne, hallo, Silvia.«
»Hallo, Dirk, wie geht’s? Bisschen frisch heute, was?«
Er beugte seinen Oberkörper an der Abtrennung zwischen den Terrassen vorbei auf ihre Seite, senkte die Stimme und sagte, an Anne gewandt: »Die Kripo hat mich vorhin noch mal befragt, weil doch die Lynn tot ist, ihr habt das ja mitbekommen. Die ganze Stadt redet drüber, so was hat es hier noch nie gegeben. Besser, man hört gar nicht zu.«
Silvia betrachtete ihn. Ließ er sich gerade einen Vollbart stehen? Das, was sich da in seinem Gesicht bildete, mit richtig grauen Stoppeln im Gegensatz zu seinem aschblonden Haupthaar, war schon älter als drei Tage. Gab ihm was Lässiges. Nur seine graublauen Augen guckten ein wenig angestrengt.
»Ich hab sie gefunden, Dirk …«, bemerkte sie dann. »Mich haben sie inzwischen schon ein paarmal einbestellt. Hast du auch eine Speichelprobe abgeben müssen?«
»Ach, habe ich dir das zu verdanken? Ich hab mich schon gefragt …« Sie konnte förmlich sehen, wie sich die Zahnrädchen hinter seiner Stirn in Bewegung setzten. »Wir sind uns im Park begegnet, ich erinnere mich … Hast du ihnen das erzählt? Der Reutter hat kein Wort darüber verloren, warum er mich zu sich zitiert hat.«
»Ich hatte keine andere Möglichkeit. Sie werden sowieso alle ausfindig machen, die in der Klosteranlage waren.«
»Hast ja recht. Wie schauderhaft. Verdächtigen sie dich?«
»Ich habe Lynn berührt, meine DNA ist bestimmt an ihr. Ansonsten weiß ich nicht, wie sie … Die halten sich mit Informationen zurück, hast du was mitbekommen?«
»Nein, leider nicht, ich muss ständig daran denken und schlafe schlecht. Anne, du siehst auch angeschlagen aus.«
»Komm rüber und setz dich zu uns, kriegst einen Kaffee.«
In den nächsten Minuten tauschten sie ihre Eindrücke aus. Dirk sagte: »Der Reutter ist absolut routiniert und hart in der Befragung, hat nachgebohrt und nicht lockergelassen. Ich kenn ihn ganz gut, wir spielen beide alle zwei Jahre beim Schäferlauffest mit, in ›Der Klosterschäfer und des Teufels Puppenspieler‹. Noch drei Wochen, dann ist es wieder so weit. Wir proben schon fleißig.«
Silvia sah ihn fragend an, was er sogleich bemerkte.
»Hast du das mal miterlebt? Alte Tradition seit fast hundert Jahren.«
»Nein, hab ich leider nie gesehen.«
»Ein Wildberger Ehrenbürger hat das Stück geschrieben. Er ist schon vor dreißig Jahren gestorben, aber sein Schauspiel ist legendär, da geht’s um einen Aufrechten und einen, der dem Teufel verfällt. Ich hab nur eine Nebenrolle, aber Reutter ist dieses Jahr der Klosterschäfer. Na ja, er macht körperlich einfach mehr her.« Dirk lächelte. »Der Reutter ist jedenfalls ein richtig erfahrener Bulle. Was der alles wissen wollte! Ich hab mich ganz schön vor dem gefürchtet. Nicht dass einem hinterher was am Zeug geflickt wird, nur weil man was Unüberlegtes gesagt hat.« Es stellte sich heraus, dass Reutter Dirk über Silvia ausgefragt hatte, woran sie arbeite, was er darüber wisse. Er hatte dem Kommissar von den Fotos auf Silvias Kamera erzählt und dass er solche Blattköpfe bis dahin nicht gekannt hatte. »Übrigens, Thea ist gestern vorbeigekommen, hat versucht, mich aufzubauen, diese schlimme Geschichte muss man erst verdauen.«
Silvia fand, dass der Kontakt zwischen Dirk und seiner von ihm getrennt lebenden Frau immer noch erstaunlich eng war. Sie hatte Thea während ihres Aufenthalts bei Anne und Michael schon mehrfach kommen und gehen sehen, ihr zugenickt oder aus der Entfernung zugewinkt. Sie mochte Thea und fragte sich seit Jahren, wie ihre Ehe mit Dirk überhaupt je funktionieren konnte.
Dirk war Silvias Meinung nach ein Intellektueller, der seine Gesundheit vernachlässigte und seinen Grips zu wenig ausschöpfte. Seine Stelle im Kurbetrieb der Stadt Bad Liebenzell hatte er vor Jahren für eine freiberufliche Tätigkeit an den Nagel gehängt, bei der er nur zeitweise zu tun hatte. Er besaß fundiertes Wissen über alles Mögliche und schien viel zu lesen. Früher hatte er mal studiert, ohne Abschluss, und seine Zeit als Angestellter war entsprechend kurz gewesen. Wie alt war er mittlerweile – Ende vierzig, Anfang fünfzig? Für ein sicheres Einkommen hatte immer Thea gesorgt, sie wirkte in jeder Hinsicht geerdeter.
Anne hatte Silvia angerufen, als Thea überraschend ausgezogen war, nach Nagold, wo sie arbeitete. Ein gutes Jahr mochte das her sein.
Michael war damals nicht überrascht gewesen. Na gut, er hatte seine Männerfreundschaft mit Dirk und dadurch Einsichten in die Ehe der beiden, die Anne verwehrt geblieben waren. Über Michaels Besuch am Samstagabend schwieg Dirk, und Silvia hatte keine Lust, ihn darauf anzusprechen und sich womöglich mit unvorsichtigen Fragen in die Nesseln zu setzen.
»Ihr seht euch oft, Thea und du, trotz der Trennung, das gefällt mir«, sagte sie.
»Ja, ich hoffe, wir raufen uns noch mal zusammen. Sind lange zurechtgekommen miteinander, das ist als Basis ganz gut, oder?«
Silvia und Anne bejahten, was Dirk sichtlich guttat. Er begann, über sein Hobby zu reden, den Videoclub, und über seine eigene Ausrüstung und fragte Silvia, ob sie zusätzlich zu ihrer Kamera, an der man das Objektiv nicht wechseln konnte, eine Spiegelreflexkamera besitze. Als Silvia ihm erklärte, wie lichtstark ihre Kamera sei und dass das Objektiv einen großen optischen Zoom besitze, versanken sie in eine Diskussion über Kameratypen und Digital- und Analogfotografie. Silvia vergaß ihre Umgebung, Dirk und sie waren auf Augenhöhe.
Irgendwann bemerkte sie, wie Anne sich wegdrehte. Sie reagierte weder auf Blicke noch auf Zunicken, trank ihren Kaffee, rauchte, die Augen in die Ferne gerichtet, und hing ihren eigenen Gedanken nach. Silvia ließ Dirk weiterreden, stellte aber selbst keine Fragen mehr. Sie wollte Anne nicht ausschließen und gleichzeitig das Gespräch mit Dirk nicht beenden. Sogar in ihrem Alter hatte sie noch keinen Weg gefunden, solche Situationen mit Worten zu lösen. Viola gegenüber verstummte sie auch oft genug hilflos.
Plötzlich schlug Dirk vor: »Was hältst du davon, Silvia, wenn du Freitag am frühen Abend mit mir zum Treffen in den Kurs gehst? Videoclips kannst du mit deinem Apparat doch auch machen, vielleicht interessiert dich das ja? Viele von uns drehen Filmchen mit ihrer Fotokamera. Wir freuen uns jedenfalls über Besucher, die bringen frischen Wind … Nicht dass wir viele hätten, es ist ein ziemlich geschlossener Kreis, sozusagen.«
»Gerne, das ist eine nette Einladung. Hol mich einfach ab.« Silvia verabschiedete sich von Dirk und ging nach oben, begeistert von den inspirierenden Themen der letzten zwanzig Minuten.
Das war der richtige Zeitpunkt für ein paar neue Zeilen in ihrem Manuskript. Sie blätterte in ihren Unterlagen und begann ein neues Kapitel.
Triff den Grünen Mann: Warum interessieren uns Grüne Männer heute?
Wir haben die unterbewusste Überzeugung und den verborgenen Wunsch, dass uralte Mächte noch existieren, sind fasziniert von der Kraft der Flora und Fauna, von dem Primitiven, das unserer überkomplizierten Welt zugrunde liegt. Wir leben in ständigem Konflikt mit der Natur. Die aktuelle Herausforderung, die wir dringend zu bewältigen haben, ist der Klimawandel. Inzwischen erkennt der Mensch der Postmoderne allmählich, dass er nicht unabhängig von Mutter Natur existieren kann. Er ist mehr denn je auf Sinnsuche und fühlt sich entwurzelt, hat ein nostalgisches Verlangen nach Wiedervereinigung und Einheit mit einer intakten Natur.
Viele reagieren auf das beunruhigende Gefühl des globalen Kontrollverlusts, indem sie sich zu mystischen Dingen hingezogen fühlen. Sie konzentrieren sich auf letzte Rätsel in einer Welt, die rasant entschlüsselt wird. Grüne Männer bieten solche Rätsel in perfekter Weise.
Wie nichts war die Zeit verflogen. Nun riefen leichte Kopfschmerzen Silvia in die Gegenwart zurück. Sie kippte das Fenster, um Sauerstoff hereinzulassen und so dem schmerzhaften Pulsieren zu begegnen. Durch den Fensterspalt hörte sie, wie jemand unten auf der Terrasse eine Melodie summte, die ihr zugleich hypnotisch und seltsam unrhythmisch vorkam.
Sie legte die rechte Wange an die Wand, um den Sitzplatz sehen zu können. Es war Anne, die diese Töne von sich gab, völlig geistesabwesend bewegte sie den Oberkörper vor und zurück.
2008-03-16-19:14
»… Ein schöner Frühlingstag hier, meine Liebste. Im Wald ist der Boden nass, aber ich habe Blumen gesehen! Die Bäume warten auf Wärme, damit sie ihr Leben wieder an die Oberfläche verlegen können. Dass der Winter vorbei ist, wird mein schönstes Geburtstagsgeschenk. Das hat meine Mutter gut hingekriegt, zu meinem Geburtstag wird auch die Natur wiedergeboren. Am 20. ist Ostara, die Tag-und-Nachtgleiche, dafür habe ich ein Ritual vorbereitet. Ich werde mir das neue Kleid anziehen, das ich mir gewünscht habe. Dunkelgrün, guck mal, ich hoffe, die Kamera gibt die Farbe hier drin richtig wieder. Ich werde in den Wald gehen, auf diesen Platz, den du auch kennst, wohin am Abend garantiert keiner kommen wird. Wenn es dunkel wird, rechne ich fest damit, dass der Mond scheint, es soll Vollmond sein, und die Wettervorhersagen hören sich gut an! Die englischen Hexen sind superlieb und helfen mir mit Tipps. Einen rituellen Tanz habe ich mir schon ausgesucht, und Moira hat mir einen Zauberspruch für den Abend geschickt. Ich nehme Samentütchen mit und bitte um Segen dafür, dann verstreue ich die Samen im Kreis. In den nächsten Tagen bemale ich noch ausgepustete Eier, nicht mit Häschen und kitschigem Osterquatsch, nein, es gibt coole Hexenzeichen, Runen und so. Die Eier hänge ich in einen Baum. Eine Kerze nehme ich auch mit, die hab ich schon vorbereitet, hat gut geklappt mit dem Schnitzen, jetzt hat sie ein tolles Muster im Wachs.
Mein Englisch ist viel besser geworden, seit ich mir regelmäßig mit den Hexen schreibe. Moira sagt übrigens, es gibt weder schwarze noch weiße Magie.
Schade, dass ich das alles alleine und ohne dich machen muss.«
9
Dienstag, 26. Juni
Silvia überlegte, ob sie ihre Unterlagen noch einmal komplett sichten sollte, bevor Violas Kunsthistoriker anrief. Irgendeine Bedeutung der Grünen Männer musste ihr bisher verborgen geblieben sein. Hatte sie Textstellen überlesen, in denen ein Zusammenhang mit Tod oder gar Mord angesprochen wurde?
Eine Gänsehaut breitete sich kurz auf ihrem Rücken und den Armen aus. Die Blattmasken waren ihr bisher in der Hauptsache harmlos, teilweise possierlich und nur ganz vereinzelt aggressiv oder verstörend vorgekommen, etwa, wenn sie körperlichen Verfall zeigten. Ging das Unheimliche, Negative des Symbols viel tiefer, als sie gedacht hatte?
Silvia war auf der Hochfläche unterwegs, die sich hinter den letzten Häusern der Einfamilienhaussiedlung, in der Anne und Michael wohnten, erstreckte. Wieder einmal hatte sie der Bewegungsdrang gepackt, sie wollte wandern. Die Klosteranlage hatte sie nach der Zeitungslektüre über die Polizeiaktivitäten gemieden, denn aus den Gesprächen der Leute im Supermarkt und auf den Straßen hatte sie herausgehört, dass dort noch keine Normalität eingekehrt war.
Nach dem bewölkten Tag gestern war es sonnig und warm. Sie zippte einen Teil ihrer Hosenbeine ab, obwohl in dieser Höhe ein frischer Wind wehte. Dafür hatte sie von hier oben einen weiten Blick in die Richtung, wo sie den Wald mit der Lichtung vermutete. Irgendwo dort hatte sie vor ein paar Tagen den rudimentären Steinkreis gefunden. Mit den Augen suchte sie die in verschiedenen Grüntönen hintereinander gestaffelten Landschaftsformationen ab. Das sind keine Hügel mehr, aber noch keine Berge, dachte sie. Die An- und Abstiege ließen sich bis auf ein paar steile Stellen ohne Anstrengung bewältigen, und so war der Versammlungsplatz für fast jeden zugänglich gewesen.
Der Platz, nach dem sie Ausschau hielt, lag auf der anderen Seite des Flusstals. Die Gegend war bewaldet, abgesehen von den tiefer liegenden Obstwiesen am Rand des Flusses. Schwer, von hier aus zu sagen, wo genau die Lichtung sein mochte. Sie drehte sich um die eigene Achse, um das gesamte Panorama zu erfassen, aber der Campingplatz, an dem sie sich hätte orientieren können, lag zu tief, er war nicht zu sehen.
Im Nordosten war die Stadt weiter emporgeklettert als in den anderen Himmelsrichtungen. An den Hängen bestand die Bebauung aus einer Ansammlung von Flachdachbungalows in Terrassenbauweise, die in den siebziger Jahren des letzten Jahrhunderts entstanden waren. Die Moderne hatte unübersehbar Einzug gehalten. Um Silvia herum erstreckten sich Getreidefelder. Die Wanderung in der Spätnachmittagssonne machte locker, sie entspannte sich. Ihr kam ein Lied in den Sinn, das sie heute Morgen im Radio gehört hatte. Sie pfiff es vor sich hin, als sie weiterging.
In großem Bogen gelangte sie zu dem Dorf, das der Siedlung am nächsten lag. Ein Ortskern, den die Landstraße durchschnitt, eine vom Friedhof umgebene Kirche, deren Deckenbemalung mit Blumen- und Blütenmotiven Silvia schon mehrmals bewundert hatte. Auf der anderen Seite des Ortes kehrte sie um. Fußwege mit Grün rechts und links, ein sanfter Abstieg, eine Landschaft, die Ruhe spendete. Ihr Blick auf das Handy zeigte, dass bei ihrer Rückkehr Anne aus dem Bestattungsinstitut zurück sein würde, und sie wollte sich auf jeden Fall ein Bild vom Zustand ihrer Freundin machen, bevor Michael eintraf. Seit sie Anne gestern in ihrer hospitalistisch schaukelnden Abwesenheit beobachtet und sich dabei wie eine Voyeurin gefühlt hatte, sorgte sie sich um deren geistige Verfassung.
Aus der Ferne sah sie Annes Auto auf dem Parkplatz stehen. Es leuchtete in dem schönsten Türkis, das Silvia sich vorstellen konnte. Als ob man sich beim Einsteigen in einen Swimmingpool fallen ließe oder in eine Südseelagune watete.
Sie schloss die Haustür auf und kündigte ihre Ankunft an: »Anne? Bin wieder da!« Zu ihrer Erleichterung fand sie ihre Freundin hinter dem Haus, am Mosaiktisch sitzend, Nikotin und Koffein in greifbarer Nähe. Anne wirkte wach, schien im Hier und Jetzt zu sein. »Bin vor einer Viertelstunde gekommen, ich musste Überstunden machen. Heute Morgen haben sie die Pfrommer geholt, und vorhin gab es noch die Verabschiedung im kleinen Kreis im Institut, bevor der Sarg geschlossen wurde. Manche Angehörige wünschen das vor der eigentlichen Beerdigung.«
»War’s schlimm?«
»Nein, ich muss die Leute nicht zurechtmachen, dafür gibt es extra Personal. Die haben die Tricks gelernt, wie man die Toten richtet. Einer der Männer hat mir am Anfang einiges darüber verraten wollen. Was man mit Augen und Mund macht und wie die Arme von unten abgestützt und die Hände über der Decke gefaltet werden. Aber nein, die Arbeit im Büro reicht mir. Ich habe die Besucher bei der Abschiednahme in Empfang genommen. Die Eltern kommen mir vor wie konservative Spießer, wie sind die bloß an diese ausgeflippte Tochter geraten? Einer von den Spezis der Pfrommer aus dem Betriebsrat war dabei, war ihm unangenehm, mich zu treffen, kein Wunder. Er hat sich damals in der Firma auf ihre Seite geschlagen. Der Frank war auch da, der leitet den Videoclub. Wirst ihn kennenlernen, wenn du demnächst hingehst. Schillernder Typ, ganz anders als Dirk oder Michael.«
»Und Lynn?«
»Sie haben sie phantastisch hingekriegt, sah aus wie Schneewittchen in ihrem Sarg … Die Eltern haben eines der teuersten Modelle ausgesucht, nicht Kiefer einfach oder Eichenfurnier brutal, sondern richtig was Edles mit schwarzem Klavierlack.«
»Hört sich kostbar an.«
»Es gibt sogar Särge mit Goldstaub oder echten Intarsien, für jeden Geschmack und jeden Geldbeutel. Ich hab Fotos machen müssen, bevor alle eingetroffen sind. Wir übergeben den Angehörigen nach einer Beerdigung immer ein Fotomäppchen, da sind auch Bilder von der Aufbahrung mit dem offenen Sarg drin, wenn eine stattfindet. Und natürlich die von der Beisetzung selber.«
»Ach nee …« Silvia wollte das alles gar nicht so genau wissen. »Sag mal, was passiert bis zur Beerdigung mit ihr, ich meine, wo …«
»Sie ist in der Kühlung, im Keller des Bestattungsinstituts gibt es einen speziellen Raum dafür.«
»Ah, verstehe.«
»Ich hatte die Freigabe des Staatsanwalts auf dem Tisch. Und die Todesbescheinigung.«
»Ja und?«
»Die Bestattungsinstitute bekommen blaue Durchschläge der Todesbescheinigung ohne Angaben zur Todesursache offen ausgehändigt. Zugeklebt liegen dabei ein grauer Umschlag für das Standesamt, ein rosafarbener für das Krematorium – das ist für den Fall, dass die Angehörigen eine Einäscherung wünschen – und ein gelber für das Friedhofsamt der Gemeinde, in der die Beisetzung stattfindet.«
Silvia verstand nicht, worauf Anne hinauswollte, und sah sie fragend an.
»Ich habe den rosa Umschlag fürs Krema vorsichtig aufgemacht, es gibt ja keine Einäscherung, sondern eine richtige Beerdigung mit Sarg. Da wird das Kuvert nicht gebraucht, ansonsten darf es nur von dem Arzt im Krematorium geöffnet werden, der die zweite Leichenschau vornimmt, bevor der Sarg in den Ofen geschoben wird. Auf dieser rosa Kopie wird die Todesursache genannt und erläutert.« Sie ließ die Information einsinken. »Auf der Freigabe des Staatsanwalts stand ›Eine Leichenöffnung hat stattgefunden‹, auf der blauen Todesbescheinigung ›Anzeichen für nicht natürlichen Tod‹ und ›Polizei informiert‹, das hatte ich schon gelesen, aber ich wollte wissen, woran die Pfrommer denn nun gestorben ist. Stell dir vor, sie ist erstochen worden.«
»Ach du meine Güte … hab gar kein Blut gesehen …«
»Ein tödlicher Stich in den Bauch. Die Blutungen gingen nach innen. Das bisschen, was nach außen gesickert ist, hast du bestimmt übersehen, weil das Kleid, wie du erzählt hast, schwarz und aus Samt war. Zweischneidige Klinge, haben sie geschrieben, was ist denn das?«
»Ich glaube, das ist ein Messer, das auf beiden Seiten scharf ist, also anders als ein Küchenmesser, mit einem zweischneidigen kannst du leichter … zustechen …«
»Wer rennt denn mit so was durch die Gegend? Hättest du überhaupt ein zweischneidiges Messer? Das muss geplant gewesen sein. Na ja, so wie sie mit den Leuten umgegangen ist, wundert es mich nicht.«
»Anne! Ich finde, es ist ein großer Schritt zwischen dem, theoretisch darüber nachzudenken oder es wirklich zu tun. Könntest du das? Jemandem gegenüberstehen und ihm ein Messer in den Bauch stoßen?«
In Annes Blick lag etwas unergründlich Wildes. Silvia erschrak.
»Bei der Pfrommer hab ich darüber nachgedacht … also, nicht erstechen … ich hätte Gift in ihren Kaffee mischen, sie aus dem Fenster schubsen können. Was man so denkt, wenn man wirklich wütend ist.«
»Hör bloß auf!«
Silvia sah einen Vorhang über Annes Augen gleiten. »Entschuldige, das war reine Phantasie. Als die mich gemobbt hat, habe ich mir nachts manchmal was ausgemalt.«
»Ich geh meinen Schreibtisch aufräumen. Lass mir noch Kaffee übrig.« Silvia wollte das Thema beenden.
Am Laptop öffnete sie einen der Fotoordner, der Bilder von Viola enthielt, und betrachtete sie. Sie berührte den Bildschirm mit den Fingerspitzen, Violas Wange, so wie sie Lynns Wange berührt hatte. Ihre Sicht verschwamm.
Über Lynn hatte sie, seit sie sie gefunden hatte, jeden einzelnen Tag nachgedacht und eine starke, wenn auch für ewig einseitige Verbindung zu ihr aufgebaut. Sie wollte sich erklären können, welches Schicksal dahintersteckte, dass jemand die junge Frau aus ihrem Leben gerissen hatte. Dazu musste sie das offene Ende enträtseln. Musste die Last dieses Todes von sich selbst nehmen, um zu ihrem normalen Leben zurückzukehren. Sie wollte dazu beitragen herauszufinden, wer Lynn getötet hatte. Reutter brauchte das nicht zu wissen. Es galt nachzuforschen, wer außer ihr, ihren beiden Freunden und Dirk das archaische Symbol kannte, das der Stempel zeigte. Was hatte sie schon zu verlieren?
Ein konkretes Ziel, für das sie Zeit und Freiraum benötigte. Morgen würde sie den Verlag anrufen und um eine Verlängerung der Abgabefrist bitten.
Es würde die junge Frau nicht mehr lebendig machen, aber sie wollte, dass der Mörder entlarvt und bestraft wurde.
2008-12-26-23:47
»… o meine Liebe, gut, dass Weihnachten vorbei ist. Was für eine Gammelfleischparty. Wir hatten bis eben Besuch, meine Tante und meinen Onkel, und ich hatte kaum Zeit für mich. Ständig haben wir am Tisch gesessen und gegessen, Puter (würg) mit Klößen, total viel Kuchen nachmittags, und abends hat meine Mutter dann noch mal aufgefahren. Ich musste mich ›anständig‹ anziehen, also angepasst, meinte sie, nicht meine schönen Flattersachen, und den Hexenschmuck wollte sie auch nicht unter dem Tannenbaum sehen. Dann sind wir noch rumgefahren und sind bei Leuten reingeschneit, da lief genau das gleiche Programm.
Ich hab mir nur Geld gewünscht, das, was ich gerne hätte, schenken sie mir sowieso nicht und wüssten auch nicht, wo sie es finden könnten. Im Internet gibt es ein paar Läden, die coole Bücher, Schmuck und Hexenbedarf verkaufen, leider alles sehr teuer, ich verdiene ja noch nicht viel.
Ich konnte mich nicht mal verdrücken, um auf meine Art Yule zu feiern. Abends hab ich immerhin mit Moira und den anderen gechattet. Außerdem hab ich mich umgetan, ob sich nicht eine im Netz findet, die hier in der Nähe lebt, damit wir uns treffen können. Ist aber schwierig. Ich dachte eher an Gleichaltrige, brauch echt keine zweite Mutter. Du wirst doch nicht eifersüchtig?
Patrick hab ich inzwischen abgeschossen. Der ist ein Alphakevin. Zum Bumsen war er zu gebrauchen, er hat nur überhaupt keinen Draht zur Natur. Was soll ich mit so jemandem? Vielleicht tut sich in nächster Zeit was mit dem Chris aus dem Lager, der ist fast doppelt so alt wie ich, find ich aber attraktiv. Kleiner Liebeszauber?«
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Donnerstag, 28. Juni
Von: Silvia.Salomon@interweb.com
An: Lilaflieder@coolmail.de
28. Juni, 3:03 Uhr
Liebe Viola,
Anne musste gestern bei der Polizei aussagen. Sie und die getötete Lynn kannten sich aus der Firma und waren zerstritten. Michael ist bei ihr geblieben, um sie zu unterstützen und aufzupassen, und der Kommissar hat ihn gefragt, ob er ihr bei dem Mord geholfen hat. Er versucht ständig, die Leute zu überrumpeln und zu verunsichern.