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•Mit der „Entsenderichtlinie“ (1996 / 71 / EG) wird ausgeschlossen, dass die deutschen Arbeitsrechts- und Arbeitsschutzbestimmungen umgangen werden. Diese Richtlinie wird im Arbeitnehmer-Entsendegesetz (AEntG) umgesetzt.
Im Bereich des Arbeitsvertragsrechts existiert eine ganze Reihe weiterer Richtlinien, die in das deutsche Recht überführt wurden. Diese zeigt Tabelle 1.
Tab. 1: EU-Richtlinien zum Arbeitsvertragsrecht
RichtlinieZiel/InhaltUmsetzung inNachweisrichtlinie (1991/533/EWG)Pflicht der Arbeitgeber zur Unterrichtung ihrer Arbeitnehmer über die für deren Arbeitsverträge geltenden BedingungenNachweisgesetz (NachwG)Befristungsrichtlinie (1999/70/EG)Verhinderung der Aushöhlung des arbeitsrechtlichen Schutzes von Arbeitnehmern durch die Befristung von ArbeitsverhältnissenTeilzeit- und Befristungsgesetz (TzBfG)Richtlinie über Teilzeitarbeit (1997/81/EG)Beseitigung von Diskriminierungen Teilzeitbeschäftigter; Förderung der Teilzeitarbeit und einer flexiblen Organisation der ArbeitszeitTeilzeit- und Befristungsgesetz (TzBfG)Leiharbeitsrichtlinie (2008/104/EG)verbesserter Schutz von Leih- oder Zeitarbeitskräften (Grundsatz des „equal pay, equal treatment“)Arbeitnehmerüber lassungsgesetz (AÜG)Betriebsübergangs richtlinie (2001/23/EG)schützt die vertraglichen Rechte von Arbeitnehmern, wenn ein Betrieb oder ein Unternehmen verkauft wird und dadurch ein anderer Arbeitgeber an die Stelle des früheren tritt§ 613a BGBBesonders bedeutsam sind auch die im Bereich des Arbeitsschutzrechts vorhandenen Richtlinien der EU, die in Tabelle 2 genannt werden.
Tab. 2: EU-Richtlinien im Bereich des Arbeitsschutzes
RichtlinieZiel/InhaltUmsetzung inArbeitszeitrichtlinie (2003/88/EG)Vorgaben zu Höchstarbeitszeiten, Nachtarbeit, zwingend einzuhaltenden Ruhe- und Pausenzeiten sowie zum MindestjahresurlaubArbeitszeitgesetz (ArbZG) Bundesurlaubsgesetz (BUrlG)Richtlinie über den Jugendarbeitsschutz (1994/33/EG)schützt Minderjährige durch Beschäftigungsverbote für bestimmte Tätigkeiten sowie durch Vorgaben zur Arbeitszeit einschließlich eines NachtarbeitsverbotsJugendarbeitsschutzgesetz (JArbSchG)Mutterschutzrichtlinie (1992/85/EWG)Schutz werdender und junger Mütter durch ein Kündigungsverbot, Beschäftigungsverbote, Mutterschaftsurlaub und Freistellungen für VorsorgeuntersuchungenMutterschutzgesetz (MuSchG)Elternurlaubsrichtlinie (2010/18/EU)Anspruch auf Freistellung von der Arbeit im Fall der Geburt oder der Adoption eines KindesBundeselterngeld- und Elternzeitgesetz (BEEG)Auch wenn die vorgenannten Richtlinien vollständig in das deutsche Recht überführt wurden, sollte man stets bedenken, dass der Ursprung der entsprechenden Regelungen letztlich im europäischen Recht liegt. Deshalb sind die deutschen Umsetzungsregelungen, wie sie etwa im ArbZG, dem AGG, dem TzBfG und weiteren Vorschriften enthalten sind, entsprechend den Zielsetzungen und der Entstehungsgeschichte der jeweiligen europäischen Richtlinie zu interpretieren und anzuwenden. Dieses „Gebot richtlinienkonformer Auslegung“ geht letztlich auf Art. 4 Abs. 2 und 3 AEUV zurück. Vor diesem Hintergrund erklärt sich auch die besondere Rolle, die der Europäische Gerichtshof (EuGH) im Arbeitsrecht einnimmt: Er entscheidet über Fragen zur Auslegung und Anwendung der europäischen Verordnungen und Richtlinien. Selbst wenn sich Urteile des EuGH auf Rechtsstreitigkeiten aus anderen EU-Staaten beziehen, geben diese auch für die Anwendungspraxis in Deutschland wichtige Hinweise.
Beispiel
Gerade im Bereich des kirchlichen Arbeitsvertragsrechts hat der EuGH einige Grundsatzentscheidungen getroffen, die sich mit der Zulässigkeit von Diskriminierungen aufgrund der Zugehörigkeit oder Nichtzugehörigkeit zu einer Religionsgemeinschaft befassen (Kap. 6.2).
Auch das Urlaubsrecht hat der EuGH nunmehr wesentlich geprägt. Seitdem werden die betreffenden Fragen auch durch das Bundesarbeitsgericht (BAG) entsprechend den europarechtlichen Vorgaben ausgelegt.
Bei einem Auslandsbezug, d. h., wenn etwa deutsche Staatsangehörige bei Firmen mit Sitz im Ausland oder umgekehrt Ausländer bei in Deutschland ansässigen Arbeitgebern tätig sind, stellt sich zwangsläufig die Frage, ob sich ein arbeitsrechtlicher Sachverhalt nach deutschem oder nach ausländischem Arbeitsrecht beurteilt. Geregelt ist dies im sog. „Kollisionsrecht“ (auch „internationales Privatrecht“ genannt). Dieses geht grundsätzlich von der Möglichkeit einer freien Rechtswahl durch die Vertragspartner aus, sofern dadurch nicht Arbeitnehmern der Schutz entzogen wird, der ihnen zustünde, wenn keine Rechtswahl getroffen worden wäre. Geregelt ist das Kollisionsrecht im Einführungsgesetzbuch zum BGB (EGBGB), EU-Verordnungen und speziellen völkerrechtlichen Vereinbarungen.
1.1.2Grundgesetz
Im Grundgesetz werden nur sehr allgemeine Aspekte des Arbeitsrechts angesprochen, etwa das Grundrecht auf Freiheit der Berufswahl (Art. 12 GG) oder das Koalitionsrecht (Art. 9 Abs. 3 GG). Ein Recht auf Arbeit findet sich hier dagegen nicht. Die Grundrechte sind im Grundgesetz nämlich (im Gegensatz zu Art. 24 Abs. 1 S. 1 der ehemaligen DDR-Verfassung) als reine Abwehrrechte des Bürgers gegen den Staat ausgestaltet, nicht aber als Forderungsrechte.
Zwischen den Vertragspartnern eines Arbeitsvertrags gelten die Grundrechte somit nicht unmittelbar. Allerdings entfalten sie auf dem „Umweg“ über die sog. „Generalklauseln“ des BGB (das sind Paragrafen, die allgemeine und letztlich auf die Verfassung zurückgehende fundamentale Rechtsprinzipien enthalten, vgl. etwa §§ 134, 138 oder 242 BGB) auch im Arbeitsrecht eine Wirkung, die man „mittelbare Drittwirkung“ nennt.
Beispiel
A will B gegen ein Festgehalt beschäftigen: B soll Frauen vermitteln, die sich als Leihmütter zur Verfügung stellen. Die Beschäftigung ist sittenwidrig und deshalb nach § 138 BGB unwirksam, da die Leihmutterschaft in Deutschland als nicht im Einklang mit den Persönlichkeitsrechten der Leihmütter vereinbar angesehen wird. Der auf Art. 2 Abs. 1 und Art. 1 Abs. 1 GG beruhende Persönlichkeitsschutz wirkt über § 138 BGB in das Arbeitsverhältnis hinein. Im Übrigen ist die Leihmuttervermittlung ohnehin gemäß § 13c des Adoptionsvermittlungsgesetzes (AdVermiG) verboten. Damit verstößt die Beschäftigung von B auch gegen ein Gesetz; der Arbeitsvertrag ist damit zusätzlich gemäß § 134 BGB unwirksam.
Weiteres Beispiel: In einem Kinderheim erhält ein Bezugsbetreuer ein jährliches Weihnachtsgeld; sein Kollege, der ebenso lange in derselben Abteilung arbeitet und die gleiche Qualifikation hat, nicht. Hier liegt ein Verstoß gegen den allgemeinen arbeitsrechtlichen Gleichbehandlungsgrundsatz vor, der durch die arbeitsgerichtliche Praxis entwickelt wurde, aber letztlich auf Art. 3 Abs. 1 GG zurückgeht (Kap. 3.5.3).
1.1.3Gesetzliche Regelungen
Im Arbeitsrecht existiert eine Vielzahl von Gesetzen, die jeweils einzelne Teilaspekte arbeitsvertraglicher Vereinbarungen abdecken. Zu nennen sind insbesondere
•das Arbeitsvertragsrecht, das vor allem in §§ 611a ff. BGB geregelt ist. Daneben können sich auch aus weiteren speziellen Gesetzen Bestimmungen über den Abschluss und den Inhalt von Arbeitsverträgen ergeben, etwa aus §§ 105 ff. der Gewerbeordnung (GewO). Hinsichtlich der Formanforderungen sind bspw. das Teilzeit- und Befristungsgesetz (TzBfG) sowie das Nachweisgesetz (NachwG) zu beachten; im Rahmen der Vertragserfüllung kommen die Regelungen des Bundesurlaubsgesetzes (BUrlG), des Entgeltfortzahlungsgesetzes (EFZG) oder im Fall der Beschäftigung behinderter Menschen auch das SGB IX zum Tragen. Bei der Beendigung des Vertrags können sich insbesondere aus dem Kündigungsschutzgesetz (KSchG) Besonderheiten ergeben.
•Sonderregelungen für bestimmte Arbeitnehmergruppen finden sich bspw. für kaufmännische Angestellte im Handelsgesetzbuch (HGB) oder für Auszubildende im Berufsbildungsgesetz (BBiG) und dem Altenpflegegesetz (AltPflG).
•die Vorschriften des Arbeitnehmerschutzes. Sie sind etwa im Arbeitsschutzgesetz (ArbSchG), im Mutterschutzgesetz (MuSchG), dem Jugendarbeitsschutzgesetz (JArbSchG), dem SGB IX (in Bezug auf schwerbehinderte Arbeitnehmer) oder im Arbeitszeitgesetz (ArbZG) zu finden.
•das kollektive Arbeitsrecht (zum Begriff Kap. 5). Es ist vor allem im Tarifvertragsgesetz (TVG) und dem Betriebsverfassungsgesetz (BetrVG), aber auch in weiteren Gesetzen geregelt.
•die Regelungen über das Verfahren vor den Arbeitsgerichten (Kap. 7) finden sich v.a. im Arbeitsgerichtsgesetz (ArbGG) und ergänzend in der Zivilprozessordnung (ZPO).
1.1.4Rechtsverordnungen
Rechtsverordnungen wirken – wie Gesetze – unmittelbar und zwingend für alle. Sie werden von der Bundes- oder Landesregierung oder einzelnen Ministerien auf der Grundlage einer gesetzlichen Ermächtigungsgrundlage erlassen (Art. 80 Abs. 1 GG). Rechtsverordnungen finden sich insbesondere auf dem Gebiet der Arbeitssicherheit, etwa die Arbeitsstättenverordnung (ArbstättV) oder die Kinderarbeitsschutzverordnung (KindArbSchV).
1.1.5Tarifverträge
Tarifverträge sind sog. Kollektivvereinbarungen, d. h. Verträge zwischen Tarifpartnern. Sie werden von den Gewerkschaften mit den Arbeitgeberverbänden für große Tarifgebiete als sog. „Flächentarifverträge“ (z. B. ganze Bundesländer) oder mit einzelnen Arbeitgebern als sog. „Firmen“- bzw. „Haustarifvertrag“ abgeschlossen. Da die Tarifverträge oftmals gesetzliche Bestimmungen verdrängen (§ 4 Abs. 1 und § 5 Abs. 4 des TVG sowie Kap. 1.1.11) und sich unmittelbar auf die Ausgestaltung der individuellen Arbeitsverhältnisse auswirken, besitzen sie eine große praktische Relevanz.
Gerade im Bereich der Sozialen Arbeit spielen Tarifverträge eine sehr große Rolle: Viele SozialarbeiterInnen und SozialpädagogInnen, aber auch ErzieherInnen, PädagogInnen oder PsychologInnen sind in Landesbehörden (z. B. den Versorgungs- oder Integrationsämtern) tätig oder bei den sozialen Diensten, Jugend- oder Gesundheitsämtern der Kommunen (Kreisfreie Städte, Landkreise, Gemeinden etc.) angestellt. Für sie gelten die Tarifverträge der Länder (TV-L) bzw. der Tarifvertrag für den öffentlichen Dienst (TVöD). In der Praxis sind nur die kleinen und kleinsten Träger (z. B. ein örtlicher Kita-Träger in der Form eines eingetragenen Vereins) tarifvertraglich ungebunden.
Das kirchliche Selbstbestimmungsrecht (Kap. 6.2) erlaubt den kirchlichen Trägern, eigene arbeitsrechtliche Regelungen für die bei ihnen beschäftigten Arbeitnehmer zu schaffen. Bei diesen sog.. „Arbeitsvertragsrichtlinien“ (AVR, Kap. 6.2) handelt es sich rechtlich gesehen allerdings nicht um Tarifverträge, sondern um Allgemeine Geschäftsbedingungen i.S.v. § 305 ff. BGB (Kap. 2.1.3).
1.1.6Betriebsvereinbarungen
Zu den Kollektivvereinbarungen gehören auch die Betriebsvereinbarungen. Diese sind quasi ein „Parallelinstitut“ zum Tarifvertrag, gelten aber nicht für eine ganze Branche, sondern nur auf der Ebene einzelner Betriebe, Unternehmen oder Konzerne (in letzteren Fällen spricht man von Gesamt- bzw. Konzernbetriebsvereinbarungen). Wegen ihrer unmittelbaren und zwingenden Wirkung (§ 77 Abs. 4 BetrVG) werden Betriebsvereinbarungen auch gelegentlich als „das Betriebsgesetz“ bezeichnet: Betriebsvereinbarungen können Rechte und Pflichten für die Arbeitnehmer eines Betriebs begründen, die nicht im Rahmen von einzelnen Arbeitsverträgen oder einseitigen Arbeitgeberweisungen zu Ungunsten der Arbeitnehmer abbedungen werden können.
Vertragspartner solcher Vereinbarungen sind aufgrund ihrer Betriebsbezogenheit immer nur ein einzelner Arbeitgeber und der jeweilige Betriebsrat (bzw. der Gesamt- oder Konzernbetriebsrat).
Die gesetzliche Grundlage für Betriebsvereinbarungen findet sich in § 77 BetrVG; sie sind nach § 77 Abs. 2 BetrVG zwingend schriftlich abzuschließen.
Betriebsvereinbarungen kommen immer dort in Betracht, wo im Betriebsverfassungsgesetz Mitbestimmungsrechte des Betriebsrates vorgesehen sind.
Beispiel
Heimträger A hat mit dem Betriebsrat schriftlich vereinbart, dass künftig jeder Beschäftigte, der an Heiligabend arbeiten muss, dafür an Silvester freinehmen kann und umgekehrt. Hier ist eine Betriebsvereinbarung abgeschlossen worden (§ 87 Abs. 1 Nr. 2 BetrVG). Gleiches wäre der Fall, wenn der Träger einer Erziehungsberatungsstelle im Einvernehmen mit dem Betriebsrat die Regelarbeitszeit für Silvester und den Heiligen Abend auf jeweils vier Stunden festlegt. Auch die Einführung der gleitenden Arbeitszeit, einer elektronischen Arbeitszeiterfassung oder die zeitliche Lage der einzelnen Schichten im Schichtdienst können durch Betriebsvereinbarung festgelegt werden.
Je nach Art der Mitbestimmung (Kap. 5.3.1) können Betriebsvereinbarungen durch den Betriebsrat (ggf. über eine Einigungsstelle – hierzu §§ 76 und 87 Abs. 2 BetrVG) u.U. gegen den Willen des Arbeitgebers durchgesetzt, jedenfalls aber freiwillig vereinbart werden (z. B. § 88 BetrVG).
Betriebsvereinbarungen enden automatisch, wenn sie von den Betriebsparteien nur befristet abgeschlossen oder einvernehmlich aufgehoben bzw. abgeändert wurden. Zudem können sie einseitig durch Arbeitgeber oder Betriebsrat gekündigt werden. Ist eine Betriebsvereinbarung abgelaufen, so gelten die darin enthaltenen Regelungen in Angelegenheiten der zwingenden Mitbestimmung (v.a. solche gemäß § 87 BetrVG) so lange weiter, bis sie durch eine andere Abmachung ersetzt werden (sog. „Nachwirkung“, § 77 Abs. 6 BetrVG).
1.1.7Arbeitsvertrag
Besonders bedeutsam für die im konkreten Einzelfall maßgeblichen Regularien ist natürlich der jeweilige, zwischen Arbeitgeber und Arbeitnehmer geschlossene Arbeitsvertrag. Durch dessen Abschluss entsteht das Arbeitsverhältnis. Die für dieses geltenden gesetzlichen Rahmenbedingungen (§§ 611a ff. BGB) sind allerdings nur sehr knapp: Das BGB enthält nur Mindeststandards, die zwingend zu beachten sind. Wegen der grundgesetzlich verbürgten Vertragsfreiheit steht es den Parteien des Arbeitsverhältnisses frei, alle weiteren Details nach ihren individuellen Anforderungen, Bedürfnissen und Wünschen auszugestalten. Da das Arbeitsrecht aber auch dem Schutz der Interessen von Arbeitnehmern dient, gibt es eine Reihe von Vorschriften, die der Vertragsfreiheit aus Gründen des Sozial- und des Individualschutzes Grenzen setzen.
Beispiel
Im Arbeitsvertrag wird eine längere Kündigungsfrist festgelegt, als in § 622 BGB vorgesehen. Das ist zulässig. Eine kürzere als die gesetzliche Kündigungsfrist wäre dagegen nicht mit dem Schutzzweck des Arbeitsrechts vereinbar (§ 622 Abs. 5 BGB) – schließlich ist es für Arbeitnehmer typischerweise von existenzieller Bedeutung, dass sie sich auf den Bestand des Arbeitsverhältnisses als ihrer „Einkommensquelle“ verlassen können. Dieses soll daher nicht „von heute auf morgen“ einseitig durch den Arbeitgeber beendet werden können.
1.1.8Betriebliche Übung
Eine sog. „betriebliche Übung“ kann in Bezug auf Leistungen des Arbeitgebers, aber auch hinsichtlich der Pflichten von Arbeitnehmern entstehen, die im Arbeitsvertrag nicht ausdrücklich geregelt sind. Dies gilt vor allem im Bereich freiwilliger Zusatzleistungen durch Arbeitgeber: Nach dreimaliger freiwilliger Gewährung einer Gratifikation ohne Freiwilligkeitsvorbehalt entsteht beim Arbeitnehmer laut der Rechtsprechung ein schützenswertes Vertrauen, dass diese Leistung auch in Zukunft erfolgen wird. Obwohl es sich eigentlich um einen Fall der sog. „Vertrauenshaftung“ handelt, konstruiert das BAG das Zustandekommen der betrieblichen Übung im Wege des Vertragsschlusses: Das wiederholte Verhalten des Arbeitgebers wird als Vertragsangebot angesehen, dessen ausdrückliche Annahme durch den Arbeitnehmer nicht erforderlich ist (§ 151 BGB).
Beispiel
Im Arbeitsvertrag von Heilerziehungspflegerin A ist ein Weihnachtsgeld nicht vereinbart. Gleichwohl erhält sie in drei aufeinander folgenden Jahren eine Weihnachtsgratifikation ausgezahlt auf der Grundlage einer E-Mail mit dem Wortlaut: „Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir freuen uns, Ihnen auch dieses Jahr wieder ein Weihnachtsgeld in Höhe von 500 EUR auszahlen zu können.“ Hier ist eine betriebliche Übung entstanden. Mitarbeiterin A hat also auch im kommenden Jahr einen Rechtsanspruch auf die Bezahlung von Weihnachtsgeld.
Gegenbeispiel: Arbeitgeber A bewilligt seinen Beschäftigten ein Urlaubsgeld. Vor dessen Auszahlung erhält jeder Arbeitnehmer einen Brief mit dem Wortlaut: „… können wir ihnen aufgrund unserer guten finanziellen Entwicklung ein Urlaubsgeld von 1.000 EUR auszahlen. Wir weisen aber darauf hin, dass es sich hierbei um eine rein freiwillige Leistung handelt, mit der keinerlei Ansprüche auf erneute Auszahlung in den kommenden Jahren verbunden sind.“ Hier entsteht kein Anspruch aus betrieblicher Übung, da ein Freiwilligkeitsvorbehalt erklärt wurde. Aus diesem wird deutlich, dass sich der Arbeitgeber rechtlich nicht für die Zukunft binden wollte. Das ist zulässig. Es besteht daher kein Rechtsanspruch der Arbeitnehmer auf Auszahlung eines Urlaubsgeldes im Folgejahr.
Will der Arbeitgeber eine bestimmte Gratifikation künftig nicht weiter gewähren, so kann er dies laut der neueren Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts nur über eine Änderungskündigung (Kap. 4.4) oder durch eine entsprechende einvernehmliche Vereinbarung mit dem Arbeitnehmer erreichen.
1.1.9Gesamtzusage
Während die betriebliche Übung durch Wiederholung schlüssigen Arbeitgeberverhaltens entsteht, kann sich ein Arbeitgeber auch durch eine einmalige einseitige Erklärung (bspw. durch ein E-Mail-Rundschreiben, einen Aushang am „schwarzen Brett“ oder eine Info im betrieblichen Intranet) rechtlich binden. Voraussetzung hierfür ist, dass er ein Leistungsversprechen bekannt gibt und dabei keinen Freiwilligkeitsvorbehalt macht. Die Arbeitnehmer müssen das in der Gesamtzusage liegende Angebot des Arbeitgebers wegen § 151 BGB nicht ausdrücklich annehmen.
Beispiel
Der Geschäftsführer eines Senioren- und Pflegeheims gibt während seiner „Jahresabschlussrede“ im Rahmen der Weihnachtsfeier bekannt, dass er „ab sofort immer ein Weihnachtsgeld in Höhe eines halben Monatsgehalts ausbezahlen wird“. Hier ist eine Gesamtzusage erfolgt. Mitarbeiterin A kann aufgrund dieser ab sofort jedes Jahr die Auszahlung von Weihnachtsgeld fordern und ggf. gerichtlich durchsetzen.
1.1.10Direktionsrecht des Arbeitgebers
Das Direktionsrecht („Weisungsrecht“) des Arbeitgebers ergibt sich aus § 611a Abs. 1 S. 2 BGB und § 106 Gewerbeordnung (GewO), aber auch ganz allgemein aus dem Wesen des Arbeitsvertrags, das gerade durch die persönliche Abhängigkeit des Arbeitnehmers und dessen Eingliederung in den Betrieb gekennzeichnet ist. Das Direktionsrecht erstreckt sich auf die Durchführung des Arbeitsverhältnisses, also auf den Inhalt sowie Zeit und Ort der konkreten Tätigkeit des Arbeitnehmers (§ 611a Abs. 1 S. 2 BGB). Es gibt dem Arbeitgeber somit die Möglichkeit, die im Arbeitsvertrag in aller Regel nur allgemein bezeichneten beruflichen Aufgaben eines Beschäftigten („Heilerziehungspfleger“, „Gruppenleitung in den Erzieherischen Hilfen“, „Fachberaterin“, „Streetworker“) zu konkretisieren und zu bestimmen, welche Aufgaben der Beschäftigte genau zu übernehmen und zu erledigen hat (Kap. 3.4.2).
Beispiel
Sozialarbeiterin S wird im Jugendamt laut Arbeitsvertrag als „Fachkraft im Bereich der Allgemeinen Sozialen Dienste“ beschäftigt. Das Direktionsrecht des Arbeitgebers ermöglicht der Amtsleitung, die S künftig je nach Bedarf für die „Erzieherischen Hilfen, Buchstabe A bis C“, die Erziehungsberatung, die Trennungs- und Scheidungsberatung, die „präventiven Jugendhilfeaufgaben in den Stadtteilen Ostvorstadt und Zentrum Ost“ oder andere Aufgaben(teil)bereiche einer solchen Fachkraft einzusetzen.
1.1.11Verhältnis der Rechtsquellen untereinander
In der Praxis sind oftmals mehrere der vorgenannten Rechtsquellen auf einen Sachverhalt anwendbar, führen aber zu unterschiedlichen oder sich möglicherweise sogar widersprechenden Rechtsfolgen.
Beispiel
Urlaubsregelungen können sich im Arbeitsvertrag, dem einschlägigen Tarifvertrag und dem Bundesurlaubsgesetz finden.
Deshalb gibt es Regeln, die festlegen, welche Norm von einer anderen Norm verdrängt wird und welche Normen vorrangig sind:
•Laut dem „Rangprinzip“ hat grundsätzlich die ranghöhere Norm Vorrang vor der rangniederen Norm. Hierbei herrscht ein festes Rangverhältnis, das sich aus der Wertigkeit der jeweiligen Norm ergibt. Dieses kann aus der in der rechtswissenschaftlichen Literatur verwendeten „Normenpyramide“ (Abb. 2) abgelesen werden.
Beispiel
Das Europarecht (Kap. 1.1.1) hat im Arbeitsrecht oftmals Vorrang vor den nationalen Vorschriften.
Aus dem Tarifvorrang (§§ 77 Abs. 3 und 87 Abs. 1 BetrVG) folgt, dass Tarifverträge grundsätzlich Betriebsvereinbarungen vorgehen. Betriebsvereinbarungen dürfen also keine Arbeitsentgelte und sonstigen Arbeitsbedingungen regeln, die bereits Inhalt oder üblicherweise Gegenstand eines Tarifvertrages sind, sofern dies nicht in einer sog. „Öffnungsklausel“ des Tarifvertrags ausdrücklich gestattet ist. Fällt also bspw. ein Betrieb in den räumlichen, fachlichen und persönlichen Geltungsbereich eines Tarifvertrags, der z. B. einen Jahresurlaub von 30 Tagen vorsieht, dürfen die Betriebsparteien in einer Betriebsvereinbarung keinen weitergehenden Urlaubsanspruch, etwa von 33 Tagen, vorsehen, auch wenn diese Regelung für die Arbeitnehmer des Betriebes günstiger wäre.
Gemäß § 106 Satz 1 GewO reicht das Weisungsrecht des Arbeitgebers nur so weit, wie Gesetz, Tarifvertrag, Betriebsvereinbarung oder Arbeitsvertrag nichts anderes regeln. Deshalb steht das Weisungsrecht in der Normenhierarchie ganz unten.
•Innerhalb einer gleichrangigen Rechtsquelle löst eine spätere Regelung eine frühere Regelung ab (sog. „Ordnungsprinzip“).
Beispiel
Bis zum Jahr 2001 hatten Arbeitnehmer einen Rechtsanspruch auf Erziehungsurlaub, der sich aus § 15 des Bundeserziehungsgeldgesetzes (BErzGG) ergab. Diese Regelung wurde durch des Bundeselternzeit- und Elterngeldgesetz (BEEG) abgelöst. Daher besteht nun kein Anspruch auf Erziehungsurlaub mehr – Eltern haben nun einen Anspruch auf Elternzeit (§ 15 BEEG), deren Ausgestaltung völlig anderen gesetzlichen Kriterien unterliegt als der im früheren Gesetz geregelte Erziehungsurlaub.
•Bei gleichrangigen Rechtsquellen gilt das „Spezialitätsprinzip“, d. h. die speziellere Regelung geht der allgemeinen vor.
Beispiel
Während das Arbeitszeitgesetz (ArbZG) eine wöchentliche Arbeitszeit von 48 Stunden bei einer Sechs-Tage-Woche vorsieht (§ 3 ArbZG), bestimmen §§ 8 und 15 des Jugendarbeitsschutzgesetzes (JArbSchG) für Jugendliche eine wöchentliche Arbeitszeit von 40 Stunden bei einer Fünf-Tage-Woche. Beide Gesetze sind in Kraft und gleichrangig, das JArbSchG ist jedoch für jugendliche Arbeitnehmer (zum Begriff siehe § 2 Abs. 2 JArbSchG) die speziellere Norm und hat für diese Personengruppe Vorrang, da der Gesetzgeber Jugendlichen einen weiter gehenden Schutz gewähren will als „normalen“ Arbeitnehmern.
•Vom Rangprinzip und dem Ordnungsprinzip gibt es die Ausnahme des sog. „Günstigkeitsprinzips“. Dieses Prinzip, das etwa in § 4 Abs. 3 TVG oder § 13 Abs. 1 S. 3 BUrlG zum Ausdruck kommt, besagt, dass entgegen den vorstehenden Ausführungen eine rangniedere die ranghöhere Regelung verdrängen kann, wenn diese für den Arbeitnehmer günstiger ist.
Beispiel
Verpflichtet sich ein Arbeitgeber dazu, einem Arbeitnehmer ein deutlich über dem Tariflohn liegendes Arbeitsentgelt zu bezahlen, so ist diese Regelung aus dem (an sich „rangniederen“) Arbeitsvertrag für den Arbeitnehmer günstiger als die Bestimmung des einschlägigen ranghöheren Tarifvertrags. Gleichwohl ist die nachrangige vertragliche Regelung aufgrund des Günstigkeitsprinzips die entscheidende Bestimmung. Der Arbeitnehmer kann also den darin vereinbarten höheren Lohn verlangen.