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Eine Stunde später saß Annie in der St. Materiana’s Kirche. Früher war sie mit ihren Eltern und Sandy oft zum Sonntagsgottesdienst gekommen. Doch nach ihrem Tod gehörte diese Tradition ebenfalls der Vergangenheit an. Trotzdem empfand sie Trost, weil der Weihrauch-Duft so viel Vertrautes hatte. Die Heiligenbilder mit den kitschigen goldenen Rahmen, die bunten Glasfenster, das große Kruzifix nahe dem Altar oder die Bank, auf der Sandy und sie mit einer Nagelfeile ihre Initialen eingeritzt hatten. „Was willst du mir noch antun, Gott?“, flüsterte Annie und hörte auf einmal Schritte hinter sich.
„Was für ein seltener Anblick. Du in meinem Gotteshaus?“, hallte es durch das Gemäuer, bevor Jeremy die Bank erreicht hatte. Obwohl Annie ihren Onkel liebte, fühlte sie sich von ihm gestört. Mürrisch rückte sie zur Seite.
Laut schnaufend nahm Jeremy neben ihr Platz. Dabei knarrte die Bank, weil er ein stattliches Gewicht hatte. „Du siehst erbärmlich aus. Geht es deinem Vater schlechter?“
Immer dieselben Fragen, als gäbe es keinen anderen Inhalt in ihrem Leben. Aber gab es den tatsächlich? „Ich habe soeben meinen Job verloren“, platzte sie mit der Neuigkeit heraus und weinte wieder, obwohl sie das nicht wollte. Erst recht nicht den Weinkrampf, der sich einstellte, da Jeremy sie in die Arme nahm und sanft wiegte. Eine väterliche Geste, die unheimlich guttat. So saßen sie eine Weile da, bis sich Annie von ihm löste.
„Es geht schon wieder“, behauptete sie. „Eigentlich sollte ich daran gewöhnt sein, dass mein Leben eine einzige Pechsträhne ist.“ Sie hörte sich nach Selbstmitleid an und ja, momentan tat sie sich verdammt leid!
„Daran sollte sich niemand gewöhnen müssen“, dementierte Jeremy, der in seiner Freizeitkleidung – den blauen Shorts und einem türkisen T-Shirt – eher wie ein Tourist wirkte. Aber heute war Mittwoch und da pflegte er fischen zu gehen. Deswegen umwehte ihn ein strenger Geruch, was Annie jedoch nicht störte. Zu wenig gab es inzwischen, das ihr noch vertraut war.
„Möchtest du mir alles erzählen?“, fragte er in mitfühlendem Ton und lächelte aufmunternd. Ihr Onkel hatte fülliges dunkelblondes Lockenhaar mit grauem Ansatz, grüne Augen wie Annie und ein wettergegerbtes Gesicht wie es ihr Grandpa hatte. An den Wangen zeigten sich viele rote Äderchen und die buschigen Augenbrauen waren zusammengewachsen. Obwohl er auf den ersten Blick nicht viel Ähnlichkeit mit der Mutter besaß, so war sie auf dem zweiten Blick doch erkennbar. Erst recht, wenn er lächelte. „Also?“ Jeremy schaute sie abwartend an.
Annie atmete tief ein, dann berichtete sie, was sich zugetragen hatte. Darüber zu reden tat zwar gut, es hielt ihr aber noch deutlicher vor Augen, in welcher Misere sie steckte.
Als sie geendet hatte, schwieg Jeremy eine Weile.
„Immerhin hat dich der Bursche davonkommen lassen. Demnach ist nicht alles schiefgelaufen. Für alles andere wird sich ebenfalls eine Lösung finden“, redete er Annie schließlich gut zu und tätschelte ihre Hand. „Weißt du, manchmal würde ich deinen Vater am liebsten mit dem Papamobil überrollen. Ein paar Mal hintereinander. Kreuz und quer, von links nach rechts und zum Schluss auf ihm parken.“ Entschuldigend blickte er zum Altar, auf dem einige Kerzen brannten. „Du musstest seinetwegen zu viel aufgeben. Dabei sehe ich immer noch das kleine Mädchen vor mir, das ihren Großvater ständig im Geschäft besuchte.“ Annies Herz zog sich zusammen. „Dad hielt große Stücke auf dich.“
„Umso größer wäre seine Enttäuschung, dass ich seinen Lebenstraum nicht weiterführe.“
„Die Ausbildung als Schmuckdesignerin hast du mit Bravour geschafft. Alles andere liegt leider nicht in deiner Macht, Annie.“ Er seufzte. „Wäre dein Vater nicht ein solcher Trunkenbold, müssten wir erst gar nicht darüber reden. Das Geschäft würde mit dir als Chefin bestimmt florieren, denn du hast eindeutig das Talent deines Großvaters geerbt. Im Gegensatz zu mir. Zwar bin ich ein As im Predigen, mit Kunst habe ich hingegen nichts am Hut. Dahingehend wurde meine Schwester reicher beschenkt als ich. Sie wartet übrigens förmlich darauf, dass du dich zur Abwechslung bei ihr meldest.“
„Warum sollte ich?“
„Weil sie deine Mutter ist?“
„Das hat sie nicht daran gehindert, mich zu verlassen.“
„Sie hat deinen Dad verlassen, nicht ihr Kind.“
„Augenauswischerei. Es kommt beides auf dasselbe heraus.“
„Mary hat sich bestimmt nicht mit Ruhm bekleckert“, räumte Jeremy ein. „Doch über mangelnde Liebe konntest du dich nie beklagen.“ Annie musste ihrem Onkel innerlich beipflichten. Wenngleich zähneknirschend, weil sich ihr schlechtes Gewissen meldete. „Jetzt wäre deine Mom an der Reihe. Statt jedes Gespräch abzublocken, solltest du dir anhören, was sie zu sagen hat.“ Er schwieg erneut, als ob er seine Worte wirken lassen wollte. „Sicher, ihr Handeln mag der Auslöser für eure Situation gewesen sein, doch das hat Mary bestimmt zuletzt gewollt. Gib ihr eine Chance. Deine Mutter leidet.“
„Du verteidigst Ehebruch?“, nagelte Annie ihn fest.
„Ich kenne die zehn Gebote, falls du darauf anspielen willst und natürlich missbillige ich als Pfarrer, was sie getan hat. Als Bruder weiß ich allerdings, wie unglücklich sie war. Es begann mit Sandys Tod. Dein Dad stürzte sich in seine Arbeit als Baumeister, deine Mom wandte sich der Kunst zu und du hast an der Schwelle des Erwachsenwerdens gestanden. Ein junger Mensch, dessen Leben weiterging im Gegensatz zu dem deiner Eltern. Sie schwiegen das Thema buchstäblich tot. Damit begann ihre Entfremdung, die schließlich in dieser Affäre endete.“
„Demnach kann sich jeder nach einem Schicksalsschlag in fremden Betten tummeln und ist über alle Zweifel erhaben? Bloß, weil er einen triftigen Grund dafür hat?“
Jeremy lächelte nachsichtig. „Ich sehe schon, du willst mich nicht verstehen. Trotzdem solltest du darüber nachdenken, ob du deine Mom genauso verurteilen würdest, wenn dein Vater nicht zu trinken angefangen hätte.“
„Hier geht es aber nicht um hypothetische Fragen, sondern um die Realität und die lässt sich nicht schönreden. Weder mit Verständnis für Mom noch mit ein paar guten Worten.“
„Du bedauerst deinen Vater, das leuchtet mir ein. Immerhin lebst du mit ihm zusammen und musst das Elend jeden Tag ertragen. Doch so leid mir Joseph tut, vergeude nicht deine Zeit und opfere dich für ihn auf, denn das würdest du eines Tages bereuen.“
„Das sagt sich so leicht.“
„Mag sein, allerdings sehe ich viel von deiner Mutter in dir. Sie heiratete deinen Vater, weil sie schwanger war. Ihren Traum von einem Kunststudium gab sie dafür auf. Aber wenn etwas so lange präsent war, rächt sich das eines Tages. Weil man irgendwann das Gefühl hat, etwas versäumt zu haben. Womöglich hätte sich deine Mom in ihrer Ehe verwirklicht, nur hat leider jede Miesmuschel mehr Feingefühl als dein Vater. Trotzdem hat sie ihn geliebt. Sehr sogar. Vielleicht liebt sie ihn noch immer.“
Abrupt wandte Annie den Kopf. „Wie kommst du darauf?“
Ihr Onkel räusperte sich. „Nun, sie spricht oft von Joseph und fragt nach ihm. Es ist offenkundig, dass sie sich große Sorgen um euch macht. Mary würde euch auch finanziell gern unter die Arme greifen. Jetzt kann sie es sich schließlich leisten. Ihre Bilder sind in aller Munde.“
„Schön für Mom. Aber wir schaffen es sicher ohne ihre Almosen.“
„Das sind keine Almosen. Sie will vor allem dir helfen.“
„Nein, Jeremy, sie möchte sich mit Geld meine Zuneigung zurückkaufen.“
„Du hast denselben Stolz wie dein Vater“, wurde Jeremy etwas forscher. „Tragischerweise scheint ihr beide zu vergessen, dass ihr ihn euch nicht leisten könnt. Ich an deiner Stelle würde Mary anrufen und sie bitten, euch beizustehen. Wie ich sie kenne, stünde sie bereits morgen vor der Tür. Wer weiß, womöglich würde sie es sogar schaffen, Joseph von der Flasche wegzubringen.“
„Dad würde Mutter sofort zurücknehmen, so sehr liebt er sie“, erinnerte sich Annie an ihr Gespräch in der Küche. „Wenn Mom ihn allerdings so sehen müsste … er würde sich in Grund und Boden schämen. Dad, ein Schatten seiner selbst und sie, die sich mitten im zweiten Frühling befindet. Der Schuss würde nur nach hinten losgehen.“ Annie richtete sich auf. „Beenden wir das unsinnige Gespräch. Die beiden lassen sich scheiden und damit basta.“
„Apropos Scheidung“, wurde Jeremy hektisch, „in einer Stunde erwarte ich ein junges Paar zum Traugespräch.“ Schwerfällig erhob er sich. „Melde dich, wenn du mich brauchst … oder Geld. Viel habe ich nicht, doch es reicht, um euch eine Weile über Wasser halten zu können. Vom Geschäft ganz zu schweigen. Mein Dad hat es dir vermacht und nicht der Bank. Also, wenn ich etwas tun kann, lass es mich wissen.“
2. Kapitel

Das fade Mittagessen lag Jack noch jetzt im Magen. Gebackene Makrele mit Stachelbeersauce gehörte angeblich zu den Spezialitäten Cornwalls und hatte sich vorzüglich angehört. Nur wusste der Koch scheinbar nicht, wie man die Speise schmackhaft zubereitete. Abgesehen davon war das Frühstück ebenfalls ein Hohn gewesen. Dünner Kaffee, harte Brötchen, ein Butterstückchen und Marmelade. Es würde dauern, bis seine Geschmacksknospen nicht mehr beleidigt waren, allerdings wunderte ihn in diesem Hotel gar nichts mehr.
Genervt starrte Jack auf seine Unterlagen. Es gelang ihm nicht, sich darauf zu konzentrieren. Dabei hatte er sich extra in den kleinen Saal gesetzt, weil dieser weniger frequentiert war als das von Küchengerüchen verpestete Restaurant. Vor zehn Minuten war jedoch eine Jugendgruppe eingetroffen. Nun lümmelten einige von ihnen in den unbequemen himmelblauen Stoffstühlen mit weißen Sternchen und unterhielten sich lautstark. Dazwischen hörte man ständig das Läuten von Handys oder schallendes Gelächter.
„Tut mir leid, ich wurde aufgehalten“, erklang Michaels krächzende Stimme, der seine gelbe Krawatte lockerte und sich aufatmend in den Stuhl gegenüber plumpsen ließ, als hätte er einen Marathon hinter sich.
„Ich hoffe, deine Verspätung hat einen guten Grund“, begrüßte Jack ihn nicht gerade freundlich und sah sich in Gedanken bereits in der klimatisierten Limousine sitzen, die geradewegs auf das gebuchte Fünf-Sterne-Hotel zufuhr.
„Wie man es nimmt.“ Michael schaute ihn an, als würde er abwägen, was er ihm zumuten konnte und was nicht. „Der Mechaniker hat von ein paar Tagen gesprochen“, ließ er schließlich die Katze aus dem Sack.
„Ein paar Tage?“, entfuhr es Jack. „So lange halte ich es in diesem Kaff nicht aus. Kannst du ihm keinen Druck machen?“
„Was denkst du, was ich getan habe? Mein Mund ist trocken wie die Sahara, so sehr habe ich auf den Mann eingeredet“, verteidigte sich Michael. „Bedauerlicherweise ist er Südländer, wenn du verstehst, was ich meine. Deshalb würde ich eher in Wochen denken als in Tagen.“ Michaels Stirn glänzte. Seit drei Jahren arbeitete er für Flatley & Son. Die Firma hatte ihren Sitz in New York. Jacks Vater hatte sie gegründet und zu einem der erfolgreichsten Unternehmen Amerikas aufgebaut. Selbstredend, dass sein Dad nach wie vor mitmischte, trotz seiner fünfundsechzig Jahre. Jack konnte es nur recht sein, da er noch viel von ihm lernen konnte. Zudem wurde sein Dad nicht müde, neue Ideen zu entwickeln. So auch die, ihren Radius zu erweitern und sich in Europa etwas aufzubauen. Kurz zuvor hatte er Jack zu seinem Teilhaber gemacht und vertraute ihm nun dieses riesige Projekt an.
„Dann sieh zu, dass wir eine andere Limousine bekommen“, forderte Jack. Er hasste nichts mehr als Dinge, die er nicht beeinflussen konnte. „In zwei Stunden soll ich bei Mister Winter sein. Wenn ich ihn wieder vertröste, springt er womöglich ab.“
„Vor morgen früh hat keine einzige Leihfirma in der Gegend ein Auto frei. Ich habe alle abgeklappert.“
„Was ist mit dem Ferrari, den wir vor einem halben Jahr in London bestellt haben?“
„Den kriegst du frühestens in zwei Wochen.“
„Und jetzt?“, fragte Jack ohne jegliches Verständnis. „Soll ich etwa mit dem Bus nach St. Agnes fahren?“
„Das wäre zumindest eine Idee.“ Michael grinste.
„Ich bin nicht in Stimmung für deine albernen Witze. Außerdem habe ich mein Leben lang noch nie einen Bus von innen gesehen und denke nicht daran, jetzt damit anzufangen.“
„Schon gut.“ Michael hob abwehrend die Hände. Sein goldener Ehering blitzte auf. „Mir gegenüber musst du nicht den hartgesottenen Geschäftsmann raushängen lassen.“
Jacks Laune stieg wieder. Er wusste, dass ihm sein Ruf vorauseilte und in geschäftlichen Angelegenheiten kannte er kein Pardon. Das Leben war zu kurz, um sich mit halben Sachen zu begnügen. Deswegen kämpfte er notfalls mit harten Bandagen. Insofern fühlte er sich von Michaels Aussage geschmeichelt. „Wie ich dich kenne, hast du bestimmt eine andere Lösung parat“, meinte er und schaute zu einem dunkelhaarigen Mädchen, das sich auf den Schoß eines pummeligen Jungen mit Pusteln im Gesicht setzte, der seine Hand besitzergreifend auf ihre Oberschenkel legte. Die Kleine war vermutlich im ähnlichen Alter wie seine Tochter, aber bis zu den Zähnen geschminkt. Ihr knapper schwarzer Minirock ließ wenig Spielraum für Fantasie und das bauchfreie rote Top musste früher ein BH gewesen sein, der nach dem Waschen aus dem Leim gegangen war. „Hast du eigentlich Leni gesehen?“
„Sie sitzt in der Lobby und spielt auf ihrem Handy.“
Beruhigt lehnte sich Jack zurück. „Also, was ist nun? Wie komme ich auf schnellstem Weg zu Mister Winter?“, verlagerte sich sein Interesse wieder auf das Geschäftliche.
Michael schälte sich aus seiner grauen Anzugjacke, die er auf den leeren Stuhl neben sich warf. „Der Hotelchef würde dir seinen Geländewagen leihen“, ließ er verlauten.
„Tatsächlich?“ Wenn das Fahrzeug im ähnlichen Zustand war wie das Hotel, würden sie es keine zehn Meter weit schaffen, obwohl es vermutlich die ärgste Schrottkiste nicht mit der Karre dieser Annie aufnehmen konnte.
„Worüber amüsierst du dich?“, erkundigte sich Michael.
Jack schaute ihn verwirrt an. „Über nichts. Warum?“
„Du schmunzelst.“
„Ich schmunzle nicht.“ Jack verdrängte den Gedanken an die Frau mit dem komischen Auto und der noch komischeren Uhr. „Vielmehr sondiere ich die Lage. Hast du dir den Wagen angesehen? Taugt er etwas?“
„In dieser Hinsicht lässt sich der Hotelchef nicht lumpen. Das Feinste vom Feinsten, sage ich dir. Deswegen ist der Wagen natürlich nicht umsonst“, druckste Michael auf einmal herum, beugte sich vor – wodurch der Tisch in leichte Schieflage geriet – und spielte mit dem Salzstreuer, in dem fast nur Reiskörner zu sehen waren. „Pro Tag verlangt er fünfhundert Pfund.“
„Das ist Wucher“, empörte sich Jack. „Du hast diesem Halsabschneider hoffentlich die Meinung gesagt.“
„Wir haben keine andere Wahl, und es ist ja nicht so, als könntest du dir die Summe nicht leisten. Die Hauptsache ist doch, dass du den Termin mit Mister Winter erfolgreich hinter dich bringst.“
„Das Geld ist nicht mein Problem. Ich mag es diesem Harry nur nicht in den gierigen Rachen werfen. Er ist nicht gerade ein Sympathieträger.“
Michael schob den Salzstreuer neben den Aschenbecher mit roter Werbeaufschrift und musterte Jack. „Sieh an. Du vermischst Persönliches mit Geschäftlichem.“
„Das mache ich nicht.“
„Doch, das tust du“, blieb Michael grinsend bei seiner Meinung.
„Und wenn schon. Ein geliehenes Fahrzeug ist kein Millionengeschäft. Deshalb darf ich mir etwas menschliche Regung durchaus leisten.“ Schwungvoll schlug Jack die Unterlagenmappe zu. „Der Vertrag ist in Ordnung. Jetzt fehlt lediglich die Unterschrift von Mister Winter.“ Im Geist sah Jack das Küstendorf bereits vor sich. Mit einer beeindruckenden Skyline, bunten Leuchtreklamen, einem Hafen für millionenschwere Yachten, Shopping-Malls und spiegelverglasten Hochhäusern.
„Ach ja, was ich noch fragen wollte“, grätschte sich Michael in seine verheißungsvollen Gedanken, „an der Limousine ist eine Beule. Hast du eine Ahnung, wieso?“
„Eine Frau ist mit ihrer Autotür dagegen gekracht.“ Eigentlich war diese Annie eine aparte Erscheinung. Langes dunkelblondes Haar, grüne Augen und vorwitzige Sommersprossen prägten ihr Gesicht mit der hübschen Sommerbräune. Trotz ihrer einfachen Jeans und dem T-Shirt mit V-Ausschnitt wirkte sie äußerst anziehend. Zumindest bis sie den Mund aufmachte. Diese Frau war ziemlich schlagfertig und kratzbürstig. Obendrein schien sie sein Reichtum nicht zu beeindrucken. Das war ihm bei Frauen noch nie passiert. „Den Schaden nehme ich auf meine Kappe.“
Michael stutzte. „Ich dachte, sie ist schuld.“
„Ist sie auch.“
Ein Schatten der Erkenntnis huschte über das Gesicht seines Freundes. „Ich verstehe. Sie erinnert dich an Carol.“
Jacks Laune sank sofort auf den Gefrierpunkt. „Kein Stück tut sie das“, dementierte er lauter als beabsichtigt, wodurch es im Raum wie aufs Stichwort still wurde. In der nächsten Sekunde hatten die Jugendlichen wieder ihr Interesse verloren und unterhielten sich lautstark wie zuvor. „Weder äußerlich noch charakterlich“, fügte Jack hinzu. „Deswegen lass die blöden Anspielungen. Außerdem haben wir Wichtigeres zu tun und ich für meinen Teil stelle mir lieber weiterhin vor, wie St. Agnes in einigen Jahren aussehen wird.“ Er hatte keine Lust, über Carol zu sprechen. Weil er niemandem zeigen wollte, wie es tatsächlich in ihm aussah. Nicht einmal Michael. „Ich sollte das Angebot des Hotelchefs annehmen, obwohl ich ihn runterhandeln werde, denn wie sagt Vater so schön: Mit Geld lässt sich zwar alles lösen, aber wenn es ums Bezahlen geht, muss man um jeden Dollar kämpfen.“
Konsterniert blickte Michael ihn an. „Es gab Zeiten, da hast du anders gesprochen.“
„Die sind vorbei“, sagte Jack bestimmt. „Ich habe mir den Platz in Vaters Firma hart erkämpft.“
„Worin ich dir durchaus zustimme. Trotzdem wirkst du allmählich wie sein Klon.“
Michael nahm sich selten ein Blatt vor den Mund, was Jack bisher nie gestört hatte. Diesmal war es anders. „Ich hatte meine rebellische Zeit und was hat sie mir gebracht? Meine Frau ist tot und ich kann von Glück sagen, dass mich Vater wieder eingestellt hat.“
„Der alte Jack gefiel mir besser, der sich gegen seinen Vater auflehnte und dessen Härte verurteilte. Insbesondere Carol trotz dessen Widerstand geheiratet hat. Du hast dich damals mit dem Handel von Antiquitäten selbstständig gemacht und bist völlig in deiner neuen Aufgabe aufgegangen. Nebenbei hast du …“
„Ich kenne mein Leben“, unterbrach Jack ihn zornig.
„Das mag sein“, blieb Michael hartnäckig. „Aber wo sind deine Ziele geblieben? Deine Werte? Natürlich war es hilfreich, dass du durch den Job aus dem Tief herausgekommen bist, dennoch wage ich zu behaupten, dass du es auch ohne die Hilfe deines Vaters geschafft hättest.“ Michael schüttelte den Kopf. „Sieh dich an, Jack. Seit über zehn Jahren musst du dich beweisen. Hart sein wie dein Vater. Erfolgreich. Ein Leben für die Firma. Privates bleibt völlig auf der Strecke.“ So hatte er Michael noch nie erlebt, der sich regelrecht Luft verschaffte, als würde er das alles schon eine Weile mit sich herumtragen.
„Was mich immerhin zum Teilhaber gemacht hat.“
„Dein Vater besitzt weiterhin die Mehrheit.“
„Reine Formsache“, regte sich Jack auf. „Im Übrigen würde ich dir raten, das Thema zu beenden und erinnere dich gerne daran, dass du ebenfalls für meinen Vater arbeitest.“
„Stimmt. Als dein Assistent und Berater. Allerdings bin ich in erster Linie dein Freund und kenne dich besser als du denkst. Auf Dauer wird dich das nicht glücklich machen. Weil nichts davon echt ist. Du überdeckst deine Trauer um Carol mit Geschäftigkeit. Alles ist geplant. Sogar deine Duschzeiten. Vermutlich, um den Erinnerungen keinen Raum zu lassen. Dabei wäre es so wichtig, die Sache mit Carol zu verarbeiten. Für Leni nicht minder. Oder hast du je mit ihr über ihre Mutter gesprochen?“
„Allmählich gehst du zu weit, Michael“, zischte Jack. „Was ich mit meiner Tochter bespreche, ist allein meine Sache. Außerdem ist sie nicht umsonst mitgekommen. Ich will Zeit mit ihr verbringen.“
„Um Versäumtes nachzuholen?“, traf er Jacks wundesten Punkt. „Du hast mit Leni dasselbe gemacht wie dein Vater mit dir. Bloß mit dem Unterschied, dass auf sie keine Mutter zuhause gewartet hat, die sich die Augen nach ihrem Kind ausheulte.“
„Mutter ist gut damit zurechtgekommen.“
„Dir zuliebe. Allerdings wart ihr euch nie so vertraut wie zu deiner Zeit mit Carol. Deine Mom hat Partei für dich ergriffen und nahm deine Frau mit offenen Armen auf. Seitdem du wieder für deinen Dad arbeitest, bist du derselbe Chauvinist geworden und deckst jede seiner Affären. Was du deiner Mom damit antust, scheint dich nicht zu interessieren. Oft genug hat sie sich bei meiner Mutter ausgeheult. Deshalb und aus anderen Gründen solltest du dein Leben gründlich überdenken, denn über kurz oder lang wird dich dein Vater in seine dunklen Machenschaften ziehen. Etwas, das dich damals aus der Firma trieb.“ Michaels Blick war zwingend, dennoch fuhr er bedachtsamer fort: „Du bist mir wichtig, Jack. Auch Leni und deine Mom, die ich von Kindesbeinen an kenne. Deshalb vergiss nie, dass du nicht wie dein Vater bist, egal wie sehr du ihm nacheifern willst. Einer wie er hat kein Gewissen. Du aber schon und irgendwann kommt man jedem auf die Schliche. Selbst einem Mann wie deinem Dad.“ Michael warf einen schnellen Blick auf die goldene Armbanduhr. „Du solltest langsam los.“
„Der erste vernünftige Satz in den letzten zehn Minuten.“ Abrupt sprang Jack hoch und nahm die Mappe an sich. Die Kanten drückten in die Innenflächen seiner Hände. „Ich melde mich, sobald die Sache unter Dach und Fach ist. Leni nehme ich übrigens mit.“ Beinahe fluchtartig verließ Jack den Saal und als er seine Tochter in der hellerleuchteten Lobby erblickte, blieb er neben der verstaubten Plastikpalme stehen, die den halben Lift verdeckte. Leni starrte hochkonzentriert auf das Handy und nagte an ihrer Unterlippe. Die neongelbe Latzhose und das neonpinke Shirt gehörten seit kurzem zu ihren Lieblingsoutfits. Unlängst hatte sie die Sachen in einem Karton am Dachboden gefunden. Eigentlich hatte Jack sie entsorgen wollen, aber er hatte es nicht übers Herz gebracht. Jetzt trug seine Tochter Carols Kleider auf, die ihr wie angegossen saßen.
Leni schaute plötzlich hoch, als hätte sie seinen Blick gespürt. Oder seine Gedanken gelesen. Den Schmerz gefühlt. Die Qual. Jack riss sich zusammen und ging zu ihr. Dabei lächelte er. „Ich fahre nach St. Agnes. Möchtest du mitkommen?“
„Wenn es sein muss“, kam die kaugummikauende Antwort. Große Lust schien sie ja nicht zu haben und wie die Jugendlichen im Saal lag auch sie eher auf dem Stuhl, als dass sie saß. Wieder einmal stellte Jack fest, wie schnell sie erwachsen wurde. „Alles ist besser als diese Langweile.“
„Schön“, meinte er. „Ich muss vorher etwas klären. Warte hier auf mich.“ Leni nickte und widmete sich wieder ihrem Zeitvertreib. Er indessen suchte Harry im Büro auf, und nachdem er ihn auf hundert Pfund heruntergehandelt hatte, wurden ihm feierlich die Schlüssel überreicht.
„Sie sind ein harter Geschäftspartner“, lobte Harry ihn, statt zu bedauern, den Kürzeren gezogen zu haben. Verwunderlich angesichts seiner augenscheinlichen Geldnot, die Jack ihm inzwischen unbenommen glaubte. Als Geschäftsmann übte er deshalb etwas Nachsicht mit ihm. Manchmal war das Einsparen von Personal eben nötig und wer wusste das besser als er selbst? Immerhin warf er ständig Leute raus …
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Annie bummelte durch den Ort. Begleitet vom Seewind, der durch die Straßen und Gassen fegte. Dann wiederum schien es, als würde er die Luft anhalten, weil sie keinen einzigen Hauch spürte. Wenigstens waren ihre Tränen getrocknet, obwohl Annie ahnte, dass sie beim geringsten Anlass wieder weinen würde.
Eigentlich hatte sie nach der Kirche auf direktem Weg nach Hause fahren wollen, aber der Anblick des Vaters würde sie noch mehr deprimieren als ohnehin. Deswegen hatte sie sich dazu entschlossen, einige Einkäufe zu erledigen und sich dafür Zeit zu lassen.
In der St. Agnes Bakery empfing sie der typische Geruch nach Backwaren. Ob Brötchen oder süßes Gebäck, auch Pasteten und anderes hatte die Bäckerei im Angebot. Annie lauschte dem Geplauder der Kunden, die über das Wetter oder das bevorstehende Bolster-Festival sprachen und sich mit Kuchen sowie Lamm-Minze-Wurstrollen eindeckten. Als sie an der Reihe war, kaufte sie einen Laib Brot, vier Butterbrötchen und nahm sich trotz gähnender Leere in ihrer Geldbörse ein Caramel-Shortbread mit. Etwas Nervennahrung konnte nicht schaden.