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Als sie wieder ins Freie trat, schob sie die Einkäufe in ihre Tasche und biss vom Shortbread. Ohne irgendein Ziel ging sie weiter. St. Agnes war schon belebter gewesen, doch in spätestens einem Monat würden wieder Touristen über den Ort herfallen. Im Augenblick war es ihr nur recht, dass sie kaum jemandem begegnete – nicht einmal Einheimischen – weil sie weder Lust zum Grüßen noch zum Reden hatte.
Sehnsüchtig warf Annie einen Blick zum Beauty-Salon auf der gegenüberliegenden Straßenseite. Noch nie hatte sie das Geschäft von innen gesehen und konnte sich lebhaft vorstellen, wie gut eine Auszeit im Salon tun würde. Auch das erlesene Antiquitäten-Geschäft vom alten Harold nahe dem Gemeindezentrum hatte sie bisher nur aufgesucht, weil er zur Clique gehörte, denn bei seinen Preisen vibrierten ihre Ohren.
Minnie war da um einiges günstiger mit ihrem Souvenirgeschäft. Ihr Mann Duncan war vor kurzem pensioniert worden und froh darüber, seinen langweiligen Job als Elektriker an den Nagel hängen zu können. Zeit seines Lebens hatte er ohnehin von einer Musikkarriere geträumt. Nun trat er manchmal mit seiner Gitarre in der Aloha-Bar auf. Früher war Annie mit Josie und später mit Roger oft dort gewesen wie auch im Taphouse, einer Après-Sea-Bar. Sie liebte die Atmosphäre und die Live-Bands, die dort spielten. Aber seitdem Josie weggezogen und es mit Roger aus war, hatte sie die Lokale nur sporadisch besucht. Es hingen zu viele Erinnerungen daran. Auch jetzt versetzte ihr der Gedanke an ihren Ex einen heftigen Stich.
Dabei hatte alles so romantisch begonnen. Im Chiverton-Park hatten sie sich zum ersten Mal geküsst, auf der Trevaunance-Road gestand er ihr seine Liebe, in der Trelawny-Road war er zuhause und … vor dem alten Schulhaus hatte sie ihn knutschend mit dieser Hexe Trish erwischt. Dort endete ihre Liebesgeschichte schließlich, weil Annie an Ort und Stelle mit ihm Schluss gemacht hatte. Seitdem begegnete sie ihm und Trish in der Pizzeria oder vor dem veganen Geschäft, in dem er stets einkaufte, da Roger äußerst gesundheitsbewusst lebte. Auch beim Driftwood war sie vor ihm und Trish nicht sicher gewesen, ebenso vor dem St. Agnes Hotel, beim Barber-Shop, dem Cuckoo Café, beim Blumenladen oder wie zuletzt bei Churchtown Arts … das war kurz vor Weihnachten gewesen. Sie hatte für ihren Vater nach einem Geschenk gesucht – Roger wollte eins für Trish kaufen, was er ihr natürlich brühwarm erzählen musste! Doch das Schlimmste war, dass Annie die beiden am Silvestertag im Chiverton-Park gesehen hatte. Hand in Hand waren sie völlig versunken an ihr vorbeispaziert. Der Schmerz war kaum auszuhalten gewesen.
„Annie, Kleines, huhu!“ Minnie stand plötzlich wie aus dem Nichts vor ihrem Souvenir-Geschäft und winkte ihr fröhlich zu. Wie üblich trug sie einen altmodischen Faltenrock mit Schottenmuster und einen ihrer legendären Rollkragenpullover, in die sie sich vermutlich täglich hineinschoss, so eng saßen die Teile. Das brachte ihre ohnehin große Oberweite noch mehr zur Geltung, von den üppigen Rundungen ganz zu schweigen. Abgesehen von ihrem etwas eigenartigen Modegeschmack und der Tatsache, dass sie sich bei jedem Verkauf verrechnete – natürlich zu ihrem Vorteil – war Minnie eine warmherzige und liebenswürdige Frau.
„Hallo, Minnie“, grüßte Annie über die Straße hinweg und beschleunigte ihre Schritte. So gern sie Minnie hatte, an ihrer Lustlosigkeit auf ein Gespräch hatte sich in den letzten Minuten nichts geändert.
„Willst du nicht rüberkommen?“
„Keine Zeit“, rief Annie zurück.
„Tatsächlich?“, schmetterte Minnies Stimme über die Straße herüber. „Ich dachte, du bist deinen Job los. Zumindest einen von zwei.“
Peinlich berührt schaute sich Annie um, bevor sie die Straße überquerte. Dabei wickelte sie ihr angebissenes Shortbread in das Papier. „Geht es noch lauter? Und woher verdammt weißt du davon?“, zischte sie, als sie vor Minnie stand.
„Die Wege des Herrn sind unergründlich.“
„Jeremy?“, entsetzte sich Annie und ein Blick in Minnies Gesicht genügte, um Gewissheit zu haben. „Er hat ein Beichtgeheimnis ausgeplaudert!“
„Warst du denn beichten?“, hakte Minnie spitz nach.
„Das nicht gerade … oh, diese alte Tratschtante!“
„Sei ihm nicht böse“, bat Minnie. „Als er mich vorhin anrief und eine neue Schlafmaske bestellte, habe ich sofort gemerkt, dass es ihm nicht gut geht. Du kennst ihn ja. Jeremy trägt das Herz auf der Zunge. Aber er meint es nur gut und macht sich Sorgen um dich, so wie wir alle.“ Prüfend taxierte sie Annie von oben nach unten. „Du solltest übrigens auf süße Leckereien verzichten.“
Genau das hatte Annie noch gebraucht. Vor allem nicht in Anbetracht dessen, dass Trish eine sportliche Frau war mit einer Figur, auf die jedes Mannequin neidisch gewesen wäre.
„Kein Grund, den Kopf hängen zu lassen, Mädchen. Du bist hübsch wie eh. Allerdings sieht man dir die Sorgen an. Geht es deinem Vater noch immer nicht besser?“
Mittlerweile hasste Annie diese Fragen. „Erkundige dich bei Jeremy. Der kann dir sicher eine Antwort darauf geben.“
„Ich möchte sie aber von dir hören.“ Minnie hob die Hände, wie es Annies Onkel beim Predigen oft tat. „Verflucht, habe ich zu Jeremy gesagt, Joseph braucht eine Aufgabe.“ Sie schüttelte den grau melierten Kopf und strich sich über die hochroten Wangen. Minnie hatte ein grobschlächtiges Gesicht und war in armen Verhältnissen aufgewachsen. Ihre Eltern hatten eine Farm im Hinterland betrieben, allerdings hatte Minnie seit ihrer Hochzeit mit Duncan weder zu ihnen noch zu den Geschwistern Kontakt gehabt. Inzwischen waren die Eltern verstorben, doch das hatte nichts am schlechten Verhältnis zu den Geschwistern geändert. „Duncan und Harold sind übrigens derselben Meinung.“
„Ich wüsste nicht, was Vater dazu bewegen könnte, sich gebraucht zu fühlen.“
„Deine Mutter vielleicht?“ In ihrem Blick lag ein seltsamer Ausdruck.
„Hat dich Jeremy angesteckt?“, machte Annie ihrem Unmut Luft.
„Ich lasse mich von niemand beeinflussen, so gut solltest du mich kennen. Da ich aber Marys beste Freundin bin, mache ich mir meine eigenen Gedanken. Insofern bitte ich dich inständig, nicht so hart mit ihr ins Gericht zu gehen. Wir machen alle Fehler.“
„Und schubsen andere damit in den Abgrund?“
„Dein Vater ist alt genug. Niemand hat ihn gezwungen, zur Flasche zu greifen.“
„Mag sein, dennoch war es egoistisch von ihr, ihn auf diese Weise zu verlassen. Noch dazu hat sie ihn betrogen!“, wurde Annie lauter, weil sie allmählich das Gefühl hatte, sich ständig verteidigen zu müssen. Davon abgesehen fand sie es ungerecht, dass sich offensichtlich jeder hinter die Mutter stellte. Ganz unrecht hatte ihr Dad demnach nicht gehabt. „Das ist unterste Schublade, gemein, hinterhältig und feige. Verlogen und niederträchtig!“
„Sprechen wir noch über deine Mutter oder bereits von Roger?“
Annie fühlte sich ertappt. „Der Typ kann mir gestohlen bleiben. Ebenso wie Mom.“
„Du musst endlich abschließen. Mit allem.“ Minnie trat einen Schritt näher und beugte sich verschwörerisch zu ihr, nachdem sie sich wie ein Cop umgesehen hatte, der einen Angriff aus dem Hinterhalt befürchtete. „Auch ich musste auf die harte Tour lernen, dass man gewisse Dinge im Leben nicht ändern kann. Rose hat mir sehr dabei geholfen. Geh zu ihr, sie könnte bestimmt dasselbe für dich tun.“
„Du meinst hoffentlich nicht Hokuspokus-Rose?“
Eifrig nickte Minnie. „Rose sieht Dinge, dass einem ganz anders wird und bisher ist alles eingetroffen. Probier es aus, danach kannst du immer noch lästern.“
Annie winkte ab und schaute zur Seitenstraße. Versteckt hinter einer Dattelpalme befand sich Roses kleines Geschäft, die Räucherkerzen, Duftseifen und andere überflüssige Dinge verkaufte. „Das ist nichts für mich, denn die Lösung meiner Probleme findet sich bestimmt nicht im Kaffeesatz.“
„Stimmt, eine Lösung kann sie dir nicht servieren, aber neue Perspektiven.“ Wie ein junges Mädchen eilte Minnie plötzlich zur Tür, zog die Silberkette mit dem Schlüssel unter ihrem Rollkragen hervor und verschloss das Geschäft, wozu sie sich etwas runterbeugen musste. Wie gewohnt hatte man bei solchen Gelegenheiten einen freien Blick auf den Ansatz ihres blanken Hinterteils, da sich der Pulli hochschob und der Rock in die entgegengesetzte Richtung abdriftete. Nicht zum ersten Mal stellte sich Annie die Frage, ob es Minnie mit der Unterwäsche hielt wie die Schotten … ein Gedanke, den sie jedoch sofort vergaß, weil sie energisch an die Hand genommen und in Richtung Seitenstraße gezogen wurde. „Manche Menschen muss man eben zu ihrem Glück zwingen.“
„Bist du verrückt?“ Annie riss sich von Minnie los. „Ich will nicht zu dieser Frau.“
„Und ob du willst!“ Minnie stemmte die Hände in die Hüften. „Es sei denn, du kannst allein damit fertig werden, dass dein feiner Roger am Tag des Bolster-Festivals heiratet.“
Annie starrte Minnie an. „Was … was sagst du da?“, stammelte sie den Tränen nahe. Die beiden waren erst seit einigen Monaten zusammen und nun wollte er diese Kuh sogar heiraten?
„Tut mir leid, dass ich mit der Tür ins Haus falle.“ Minnie wirkte nicht, als würde sie das schlechte Gewissen zerfressen. „Aber du kennst mich. Ich fackle nicht lange herum.“
„Nein, besonders sanft bist du tatsächlich nicht.“ Das durfte nicht wahr sein! Roger wollte tatsächlich heiraten? Etwas, das sich Annie immer für sich selbst gewünscht hatte. „Woher weißt du das? Von … von Jeremy?“ War er deswegen so hektisch geworden? Weil er Roger und Trish erwartet hatte?
„Der kleine Hosenscheißer hatte Angst davor, es dir zu erzählen. Allerdings wollten wir, dass du es von uns erfährst. Umso dringender brauchst du jetzt psychologischen Beistand. Wir können unmöglich dabei zusehen, wie du langsam vor die Hunde gehst. Und nun komm. Rose schließt gleich.“
„Diese Frau ist keine Psychologin, ganz im Gegenteil“, schnaubte Annie. „Wenn du mich fragst, hat Rose selbst eine nötig.“
„Dich fragt aber keiner! Hat der saubere Roger auch nicht getan, bevor er mit Trish ins Bett gehüpft ist.“ Minnie nahm ihr das Shortbread aus der Hand, bevor sie Annie wieder an die Kandare nahm, die sich diesmal widerstandslos mitziehen ließ, weil alles in ihr erlahmte. Nur ein Gedanke beherrschte sie und raubte ihr beinahe die Sinne: Roger wollte heiraten! Wie konnte er ihr das antun? Als hätte es die gemeinsame Zeit nie gegeben, legte er sie ab wie einen gebrauchten Mantel, den man möglichst schnell mit einem neuen austauschte. Bei Todesfällen nahm man doch auch nicht sofort den Nächstbesten, sondern ließ aus Anstand etwas Zeit verstreichen! Den schien ihr Ex jedoch nicht zu haben. Oder gab es einen triftigen Grund für die schnelle Hochzeit? War Trish womöglich … schwanger?
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Kaum hatte Jack vor der Villa geparkt, sprang Leni aus dem Auto und blickte sich um. Natürlich mit dem Handy in der Hand.
„Das ist der Hammer, Dad. Schau dir bloß die Aussicht an! Ein Traum, oder?“ Ihre großen Ohrringe klimperten wie die vielen Armbänder, die sie neuerdings trug.
Jack verschloss den Geländewagen, der tatsächlich über allerhand Technik verfügte. Sogar mit einem Navi war er ausgestattet. Leider auch mit einem dieser Duftbäumchen. Der künstliche Geruch hatte sich förmlich in seine Nase gebrannt. Sein armer Laptop auf dem Rücksitz würde vermutlich tagelang danach stinken.
„Es ist umwerfend“, schwärmte Leni munter weiter, während er an ihre Seite trat.
Sie hatten einen freien Blick auf St. Agnes und das aufgewühlte Meer. Selbst von hier oben konnte man die Gischt sehen, wenn die Wellen gegen Felsen brandeten. Unten an der Bucht spazierten einige Menschen am Strand entlang. Gelbe Kajaks reihten sich nahe dem Wasser auf, umringt von Leuten in Neoprenanzügen. Zwei von ihnen lösten sich aus der Gruppe und marschierten auf das Beach Café zu, dessen Name Jack entfallen war. Da dieses Grundstück jedoch nicht zum Verkauf stand, konnte er das durchaus verschmerzen. Anders verhielt es sich mit einem alten Zinnwerk und vor allem mit dem Geschäftshaus am Fuße der Küstenstraße, bei dem er kurz angehalten hatte. Wie sich bei der Recherche herausgestellt hatte, gehörte es beinahe der Bank und wirkte in Natura noch baufälliger als auf den Bildern. Ein großer Verlust würde dieser Schandfleck nicht sein. Insofern dürfte es ein Spaziergang werden, die Verantwortlichen auf seine Seite zu ziehen. Notfalls mit Schmiergeldern, die in jeder Branche ein gern gesehenes Zahlungsmittel waren … sogar in Banken. Danach erhöhte diese den Druck auf die Schuldner, denen irgendwann die Luft ausging. So zumindest hatte es ihm der Vater eingebläut.
Zufrieden atmete Jack tief ein und wischte sich über die feuchte Stirn. Für Ende April war es ziemlich warm. Bedingt durch den Golfstrom herrschte in Cornwall mildes Atlantikklima vor, wodurch die Gegend für britische Verhältnisse vergleichsweise sonnenverwöhnt war. Sogar Keulenlilien und kanarische Dattelpalmen hatte er bei der Herfahrt gesehen, die viele Gärten oder Parkanlagen schmückten. „Nicht übel“, ließ er verlauten und erspähte weiter unten an einer Kurve den Möbelwagen, der ihnen kurz vor der Villa untergekommen war.
„Nicht übel?“ Leni blickte ihn an, als wäre sie über seine Aussage enttäuscht, bevor sie sich zur Villa umdrehte. Jack tat es ihr nach und ließ den Bau auf sich wirken. Hier an der Küste schienen viele ein Faible für Weiß zu haben, doch da die Villa ohnehin in einigen Wochen nicht mehr stehen würde, tangierte ihn das nicht weiter. Um die verschnörkelten Säulen war es zwar schade, aber wo gehobelt wurde fielen Späne. So würde auch die großzügige Veranda mit der Rattan-Sitzecke weichen müssen, die Jack an einige Südstaaten-Filme erinnerte, die seine Großmutter früher gerne geschaut hatte.
„Kaufst du das Haus, Dad?“
„Das habe ich vor, ja.“
„Darf ich es mir ansehen?“
„Dazu sind wir hier. Also, lass uns Mister Winter suchen.“
Knapp vor der grün getünchten Tür eilte ihnen ein älterer Herr entgegen, der von der Rückseite der Villa kam. Er trug eine blaue Cordhose, ausgetretene Filzschuhe, ein kariertes Hemd und einen Strohhut. Nachdem er sich als Mister Winter vorgestellt hatte, vertieften sich er und Jack in das Verkaufsgespräch, wobei ihn der alte Herr mit Leni im Schlepptau durch die einzelnen Räume führte. Dabei tat Jack interessiert, da Mister Winter jede noch so unscheinbare Kleinigkeit in den Mittelpunkt rückte. Das war ein klares Indiz dafür, dass er sich mit dem Verkauf schwertat. Deshalb musste Jack Anerkennung heucheln, worin er einer der Besten war. Gelernt war eben gelernt.
„Über vierzig Jahre lang habe ich hier mit meiner Frau gelebt“, erzählte Mister Winter, als sie über die breite geschwungene Treppe zum Erdgeschoss hinuntergingen, das mit Schachbrettfliesen ausgelegt war. Möbeltechnisch war das Haus beinahe ausgeräumt. Nur die Küche war vollwertig ausgestattet, in zwei Schlafzimmern standen Betten und im Wohnzimmer ein rotes Sofa. „Aber nach ihrem Tod erinnert mich zu viel an sie.“ Jack fasste nach dem Geländer und dachte an Carol. „Wissen Sie, ich habe Beth sehr geliebt.“
„Ich bedauere Ihren Verlust, Mister Winter.“
Der alte Mann blieb unten am Treppenabsatz stehen. Auch Jack und Leni hielten ein.
„Zum ersten Mal habe ich das Gefühl, dass Sie ehrlich sind“, sagte Mister Winter.
„Ich habe keine Ahnung, was Sie meinen.“ Jacks unangenehmes Gefühl verstärkte sich.
„Doch, die haben Sie.“
„Tut mir leid, Sie sprechen in Rätseln.“
„Dagegen sind Sie wie ein offenes Buch für mich. Meine alten Geschichten interessieren Sie nicht die Bohne, habe ich recht?“ Der alte Mann schien die Beobachtungsgabe eines Luchses zu haben. Dabei hatte Jack gedacht, dass er leichtes Spiel hätte. „Nun, junger Mann, soll ich Ihnen alles aus der Nase ziehen? Oder warten wir darauf, dass sie wie bei Pinocchio wächst?“ Als hätte er Jack gerade ein Lob ausgesprochen, legte er ihm die Hand auf die Schulter. Sein unter dem Hut hervorquellendes Haar glänzte silbern im hereinfallenden Tageslicht wie sein Bart. Altersflecken prägten sein Gesicht und die Hände, die etwas zitterten. Wie der Mund, wenn er sprach. Die blauen Augen wirkten trüb, als hätte sich ein Schleier darübergelegt. Die Haut war faltig und zeugte von einem bewegten Leben. „Was haben Sie wirklich mit meinem Zuhause vor? Wollen Sie es umbauen und so verändern, dass man es nicht mehr wiedererkennt?“
„Wo denken Sie hin?“, log Jack. „Ich möchte alles so belassen wie es ist. Meine Tochter und ich werden uns hier bestimmt sehr wohlfühlen, denn ehrlich gesagt habe ich schon lange nach einem Sommerhaus wie diesem gesucht.“ Herrgott, dieser Mann brachte ihn langsam aber sicher in die Bredouille.
„Wo ist Ihre Frau, wenn ich mir die Neugier erlauben darf?“ Mister Winter zog die Hand von Jacks Schulter, der zu seiner Tochter schaute, die mit gesenktem Kopf dastand.
„Carol starb bei Lenis Geburt“, antwortete er leise. Meinetwegen, hämmerte es in seinem Inneren und er versuchte die Bilder zu verdrängen. Bilder, die ihm jede Nacht den Schlaf raubten und ihn auch untertags häufig verfolgten.
„Dann versprechen Sie mir in Carols Namen, dass Sie diese Villa in Ehren halten werden.“
Jack war wie vom Donner gerührt. „Lassen Sie meine Frau aus dem Spiel.“
„Das geht nicht.“ Mister Winter sah ihm streng in die Augen. „In diesen Mauern steckt ein halbes Leben. Eines voller Liebe und Vertrauen. Auch ein erfülltes. Meine zwei Mädchen sind hier aufgewachsen und haben im Garten geheiratet. Jede Einzelne. Weil sie den Zauber dieses Hauses nie vergessen haben. Egal, wohin das Leben sie geführt hat. Deshalb war es auch ihr Wunsch, dass ich es nur an jemandem verkaufe, der diese Liebe spüren kann. Als Sie Ihre Frau erwähnten, tat ich es. Aber Sie haben dieses Gefühl mit ihr begraben.“ Nun wurde sein Blick beschwörend. „Holen Sie es sich zurück, bevor Sie ein unglücklicher alter Mann werden.“
Hatten sich denn alle gegen ihn verschworen?
„Damit sind Sie bei Dad an der falschen Adresse.“, mischte sich Leni ein, wofür sie Jacks zornigen Blick erntete. „Was denn?“, schob sie zu allem Überfluss nach. Das war es dann wohl mit dem Geschäft!
Mister Winter lachte jedoch, was Jack überrascht zur Kenntnis nahm. „Ihre Tochter gefällt mir“, stellte er schließlich fest, nachdem er sich wieder beruhigt hatte. „Sie erinnert mich an meine Frau. Die ließ sich auch nie etwas sagen und hat mich in die unmöglichsten Situationen gebracht.“
„Wem sagen Sie das.“ Jack lächelte. Noch schienen die Felle nicht endgültig davongeschwommen zu sein.
„Steht Ihnen übrigens gut.“
„Was?“
„Wenn Sie lächeln. Das sollten Sie öfter tun. Wie alt sind Sie? Ende dreißig?“
„Ich bin vor einem Monat vierzig geworden.“ Jacks persönliche Grenze war schon bei Weitem überschritten. Andererseits, was tat man nicht alles für ein gutes Geschäft?
„Dann haben Sie genügend Zeit, um das Glück wiederzufinden“, meinte Mister Winter mit einem gespannten Schmunzeln. „Ich verkaufe Ihnen die Villa.“
Nun war Jack perplex. „Sind Sie sicher?“
„Ja, das bin ich. Weil ich fest daran glaube, dass Sie hierherkommen mussten, damit Ihr Herz wieder auftaut. Und das wird es, Mister Flatley. Ein Sommer in St. Agnes kann vieles verändern. Ich weiß, wovon ich spreche. Allerdings möchte ich im Vertrag, den Sie mir vorab geschickt haben, eine Passage hinzufügen.“
„Die da wäre?“ Jack schwante Böses.
„Sie müssen meine Putzfrau übernehmen. Das Mädchen ist eine Perle und hat es nicht leicht.“
„Ich brauche keine Putzfrau.“
„Irrtum. Das tun Sie. Sonst ist der Deal gestorben.“
„Eine Putzfrau ist doch super, Dad“, stellte sich Leni auf die Seite von Mister Winter und tauschte einen Blick mit ihm, als hätten sie die absurde Forderung gemeinsam von langer Hand geplant.
„Nun? Sind wir im Geschäft?“
Jack nickte widerwillig. „Meinetwegen. Ich füge die mündliche Vereinbarung händisch im Vorvertrag hinzu. Alles weitere machen unsere Anwälte.“
„Schön.“ Mister Winter grinste und zeigte eine Reihe gelber Zähne. „Es wird Ihnen in St. Agnes gefallen, mein Junge.“ Die vertraute Anrede berührte Jack. Aber nur kurz. Hier ging es um ein Geschäft. Nicht mehr und nicht weniger.
„Davon gehe ich aus“, murmelte Jack und schlug ein, als ihm Mister Winter die Hand entgegenstreckte.
„Dann lassen Sie uns unterzeichnen.“ Er drückte Jacks Hand, bevor er sie losließ. „Ich muss nämlich dringend zum Flughafen, ehe ich es mir anders überlege.“
„Wohin fliegen Sie?“, fragte Leni, die beinahe traurig klang. Dabei kannten sich die beiden kaum. Jack indes hatte eine leise Ahnung. Mister Winter verkörperte einen Großvater, wie man ihn sich vermutlich in Lenis Alter vorstellte. Gemütlich, bedächtig, gütig – vom Äußeren her ähnelte er Carols Dad Robert, den Leni viel zu selten zu Gesicht bekam, obwohl sie sehr an ihm hing. Doch bisher hatte Jack den Kontakt eher unterbunden, als ihn zu fördern. Auch auf den Rat seines Vaters hin, der das genaue Gegenteil war. Sogar in der Freizeit trug er Anzüge, war penibel, ordentlich und achtete auf gute Umgangsformen.
„Nach Berlin“, gab Mister Winter bereitwillig Auskunft, während sich Leni das Handy in die ausgebeulte Hosentasche schob. „Dorthin, wo ich aufgewachsen bin. Sozusagen eine letzte Reise in die Vergangenheit und zu meinen Wurzeln. Ein Gedanke, mit dem ich schon lange spiele. Bisher schreckte ich jedoch davor zurück. Angst vor der eigenen Courage nennt man das wohl. Manchmal sollte man aber über den eigenen Schatten springen und neue Wege gehen.“ Beim letzten Satz hatte er Jack angesehen, der sich fragte, ob sich Michael und der alte Mann hinter seinem Rücken ausgetauscht hatten. Allerdings verwarf er den Gedanken gleich wieder, weil er völlig abwegig war. Ferner war es sein Leben und das ging keinen von beiden etwas an!
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Eine halbe Stunde später war Jack mit Leni alleine in der Villa und hatte sämtliche Anspielungen des alten Mannes wieder vergessen. Besser gesagt wurden sie von der Freude über das gelungene Geschäft verdrängt. Dem Wermutstropfen mit dem Passus maß Jack nicht allzu viel Bedeutung bei. Solche Schönheitsfehler konnte man ausmerzen, sein Dad fand immer Möglichkeiten. Das war bisher so gewesen und das würde auch in diesem Fall nicht anders sein. Außerdem war ein Abriss der beste Grund, um jemandem zu kündigen. Noch dazu hieß die Putzfrau Annie Murphy. Wenn es nicht zwei Frauen mit diesem Namen in St. Agnes gab, musste es sich um die Besitzerin des Geschäftshauses handeln, auf das er ein Auge geworfen hatte. Ohne diesen Job würde sie womöglich in finanzielle Schieflage geraten, was seinen Plänen mehr als entgegenkam. Tja, scheinbar hatten es Frauen namens Annie in Cornwall nicht leicht.
Ein Glas Champagner wäre jetzt genau das Richtige, denn das Schicksal meinte es gut mit ihm und während Jack einer Annie geholfen hatte, würde er der anderen den Gnadenstoß versetzen.
„Daddy?“ Leni zog ihn am Hemdärmel. Jack blieb vor der Küchentür stehen. „Hörst du mir eigentlich zu?“
„Natürlich“, schwindelte er.
„Dann bekomme ich wirklich eine YouTube-Ausstattung mit allem Drum und Dran?“ Ihre blauen Augen schimmerten feucht, als hätte er bereits zugesagt. Hatte er? „Oh, das wird klasse. Ich werde richtig durchstarten und zur einflussreichsten Influenza werden, die diese Welt je gesehen hat.“
„Noch ist das letzte Wort darüber nicht gesprochen“, wand sich Jack, der seiner Tochter kaum etwas abschlagen konnte. In diesem Fall lag die Sache jedoch etwas anders. Leni steckte mitten in der Pubertät und entwickelte sich langsam zur Frau. Auf der anderen Seite konnte sie ziemlich kindlich sein und war gesprächig wie eine Plaudertasche. Deswegen war abzusehen, dass sie alles über YouTube in die weite Welt hinausposaunen würde. Selbst ihre Auseinandersetzungen, die sich in der letzten Zeit häuften. Sogar dieses Geschäftsgespräch wäre nicht vor ihrem Plappermäulchen sicher. Von Bildern in Bikinis und Miniröcken ganz zu schweigen.
„Bitte!“ Leni zog ihren berühmt-berüchtigten Schmollmund. „Meine besten Freunde haben auch einen eigenen Kanal.“
„Welche Freunde meinst du? Die auf Facebook?“
„Ich habe schon über fünfhundert.“ Wie stolz sie aussah.
Jack ging in die Küche, die im Kolonialstil eingerichtet und mit den neuesten Geräten ausgestattet war. Sogar einen High-Tech-Induktionsherd gab es. Doch das war nichts gegen den antiken Holzherd, der den Mittelpunkt bildete. An der Wand darüber hingen ein paar Suppenkellen in verschiedenen Größen, ein Pfannenwender und ein Edelstahlsieb. Der abgewohnte Walnusstisch nahe den Fenstern bot Platz für mindestens zehn Personen. Die alten Dunkelholzstühle wiesen schöne Schnitzereien auf. Jacks Blick fiel auf jenen am oberen Ende, auf dem Mister Winter vorhin gesessen hatte. Ob das in den letzten vierzig Jahren sein Platz gewesen war?