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„Die Lampen sind cool.“ Leni schaute zur Decke hinauf, während sie am Tisch vorbeiging. „Sie sehen aus wie Laternen.“
Auch Jack riskierte einen Blick. An einer Silberstange hingen drei Lampen herunter. Ganz hübsch, aber nicht sein Geschmack. Genauso wenig wie die Vorhänge mit dem Blumenmuster oder das violette Radio auf dem Fensterbrett. „Um darauf zurückzukommen: Facebook-Freunde sind keine richtigen Freunde, Leni.“
„Woher willst du das wissen, Dad? Du hast ja nicht einmal ein Profil.“
„Und trotzdem lebe ich noch“, blieb er bei seinem Standpunkt, denn diese Debatte hatten sie schon unzählige Male gehabt. „Als ich jung war, haben wir uns nicht in einer virtuellen Welt getroffen, sondern in der realen. Und wenn wir etwas gemocht haben, wurde es nicht geliked, sondern dem anderen gesagt. Ich wünschte, du könntest diese Zeit erleben, als es noch um echte Emotionen ging! Um wahre Freundschaften, die diese Bezeichnung auch verdient haben.“
„Echte Emotionen? Wahre Freundschaften? Ich sehe dich nur arbeiten, Dad.“
„Werd ja nicht frech!“
„Ich sag doch bloß“, mokierte sich Leni und setzte sich auf die marmorne Arbeitsfläche.
Jack blickte ermahnend zu seiner Tochter. „Außerdem hast du ständig dein Handy im Kopf. Das muss ein Ende haben, sonst werde ich es beschlagnahmen. Immerhin lassen deine schulischen Leistungen sehr zu wünschen übrig.“
Trotzig reckte sie das Kinn. „Steve Jobs hat es ohne Collegeabschluss geschafft. Mark Zuckerberg verließ angeblich Harvard und Präsident Lincoln soll die Schule kaum von innen gesehen haben. Dennoch haben alle Karriere gemacht.“
„Was sicherlich Respekt verdient. Allerdings ist das bestimmt nicht die Regel. Eine gute Ausbildung kann dir sämtliche Türen öffnen. Vor allem brauchst du sie jedoch, wenn du in meine Fußstapfen treten willst.“
„NB. Ich habe andere Zukunftspläne, Dad.“
„Du fängst jetzt nicht wieder mit der Schauspielschule an.“
„Und wenn?“ Herausfordernd blickte sie ihn an.
„Brotlose Kunst, mehr ist das nicht. Wovon willst du später einmal leben, wenn du keine Engagements hast? Von der Hand in den Mund?“
„Du könntest mich unterstützen, statt mir ständig alles madig zu reden.“
„Was meinst du konkret mit Unterstützung? Dass ich dir eine Wohnung bezahlen soll? Ein Auto, Essen und Kleidung? Hör mal, Leni, nur weil du einen reichen Vater hast, solltest du nicht davon ausgehen, dass du den goldenen Löffel bis ans Lebensende im Mund behalten wirst. Ich will Leistung sehen, dann können wir darüber sprechen, ob ich dir eventuell eine monatliche Finanzspritze zubillige.“ Jack hatte das Gefühl eines Déjà-vus. Ein ähnliches Gespräch hatte er selbst vor vielen Jahren mit dem Vater geführt. Nicht nur einmal. Allerdings war er älter gewesen als Leni, hatte aber wie sie plötzlich alles hinterfragt.
„Dein Geld brauche ich nicht, Dad. Ich schaffe es auch ohne dich.“
Ob sich sein Vater damals genau so hilflos gefühlt hatte? „Übrigens will Senta in ein paar Tagen nachkommen“, wechselte Jack das Thema, obwohl er im selben Moment wusste, dass er damit vom Regen in die Traufe sprang. Doch Senta gehörte nun mal zu ihrem Leben dazu.
Lenis Miene zog sich zusammen, als hätte sie in eine saure Zitrone gebissen. „Muss das sein? Ich dachte, dass nur wir beide Zeit in England verbringen.“
„Das tun wir ja, aber irgendwann solltest du den Unterricht wieder aufnehmen.“ Senta war Lenis Privatlehrerin. Eine attraktive Frau, die irgendwann zu seiner Lebensgefährtin wurde. „Obendrein weiß sie genau, was junge Mädchen mögen und ihr habt die Möglichkeit, euch auf andere Art und Weise kennenzulernen.“
„Ich mag Senta nicht.“ Eine Aussage, die er ständig von seiner Tochter hörte.
„Weil du ihr keine Chance gibst.“ Jack warf einen Blick aus dem Fenster. Am Horizont zogen Wolken heran. „Bei den vielen Kindermädchen, die ich für dich engagiert habe, hast du dich genauso bockig verhalten.“
„Die waren alle doof.“
„Natürlich sind wieder nur die anderen schuld.“ Warum gab es keine Gebrauchsanweisung für jedes Kind? „Wir sollten versuchen, uns irgendwie zu arrangieren“, verlegte er sich auf die sanftmütige Tour. „Immerhin werden Senta und ich bald heiraten.“ Jack klopfte an die Wand neben dem Fenster. Die Bausubstanz war gut. Kaum zu Ende gedacht, schüttelte er den Kopf. Und wenn in den Wänden riesige Löcher klaffen würden, konnte es ihm egal sein.
„Du beschließt zu heiraten und ich soll es stillschweigend akzeptieren. Wie ich mich dabei fühle, interessiert dich überhaupt nicht“, fauchte Leni.
„Du bist bald erwachsen und wirst deine eigenen Wege gehen. Senta ist eine wunderbare Frau. Gönnst du mir das Glück denn nicht?“
„Glück? Sie hat es nur auf dein Geld abgesehen!“
„Junge Dame, mäßige deinen Ton! Außerdem frage ich mich, wie du auf diese bösartige Unterstellung kommst.“
„Weil … weil …“ Leni hüpfte herunter und schaute ihn grimmig an. „Ach, vergiss es. Du würdest mir ohnehin nicht glauben. Wie immer.“
„So redest du nicht mit mir, verstanden? Schließlich bin ich dein Vater und kein kleiner Junge.“
„Du tust ja auch ständig so, als wäre ich noch ein kleines Kind.“
„Das bist du, wie man unschwer an deinem Verhalten erkennen kann.“
„Bestimmt nicht, denn einem Kind könntest du vielleicht weismachen, dass du dieses Haus behalten willst. Mir jedoch nicht. Wieso hast du den netten alten Mann angelogen? Du willst die Villa bestimmt abreißen, wie alle Häuser, die du kaufst.“
„Na und? Was spricht dagegen?“
„Die Geschichte, die Mister Winter erzählt hat. Und dass er dir wünscht, dass du wieder glücklich wirst. Er hat es nicht verdient, dass du ihn so hintergehst. So wie es viele nicht verdient haben, dass du ihnen etwas vormachst.“
„Du musst noch viel lernen, Leni. Vor allem, dass das Leben kein Märchen ist, sondern hart und schwierig sein kann. Wir müssen alle zusehen, wo wir bleiben.“
„Ich kann diesen Spruch nicht mehr hören und wenn ich mir überlege, wie du und Großvater Geschäfte macht, könnte ich kotzen.“ Kaum ausgesprochen lief sie aus der Küche.
„Du bist undankbar“, rief er ihr hinterher und ärgerte sich maßlos. Was glaubte seine Tochter denn, für wen er so hart schuftete? Immerhin führte sie ein gutes Leben und konnte sich vor Geschenken kaum retten, die schließlich nicht auf Bäumen wuchsen. Aber statt sich zu freuen, machte sie ihm das Leben schwer und verleidete ihm sogar die Beziehung mit Senta. Dabei bemühte sich seine Verlobte sehr um Leni, die ihr hingegen nur die kalte Schulter zeigte. Hoffentlich änderte sich das nach der Hochzeit. Immerhin waren sie dann eine Familie und würden zusammenleben. Allerdings wäre es vielleicht besser, wenn sie Leni nicht mehr unterrichtete, womit sie zumindest eine Konfliktsituation weniger am Hals hätten …
♥
„Du liebe Zeit, da ist aber einiges los in Ihrem Leben“, drang Roses Stimme zu Annie durch, in die langsam wieder Leben kam. Sie saß mit den Frauen an einem runden Tisch, auf dem ein geklöppeltes Set lag. Darauf stand eine Glaskugel, vor Rose eine Porzellantasse mit hellblauem Blumenmuster, in die sie mit geweiteten Augen hineinstarrte, als würde Frankenstein darin seine Runden laufen. Besser konnte man ein Klischee nicht bedienen.
Ohnehin wirkte das Geschäft, als hätte man es gemäß der Serie Buffy – im Bann der Dämonen eingerichtet. Ein Regal mit alten verstaubten Büchern nahm eine ganze Wandseite ein. Überall brannten rote Kerzen und es roch nach einem seltsamen Kraut. Bilder mit okkulten Zeichnungen lagen verstreut herum und auf einer großen Truhe Kapuzenumhänge sowie einige Hüte. Auf einer Biedermeierkommode wurde eine geöffnete Schatulle zur Schau gestellt, in der sich ein antiker Revolver befand. Daneben stand ein Glas mit Silberkugeln und nahe dem Eingang lehnte ein Holzpfahl. Dass die Wände und der Bodenbelag in grellem Pink gehalten waren, setzte dem Ganzen die Krone auf.
„Suchen Sie Dracula? Oder Barbie?“, konnte Annie nicht umhin zu fragen, die sich ärgerte, dass sie sich von Minnie zu dieser Frau schleifen ließ.
„Es gibt mehr zwischen Himmel und Erde, als wir uns vorstellen können.“ Rose wollte ebenfalls nicht recht in das Bild des Geschäftes passen. Die Gute sah aus wie ein Marilyn Monroe-Verschnitt mit ihrem blonden kinnlangen Haar, das sich an den Spitzen lockte. Natürlich hatte sie das obligatorische Muttermal nahe den Lippen, das jedoch echt wirkte. Ihr Mund war rot wie das Kleid mit den weißen Längsstreifen, das vom Schnitt her an die Sixties erinnerte. Ohne Frage, sie hatte die Figur einer Zwanzigjährigen, die faltige Haut hingegen zeigte, dass diese Filmdiva längst in die Jahre gekommen war. „Sie sollten Ihren Horizont erweitern, junge Dame.“
So wurde Annie von Mrs. Wilde früher auch angesehen, wenn sie eine schlechte Note geschrieben hatte. „Nicht jeder kann mit solchen Dingen etwas anfangen.“
Minnie – die immer noch Annies Shortbread hielt – schaute Rose nachsichtig lächelnd an. „Die kleine Maus ist etwas neben der Spur.“
„Ich bin keine kleine Maus“, wehrte sich Annie.
„Gewiss, Schätzchen“, ließ Rose verlauten und schaute wieder in die Tasse. „Ich sehe tiefe Verletzungen.“
„Hat nicht jeder von uns Narben?“, zerstreute Annie diese Aussage postwendend.
„Natürlich. Aber Ihre sind frisch wie Fallobst.“
„Fallobst ist nicht frisch. Deshalb fällt es ja auch herunter.“ Sehnsüchtig blickte Annie zum Ausgang. Auf dem Glas prangte ein Schild. Geöffnet für alle Wunder dieser Welt. Für die Kehrseite fiel ihr spontan etwas ein: Geschlossen – weil es keine Wunder gibt.
„Hör ihr einfach zu“, bat Minnie, die das Shortbread auspackte und herzhaft hineinbiss.
„Das ist mein …“
„Schschsch!“ Rose legte sich den Zeigefinger an den schimmernden Mund. „Ich spüre eine fremde Energie im Raum.“ Plötzlich hob sie den Blick und musterte Annie, als würde sie sie zum ersten Mal sehen. „Ich kann ein Auto erkennen … es sieht lädiert aus.“
„Unser Alfa ist im Dorf bekannt wie ein bunter Hund“, gab Annie patzig von sich. „Und noch haben wir ihn nicht bestattet. Also kann er nicht im Jenseits sein.“
„Eine Energie zu spüren hat nichts mit den Welten zu tun, meine Teure. Außerdem meinte ich nicht Ihre Schrottkarre. Eher eine … Limousine. Eine weiße und da …“ Sie grinste auf einmal, als hätte sie soeben einen muskelbepackten Engel gesehen, während Annie an Flatley denken musste. Aber das konnte nur Zufall sein … „Was für ein Prachtbursche! Der erinnert mich an jemanden …“
„George Clooney?“, hakte Minnie kauend nach. Rose schüttelte den Kopf. „Kirk Douglas? John Wayne?“ Abermals schüttelte Rose den Kopf. „Dann fällt mir nur noch George Clarke ein, du weißt schon, der aus der Sendung Restauration-Man.“ Wie aufs Stichwort lehnten sich die Freundinnen aufseufzend zurück und erinnerten Annie stark an verliebte Teenager. „Von ihm würde ich mich gerne restaurieren lassen“, entschlüpfte es Minnie, die sich ordnend durch das dauergewellte Haar fuhr.
„Was du nicht nötig hast, meine Liebe.“ Wohlwollend wurde sie von Rose betrachtet, die ohnehin in höheren Sphären schwebte. Wie es aussah, trafen sich die beiden Mädels jedoch gerade auf derselben Ebene. Das wurde Annie allmählich zu bunt. Sie hatte andere Sorgen als sich dieses Gelaber anzuhören. Die gesamten Hiobsbotschaften des Tages mussten erst einmal verdaut werden. Allein – und nicht mit den Geistern, die sie nie gerufen hatte.
„Jedenfalls“, bemüßigte sich Rose weiterzureden, während sich Minnie den letzten Bissen in den Mund schob, „sehe ich Schnapsflaschen. Ihr Vater?“
„Was ebenfalls kein Geheimnis ist.“ Annie hätte am liebsten laut gelacht, wäre der Anlass nicht so traurig gewesen.
„Das wird sich alles fügen, junge Dame. Insbesondere werden Sie eine alte Liebe bald vergessen, denn ich sehe einen neuen Mann in ihrem Leben, wer immer dieser Adonis sein mag.“
„Von Männern habe ich die Schnauze voll.“
„Jetzt vielleicht. Dennoch wird er Ihr Herz im Sturm erobern.“
„Tatsächlich?“, flüsterte Minnie erstaunt. „Du weichst aber ziemlich von unserem Drehbuch ab … und bisher hast du kein Wort zu ihrer Mutter gesagt.“
„Was soll ich tun, wenn ich sie nicht sehen kann …“
Annie schaute von einer zur anderen. „Was wird das hier?“, rief sie aus, „ein abgekartetes Spiel? Habt ihr euch vorher überlegt, welche Geschichte ihr mir auftischt?“
„Du solltest dich mit deiner Mom aussöhnen“, wisperte Minnie und sank tiefer in den Stuhl.
„Sagt wer?“, erkundigte sich Annie mit säuerlichem Ton.
„Jeremy.“
„Steckt mein Onkel etwa mit euch unter einer Decke?“ Annie sprang vom Sessel auf und nahm ihre Tasche. „Sagt jetzt nicht, dass Jeremy diesen faulen Zauber unterstützt.“
„Ihr Onkel ist oft bei mir“, ergriff Rose das Wort, „sogar ein Mann Gottes braucht hin und wieder weltlichen Beistand.“
„Weltlichen Beistand, dass ich nicht lache! Aber schön. Nun weiß ich wenigstens, dass mein Onkel ein Geheimnisträger wie ein Nudelsieb ist. Das mit der weißen Limousine und diesem Typen habt ihr vermutlich ebenfalls von ihm.“
„Mit Jeremy habe ich nur über deine Mom gesprochen, wenn du es genau wissen willst“, erwiderte Minnie etwas verschnupft. „Was Rose vorhin meinte, ist mir schleierhaft.“ Es war grotesk, denn plötzlich grinste sie ihre okkulte Freundin an. „Du kannst tatsächlich im Kaffeesatz lesen. Scheinbar gibt es diesen Typen und die Limo.“
Rose verschränkte mit undefinierbarem Lächeln die Arme vor der Brust. „Und wie es den gibt. Jetzt weiß ich auch, an wen er mich erinnert. An einen Schauspieler. Scott …“ Sie blickte Annie in die Augen, die erstarrte. „Eastwood. Ein Sahneschnittchen, das Sie sich nicht entgehen lassen sollten, meine Liebe.“
„Diesen Unfug werde ich mir nicht länger anhören“, schimpfte Annie und eilte zum Ausgang. Nie wieder würde sie einen Fuß in dieses Geschäft setzen. Nie wieder!
Wie von Furien gehetzt öffnete sie die Tür, stürmte über die drei Steinstufen hinunter und wandte sich um, als sie plötzlich gegen ein junges Mädchen prallte.
„Aua! Können Sie nicht aufpassen?“, wurde Annie in der nächsten Sekunde angepflaumt.
„Entschuldige, ich habe dich nicht gesehen.“ Annie trat einen Schritt zurück und schaute dem Mädchen mit schlechtem Gewissen dabei zu, wie es sich an der Schulter rieb. „Habe ich dir wehgetan?“
„Nicht mehr als mein Dad.“ Auf einmal hatte die Kleine Tränen in den Augen.
„Hat er dich geschlagen?“, griff Annie zum Naheliegenden.
„Nein, so etwas würde Dad nie tun.“ Das Mädchen stopfte die Hände in die Hosentaschen. In ihren grellen Latzhosen war sie eine ziemlich auffällige Erscheinung. „Dazu müsste er mich erst wahrnehmen. Aber mein Vater kennt nur seine Arbeit.“
„Das tut mir leid.“ Wie es aussah, traf sich in St. Agnes derzeit das Schicksal jedweder Art. Als ob es alle dazu ermuntern würde, hierherzukommen, um sich seinen Teil abzuholen. Jedenfalls hatte sie das Mädchen nie zuvor gesehen. „Wie heißt du?“
„Leni.“
„Ein hübscher Name.“
Das Mädchen lächelte vage. „Danke. Und Sie?“
„Annie.“
„Auch ganz okay.“
Annie konnte sich nicht helfen, die Kleine kam ihr bekannt vor. „Bist du von zuhause weggelaufen?“
„Nein, ich mache nur einen Spaziergang.“
„Worüber deine Eltern informiert sind?“ Sie war bestimmt kaum älter als zwölf oder dreizehn Jahre.
Leni senkte den Blick. „Es wird nicht weiter auffallen, dass ich weg bin. Außerdem wollte ich in Ruhe telefonieren. Muss mein Dad nicht unbedingt mitkriegen.“
„Ein Junge?“ Annie dachte unweigerlich an Roger. Dieser Arsch!
„Nein“, entgegnete Leni und zog ein goldenes Handy aus der Hosentasche. Ein ähnliches hatte der Angeber von heute Morgen auch gehabt. „Ich schätze, der Mann ist bereits über siebzig oder so.“
„Du liebe Zeit, mit einem so alten Mann solltest du dich besser nicht einlassen.“
Jetzt grinste die Kleine. „Nicht, was Sie denken. Ich bin auf einer geheimen Mission. Und nun muss ich weiter, sonst fliegt er ab, ohne dass ich ihn warnen konnte.“ Schon lief Leni an ihr vorbei. Annie schaute ihr kopfschüttelnd nach, bis sie an der Ecke verschwunden war. Dann eilte sie ebenfalls weiter, denn sie wollte dorthin, wo sie einst so glücklich war.
3. Kapitel

Das Geschäft des Großvaters lag verwaist da, als Annie langsam über den kiesbestreuten Parkplatz heranfuhr und schließlich das Auto abstellte. Mit Tränen in den Augen legte sie die Hände auf das Lenkrad und betrachtete das Haus, in dem sie so viel Geborgenheit und Liebe gefunden hatte. In den Fenstern spiegelten sich die Klippen und das Meer. Es verlieh dem Geschäft etwas Lebendigkeit, denn die Fassade war ansonsten trostlos grau. Da half auch der Apfelbaum wenig, denn er würde nie wieder blühen – noch Blätter oder Früchte haben. Seltsamerweise war er nur ein Jahr nach dem Tod des Großvaters abgestorben, was sich niemand erklären konnte. Eigentlich hätte er längst entfernt werden müssen, aber Annie hätte es das Herz gebrochen, weil auch die Bank damit fort wäre, die inzwischen ziemlich verwittert war.
Von Erinnerungen übermannt stieg Annie aus und ging auf den Eingang zu. Kurz kramte sie in ihrer Tasche nach dem Schlüssel und sperrte wenige Sekunden später auf. Als sie das Geschäft betrat, war es, als wäre die Zeit stehengeblieben. Wie das kleine Mädchen von damals blickte sie sich ehrfürchtig um und glaubte, trotz des abgestandenen Geruchs den vertrauten Duft von Äpfeln wahrzunehmen.
Wehmütig ging sie am Verkaufstresen mit den leeren Glasvitrinen vorbei, blieb vor dem Werktisch unter dem dreieckigen Fenster stehen und blickte auf die Küste. Eine Weile vertiefte sie sich in den Anblick, bevor sie sich bückte und das lose Dielenbrett anhob. Mit zitternder Hand nahm Annie das Kästchen und stellte es vor sich auf den Boden. Dann holte sie den Brief aus dem Geheimversteck, den ihr Grandpa kurz vor seinem Tod dazugelegt haben musste. Liebe Annie, stand in seiner kaum leserlichen Schrift da, Wenn du diese Zeilen liest, werde ich nicht mehr bei dir sein, denn mein Weg ist bald zu Ende. Ich spüre es deutlich. Mit jedem Tag ein bisschen mehr. Nichts fällt mir schwerer, als dich zu verlassen und doch ist es der Lauf des Lebens. Aber ein Teil von mir wird bei dir bleiben, so wie ein Teil von mir damals mit Olivia starb. Was wir dir jedoch beide hinterlassen ist der Glaube an die wahre Liebe. An Magie und an Wunder. Ja, Annie, ich glaube fest daran. All das befindet sich vielleicht in diesem Kästchen. Doch öffne es erst an deinem dreißigsten Geburtstag. Ich habe das Gefühl, dass es so sein soll. So, und nicht anders. Und vergiss nicht: Alles kommt zur rechten Zeit. Auch die Liebe, die ebenfalls ein Wunder ist. Dein Grandpa Randall.
Mit Tränen in den Augen glitt Annie zärtlich über das Herzschloss, das sie in Gedanken schon oft aufgesperrt hatte, aber das Geheimnis musste warten. Nicht nur, weil es der letzte Wille ihres Grandpas war – sondern weil seine Worte weise klangen, als müsste es tatsächlich genauso sein. Dennoch war sie natürlich neugierig. Um nicht in Versuchung zu kommen, das Kästchen vor Ablauf der Zeit zu öffnen, bewahrte sie den Schlüssel zuhause auf.
Annie wischte die Tränen fort, legte den Brief und das Kästchen zurück, schob das Dielenbrett darüber und erhob sich. Gedankenverloren blickte sie auf den Werktisch. Ein paar Wachsmodelle lagen darauf, die als Vorlage für Schmuckstücke gedient hatten. Der Stuhl stand schief da, als hätte ihn ihr Grandpa gerade erst verlassen. Meistens hatte er hier gesessen und ziseliert, gelötet, gegossen, geschmolzen, geätzt oder gefräst. In den kleinen Samtschatullen am oberen Tischrand befanden sich Holz, kleine Metallstücke, Perlen, Glas und Zirkonia-Steine, die längst nicht mehr glänzten, weil sie von einer Staubschicht bedeckt waren. Wie die Maschinen zum Kratzen oder Walzen, das Poliergerät oder der Brennofen, die auf dem Beistelltisch standen. Daneben lagen Sägen, Pinsel, Schablonen, Bohrer, kleine Hämmerchen, Zangen, Winkelmesser, Gravurstifte, Metallscheren und anderes in der üblichen Unordnung. Ihr Grandpa hatte das Chaos gebraucht wie die meisten Künstler und nirgends spürte Annie seine Nähe mehr als hier. Seine Liebe sowie das Wissen, dass er bei ihr war. Er hätte bestimmt gewusst, wie sie mit allem umgehen sollte. Oder zumindest Worte gefunden, um sie aufzumuntern, denn allmählich war ihr Stolz ziemlich angekratzt. Zuerst wurde sie eine Arbeit nach der anderen los, nun heiratete Roger diese Trish und über kurz oder lang würde sie womöglich das Geschäft verlieren. Konnte es noch schlimmer kommen?
Ein Geräusch schreckte sie hoch. Annie wandte sich um und blickte zum Fenster neben der Eingangstür. Als sie Harrys Wagen erkannte, kam Wut in ihr hoch. Brachte er ihr die Papiere höchstpersönlich vorbei, um sich an ihrem Elend zu weiden?
Zu allem entschlossen eilte sie aus dem Geschäft. Als Mister Flatley aus dem Auto stieg, blieb sie abrupt am Eingang stehen. Was wollte der denn hier? Hatte er es sich anders überlegt und sie musste die Rechnung doch bezahlen? Kurz schossen ihr auch Roses Worte durch den Kopf, die sie jedoch sofort beiseite wischte. Humbug, nichts weiter
„Sieh an, so klein ist die Welt“, meinte er nicht weniger überrascht, als sie sich fühlte, während er die Autotür zuschlug und auf sie zukam. „Ich habe mir schon gedacht, dass ich das Vehikel von irgendwoher kenne.“
„Was tun Sie mit Harrys Wagen?“, ging sie nicht auf seine Beleidigung ein.
„Er hat ihn mir geliehen. Meine Limousine ist hinüber.“ Mister Flatley stand dicht vor Annie und sein Roger-After-Shave hatte diesmal eine noch verheerendere Wirkung auf sie, denn sie hörte förmlich Hochzeitsglocken läuten. Durchdringend und laut.
„Harry leiht niemandem sein teures Spielzeug.“
„Mir schon“, meinte Flatley selbstherrlich. „Ich schätze, dass ich sein Vertrauen genieße.“
„Oder er lässt sich gut dafür bezahlen. Sie nehmen sich ja gern Bedürftigen an.“
„Wieso wetzen Sie die Nägel? Sind Sie immer noch nicht über die Kündigung hinweg?“
„Die habe ich bereits vergessen“, wetterte Annie, „immerhin ist sie einige Stunden her.“
„Eben. Deswegen sollten Sie fleißig neue Bewerbungen schreiben. Von nichts kommt nichts.“ Seine stoische Ruhe schürte ihren Zorn, als würde jemand auf schwelende Glut blasen. Noch dazu wanderte Flatleys Blick ständig zum Geschäft, statt dass er ihr in die Augen schaute.
„Sie haben ja keine Ahnung“, presste sie zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor. „Nebenbei erwähnt: Heute nannten Sie mich unhöflich, weil ich Sie beim Reden nicht angesehen habe. Wie nennen Sie das, was Sie im Augenblick tun?“
„Ausgleichende Gerechtigkeit“, blies auch er zum Angriff, konzentrierte sich jedoch unvermittelt auf sie. Die Intensität seiner blauen Augen verunsicherte Annie plötzlich und nun wäre es ihr doch lieber gewesen, wenn er überall hingesehen hätte, nur nicht in ihr Gesicht.
„Warum betrachten Sie ständig das Geschäft meines Großvaters?“, wollte sie wissen, um irgendwas zu sagen.
In seinen Augen flackerte etwas auf. „Das Haus gehört Ihrem Großvater?“
„Es gehörte ihm. Grandpa ist gestorben und hat es mir hinterlassen.“
„Dann sind Sie also tatsächlich Annie … Murphy?“
„Woher kennen Sie meinen Nachnamen?“
„Keine Ahnung.“ Es war eindeutig, dass er ihrer Frage auswich. „Ich habe ihn vermutlich irgendwo aufgeschnappt.“ Er blickte sich um. „Eine wirklich schöne Lage.“
Annie hatte das Gefühl, dass es doch schlimmer werden konnte. Obwohl sie keine Ahnung hatte, aus welcher Ecke der nächste Angriff erfolgen würde. „Sonst noch etwas, Mister Flatley?“
„Ja: Haben Sie zufällig meine Tochter gesehen? Braune Zöpfe, grelle Latzhosen und ziemlich frech?“
„Wenn Sie Leni meinen, die habe ich getroffen“, kombinierte Annie und wusste nun, warum ihr das Mädchen bekannt vorkam. „Allerdings fand ich sie äußerst reizend.“
„Wo haben Sie meine Tochter gesehen?“, überging er ihre Aussage und wirkte auf einmal schlicht und ergreifend wie ein besorgter Vater. Also war er verheiratet. Die arme Frau!