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„Darauf trinke ich.“ Emma hob die Flasche in die Höhe, dann rieselte das Kribbelwasser ihre Kehle hinunter. Allmählich spürte sie, wie sich ein warmes Gefühl in ihr ausbreitete und sich die Stadt verzerrte. Vielleicht reichte der Sekt doch? „Sind Sie mit dem Auto da?“, kam ihr plötzlich eine Idee, während sie sich die Flasche an die Brust drückte.
„Ja, warum fragen Sie?“
„Leihen Sie es mir?“, bat Emma.
„Bestimmt nicht. Sie haben getrunken.“
„Dann fahren Sie mich. Ich zahle natürlich.“
Der Unbekannte begradigte sich. „Wollen Sie zu ihm?“
Emma nickte und fuhr sich tastend über den Dutt. „Ich brauche Gewissheit“, flüsterte sie. „Und muss mit eigenen Augen sehen, dass es so ist. Sonst erzählt er mir wer-weiß-was und ich dumme Pute wäre imstande ihm zu glauben. Weil ich leider Gottes so gemacht bin. Bloß keine Konfrontation, immer schön kuschen, um die Harmonie nicht zu zerstören. Dabei sollte ich endlich aufwachen. Immerhin musste ich bisher auf die harte Tour lernen, dass das Gute nicht immer siegt, so wie die Hoffnung manchmal schon gestorben ist, bevor man sie fühlt.“
Er räusperte sich. „Ich will mich nicht in Ihr Leben einmischen, aber gelegentlich sollte man eine Nacht darüber schlafen, um klarer zu sehen.“
„Irrtum. Manches wird selbst nach tausend Stunden Schlaf nicht klarer.“ Emmas Schultern sanken herab. „Wollen oder können Sie mir nicht helfen?“
„Wir kennen uns erst seit zehn Minuten! Haben Sie keine Freunde?“
„Natürlich, aber sehen Sie einen von ihnen?“, keifte Emma. „Momentan sind Sie mein einziger und könnten ruhig für mich da sein.“
Ein genervtes Seufzen war die Antwort. „Wissen Sie denn, wo er ist?“, schob er wenig begeistert nach.
„Ich nicht. Jemand anders schon …“

„Ich fühle mich, als würden wir einen Verbrecher observieren“, offenbarte der Unbekannte, nachdem sie unweit vor dem Noblesse-Hotel geparkt hatten. Die Scheiben seines blauen Hondas waren angelaufen. Dank des Gebläses, das auf Hochtouren lief, hatten sie jedoch bald klare Sicht.
„Das tun wir ja auch“, antwortete Emma abwesend. „Wir observieren meinen zukünftigen Ex-Mann und Verbrecher der übelsten Sorte.“ Sie hielt die inzwischen leere Sektflasche fest, als wäre sie ein Rettungsanker. Der Anruf bei Linda hatte sie jede Menge Mut gekostet. Sie abzuwimmeln noch viel mehr, denn die Freundin wollte sofort zu ihr. Doch Emma brauchte keine Zeugen und keinen, der ihr zu Hilfe eilte. Da musste sie alleine durch. Allerdings war die Theorie ein Ponyhof gegen die praktische Absicht, Brandon stellen zu wollen. Kein Wunder, dass sie die Prickelbrause förmlich in sich hineingeschüttet hatte und sich nun mit den Nebenwirkungen herumplagte. Zuerst hatte sie einen Schluckauf gehabt, jetzt stellte sich leichter Kopfschmerz ein. „Dafür wird er büßen, das schwöre ich Ihnen.“ Zwar zählte der Unbekannte ebenfalls zu einem Zeugen, aber im besten Fall würden sie sich danach nie wiedersehen.
„Noch fehlen Ihnen die Beweise.“ Natürlich half diese Spezies im Notfall zusammen! „Er könnte den Fernseher angehabt haben. Schon mal daran gedacht?“
„Oder er betrügt mich schlicht und ergreifend“, stellte Emma fest und hörte selbst, dass sie ihre Zunge nicht mehr ganz unter Kontrolle hatte. „Heuchelt mir Verständnis für meine Arbeit vor, um freie Bahn zu haben. Von wegen, er hat so viel zu tun und weiß nun, wie es mir geht.“
„Sie sind betrunken und obwohl ich mich ungern wiederhole, rate ich Ihnen lieber ins Bett zu gehen. Morgen sieht die Welt sicher anders aus. Abgesehen von Ihrem Kater.“
„Der ist im Augenblick mein geringstes Problem.“ Emmas Blick heftete sich auf die Leuchtreklame. Das grelle Licht schmerzte in den Augen wie der Gedanke an Brandons möglichen Betrug ihr Herz verletzte. Aber tat sie tatsächlich das Richtige? Hatte der Mann womöglich recht und sie sollte lieber nach Hause fahren? Andererseits hätte sie morgen keinen Mumm mehr, um sich der Situation zu stellen. Weil sie in jeder Lebenslage bevorzugt die Augen verschloss. Konnte es sein, dass sie deshalb viele Zeichen übersehen hatte? Im Grunde lebten Brandon und sie wie Geschwister zusammen, tauschten weder Zärtlichkeiten aus noch hatten sie übermäßig viel Sex. Und wenn, war er vorbei, bevor sie bis drei zählen konnte. Meistens war sie von der Arbeit ohnehin so kaputt, dass sie sogar froh darüber war, wenn er sich danach zur Seite drehte und einschlief.
„Worauf habe ich mich bloß eingelassen“, verschaffte sich ihre neue Bekanntschaft Luft. Dabei rieb er die Hände aneinander, als wäre ihm kalt. „Sollen wir die ganze Nacht warten oder wie haben Sie sich das vorgestellt, Sherlock?“
„Keine Ahnung, Watson.“ Trotz der ernsten Situation musste sie lachen. „Aber ich habe nicht vor, mir in Ihrem Auto den Allerwertesten abzufrieren.“
„Sondern?“
„Ich werde in das Hotel stürmen und nach Brandons Zimmernummer fragen.“ Nur der Gedanke daran verstärkte ihr Kopfweh.
„Die man Ihnen natürlich sofort gibt.“
„Habe ich schon erwähnt, dass ich Sarkasmus hasse?“, ärgerte sie sich. Schon wieder wurde sie von seiner Vernunft gestoppt, obwohl sie erneut Fahrt aufgenommen hatte.
„Und ich hasse Aktionen wie diese. Eigentlich wollte ich in Ruhe über mein Leben nachdenken. Nun befinde ich mich mitten in einem Ehe-Krimi.“
„In London müssen Sie mit allem rechnen und …“ Emma unterbrach sich, weil sie auf ein Pärchen aufmerksam wurde, das Arm in Arm auf den Eingang des Hotels zu schlenderte. Die Frau wurde vom Licht erfasst. Sie trug einen roten Kapuzenmantel! Sofort musste Emma an Lindas Aussage denken und in der nächsten Sekunde mitansehen, wie der Mann die Frau an sich zog und hingebungsvoll küsste. Wie hypnotisiert starrte Emma auf die Liebenden und hatte ein untrügliches Gefühl im Bauch.
Beinahe mechanisch öffnete sie die Tür und stieg aus. Ihre Beine fühlten sich an wie Blei, als sie auf das Pärchen zuging. Die Frau stand mit dem Rücken zu ihr. Der Mann fuhr mit seinen Händen zärtlich über ihre Schultern. Sein Goldring blitzte auf.
„Ich liebe dich“, hörte Emma ihn sagen, als sie sich voneinander lösten. Eine Stimme, die sie unter Tausenden erkannt hätte. Brandons Stimme! Und weil ihn das Licht nun ebenfalls erfasste, bekam sie das Gesicht gratis dazu. „Deshalb werde ich morgen mit Emma reden. Nach unserem Telefonat ist sie ohnehin im Bilde und sogar sie wird kapiert haben, was Sache ist.“
„Wie recht du hast“, entfuhr es Emma, deren Herz raste wie sie am ganzen Körper zitterte. Voller Wut und Enttäuschung über einen Betrug, für den sie keine Worte fand. Obwohl die Zeichen für seine Affäre untrüglich gewesen waren, traf sie seine Aussage dennoch, als wäre sie völlig unvorbereitet. „Was bist du bloß für ein Arschloch!“ Die Frau schien einen Stock verschluckt zu haben und ehe Emma sie aufhalten konnte, hetzte sie auf den Eingang zu. „Wer ist diese feige Schlampe? Und seit wann läuft das schon zwischen euch beiden?“
„Angie ist eine Kollegin“, bekannte er sofort Farbe. „Es ist einfach so passiert.“
„Einfach so?“, wiederholte Emma und begann zu schluchzen, obwohl sie sich vorgenommen hatte, ihm die Stirn zu bieten. „Was habe ich falsch gemacht?“
„Nichts … aber ich … Herrgott, schau dich an, Emma. Du läufst herum wie der letzte Penner. Außerdem müssen wir jeden Cent dreimal umdrehen. Dabei hast du einen stinkreichen Vater. Ich halte dieses ärmliche Leben einfach nicht mehr aus.“
„Vielleicht hätten wir mehr Geld, wenn du nicht alles für dieses Luder verschleudern würdest“, brüllte Emma, weil sie sich nicht mehr im Griff hatte. Sie fühlte sich verraten. So unendlich verraten. „Heute Rosen und morgen ein Ring. Dazu dieses Hotel. Wovon bezahlst du diesen Luxus?“
„Lass das meine Sorge sein und jetzt sollten wir die Unterhaltung beenden. Du wirkst angetrunken. Wir werden morgen darüber reden. In aller Ruhe.“
„Morgen wirst du deine Sachen packen!“, schleuderte Emma ihm entgegen, zog sich den Ehering vom Finger und warf ihn Brandon vor die Füße. Das billige Blech hatte ohnehin keinen Wert. Jetzt noch weniger als zuvor. „Aber nicht in aller Ruhe sondern in Windeseile. Ich will dich nicht mehr im Haus haben.“
„Das wird schwierig.“ Sein überheblicher Blick brachte sie endgültig zur Weißglut. „Oder hast du vergessen, auf wen der Kaufvertrag läuft? Du solltest packen und dir etwas Neues suchen.“
„Dad hat Geld in unser Haus investiert. Ich zahle von Anfang an die Raten. Dein Beitrag beläuft sich damit auf null. Kaufvertrag hin oder her, willst du dich tatsächlich mit uns anlegen?“
„Mit uns?“, stellte er sie bloß. „Wach endlich auf, Emma. Deinem Vater bist du scheißegal!“ Es war, als hätte ihr Brandon einen Fausthieb verpasst. „Und um es mit mir alleine aufzunehmen reicht dein Mut nicht. Das wissen wir beide. Ergo: Du wirst keinen müden Cent sehen, hast du das kapiert?“
„Allmählich regen Sie mich auf“, hörte Emma jemand hinter sich sagen und erinnerte sich wieder an den Unbekannten, der mit wütender Miene an ihre Seite trat. „Haben Sie es so nötig, ihre Frau fertig zu machen? Nach allem, was Sie ihr angetan haben? Davon abgesehen bin ich Zeuge Ihres Seitensprungs und kann das jederzeit beschwören. Vor Gericht stehen Ihre Karten somit schlecht, das prophezeie ich Ihnen.“
„Sagt wer?“ Brandon verengte die Augen. „Etwa Emmas Lover?“, unterstellte er ihnen mit dem nächsten Atemzug. „Demnach sind meine Frau und ich quitt.“
„Gar nichts sind wir“, fauchte Emma. „Ich weiß nicht einmal wie der Typ heißt. Aber er hat mehr Stil als du.“ Wie recht Linda hatte. Brandon war ein Aas!
„Schön.“ Ihr Mann schlug den Jackenkragen hoch. „Dasselbe gilt für Angie. Du reichst nicht im Entferntesten an ihre Klasse heran, Emma. Und jetzt leb wohl.“ Er wollte sich abwenden, doch als wäre ihm etwas eingefallen, wandte er sich zu ihr um. „Ich habe dich gemocht, das ist die Wahrheit“, sagte er und hatte alles Beißende in der Stimme verloren. „Aber Liebe war es nie, sondern nur dein Name. Hätte ich Chancen bei einer deiner Schwestern gehabt, wäre eine von ihnen meine erste Wahl gewesen. Wie Angie sind sie Vollblutweiber, deshalb gebe ich dir einen guten Rat: Blättere hin und wieder in einem Modekatalog. Auf Dauer genügt keinem Mann nur eine nette Frau, die du ohne Zweifel bist.“ Damit drehte er sich um, eilte zum Eingang und hinterließ Fußspuren im Schnee. Wie eine Metapher. Er würde ab jetzt seinen Weg alleine weitergehen. Ohne Emma, die sich haltlos fühlte und gedemütigt bis ins Mark.
„Soll ich Sie nach Hause bringen?“, erkundigte sich der Unbekannte mit sanfter Stimme.
„Ich habe kein Zuhause mehr.“ Emma setzte sich in Bewegung. Ahnungslos darüber, wohin sie gehen sollte. „Danke, dass Sie mich hergebracht haben.“ Auf einmal strauchelte sie und spürte seine kräftigen Arme, die ihre Schultern umfingen. Kurz blickten sie sich an, bevor er sie losließ.
„Mein Magen knurrt“, murmelte er. „Sollen wir etwas essen gehen?“
„Ist das Ihr Ernst?“ Sie betastete unter Tränen ihren Dutt. „Eigentlich müssten Sie froh sein, mich loszuwerden. Ich stehe kurz vor einem Heulkrampf und mitten in den Scherben meines Lebens. Wollen Sie sich das wirklich antun?“
„Wieso nicht? Sie sind momentan genauso einsam wie ich“, erwiderte er. „Deshalb wäre ich ziemlich dumm, wenn ich Sie gehen ließe, Sherlock. Also, sind Sie dabei?“
Kurz danach aßen sie einen Burger bei einem Imbiss-Stand. Einige dunkle Gestalten lungerten unweit davon herum. Alleine hätte sich Emma gefürchtet, doch die Gegenwart des Unbekannten nahm ihr jegliche Angst. Er hatte eine Aura, die beruhigend wie einschüchternd wirkte. Nebenbei verfügte dieser Mann über einen gesegneten Appetit. Nach zwei Minuten war sein Burger Geschichte. Im Gegensatz zu Emmas, die dem Fremden schließlich ihren angebissenen reichte, den er nur zu gerne aß. Nachdem Emma schluchzend ein großes Glas Cola getrunken hatte, fühlte sie sich allmählich ernüchtert - in jeglicher Hinsicht. Leider katapultierte sie das umgehend in eine noch rauere Wirklichkeit zurück, die sich anfühlte, als würde jemand mit kalten Nadeln über ihre Haut fahren. Nun war sie wieder Single und auf sich alleine gestellt. Das machte ihr eine Heidenangst. Von dem Vertrauensbruch ganz zu schweigen und Brandons Feststellung, wie wenig feminin sie wirkte. Sicher, es war nicht ganz aus der Luft gegriffen, trotzdem schmerzte es. Insbesondere die Tatsache, dass sie ständig als letzte Wahl abgestempelt wurde.
Abwesend blickte Emma auf eine Gruppe junger Frauen, die an ihnen vorbeiging. Als eine von ihnen dem Unbekannten verheißungsvolle Blicke zuwarf, konzentrierte sie sich jedoch auf ihr Gegenüber. „Sie erinnern mich an jemand“, stellte Emma bei genauerer Betrachtung fest und wurde sich bewusst, dass er sogar im flackernden Neonlicht ziemlich attraktiv war mit dem blonden Haar, den hellblauen Augen, dem markanten Gesicht und der energischen Nase. Der schätzungsweise Fünftagesbart machte ihn noch männlicher als ohnehin. Allerdings erinnerte er an einen Sonnyboy, an dem sich eine Frau bestimmt die Finger verbrennen würde. Er vernaschte bestimmt eine nach der anderen, wie in einem Selbstbedienungsladen. Aber Emma musste zugeben, dass er eine sehr nette Art hatte.
„Lassen Sie mich raten, an wen ich Sie erinnere“, meinte er mit sauertöpfischer Miene. „Brad Pitt?“ Er wischte sich mit der Serviette über den Mund, nachdem er den Pappteller von sich geschoben hatte, auf dem ausgequetschte Ketchup-Päckchen lagen.
„Normalerweise würde ich Sie spätestens jetzt für ziemlich arrogant halten“, beanstandete Emma, „allerdings ist der Vergleich nicht schlecht. Doch den meine ich nicht.“
„Gut. Bei mir zuhause wird das nämlich ständig behauptet. Ich kann es nicht mehr hören.“
„Fühlen Sie sich etwa nicht geschmeichelt?“
Er zerknüllte die Serviette und warf sie auf den Pappteller. „Sie haben ja keine Ahnung.“ Sein spöttisches Lächeln hatte was. „Also: Sie machen mich neugierig. An wen erinnere ich Sie?“
„Jetzt weiß ich es“, rief Emma aus, „an Rúrik Gíslason.“
„Wer soll das sein?“ Er wirkte nicht gerade glücklich. „Eine Comic-Figur?“
„Ein isländischer Fußballer.“
„Sie interessieren sich für Fußball?“ Wieder dieses spöttische Lächeln!
„So ähnlich“, räumte sie verlegen ein. „Manche Spieler fallen einem regelrecht ins Auge und entgegen Brandons Behauptung nehme ich dann und wann durchaus eine Modezeitschrift in die Hand.“ Nur die Erwähnung seines Namens stieß ihr das Cola sauer auf.
„Sie erinnern mich übrigens auch an jemand“, behauptete der Unbekannte.
„Lassen Sie mich raten“, tat es ihm Emma nach und versuchte ein ähnliches Gesicht zu machen wie er zuvor. Allerdings bedurfte es wenig Mühe, weil sie an Brandons Vorwürfe denken musste. War sie tatsächlich so unsexy? „An die Filmfigur Bridget Jones?“
Sein Lachen hatte etwas Ansteckendes. „Weit daneben. Ich würde sagen …“ Er studierte sie so intensiv, dass ihr heiß wurde. Das war bestimmt die nächste Nachwirkung vom Sekt! „Sandra Bullock. Dieselben rehbraunen Augen, eine ähnliche Haarfarbe und Sie haben dieses verschmitzte Etwas.“
„Damit kann ich gut leben“, stellte Emma erfreut fest. Ob dieser Mann ehrlich war oder nicht, sein Kompliment tat gut. Ebenso wie das anschließende Schlendern durch die Straßen. Sie sprachen kein Wort. Trotzdem war es kein angespanntes Schweigen. Die Stille tat gut wie die frische Luft. Noch dazu waren kaum Menschen unterwegs, obwohl London niemals schlief.
„Möchten Sie eigentlich gar nicht wissen, wie ich heiße?“, fragte er plötzlich, als sie in die Regent Street einbogen und Richtung Piccadilly Circus spazierten.
„Nein“, entschied Emma. „Es ist nett mit Ihnen und scheinbar waren Sie zur rechten Zeit am richtigen Ort. Ein Mann, der aus dem Nichts kam und bald dorthin zurück verschwindet. Ich schätze, wir werden uns nicht wiedersehen.“
„Stimmt. In einigen Stunden breche ich auf.“
Erneut schwiegen sie. Betrachteten die üppige Weihnachtsbeleuchtung, die den Schnee zum Glänzen brachte. Wie eine Sahnehaube lag er auf den Bäumen, Bänken und Zäunen, während der Wind über die Dächer fuhr. Emma hatte das Gefühl, als wären Tage vergangen und nicht wenige Stunden, in denen sich ihre Welt völlig verändert hatte. Als hätte jemand ein T-Shirt umgestülpt und nun musste sie zusehen, wie sie es am besten tragen konnte.
„Haben Sie jemals einer Frau wehgetan?“, erkundigte sich Emma und nagte an ihrer Unterlippe. „Sind Sie verheiratet?“
„Das war ich und ja, es gibt viele, denen ich übel mitgespielt habe.“ Sie ahnte, dass er trotz seiner Aussage an eine bestimmte Frau dachte. „Annie war so eine. Sie ist toll und ich hatte sie gern. Aber das genügt eben nicht auf Dauer.“ Sofort kam ihr Brandon in den Sinn. Nein, gernhaben genügte tatsächlich nicht. „Meine Eltern führten eine ziemlich miese Ehe. Dad hatte ständig andere Frauen, was er gut zu vertuschen wusste. Niemand in unserem kleinen Ort weiß davon und Vater redete mir ständig ein, dass ich lieber mein Leben genießen soll, statt mich zu binden.“ Er seufzte. „Ich ließ es ziemlich krachen, bis ich Annie wiedertraf. Wir wurden ein Paar, doch ich merkte schnell, dass ich für Kompromisse nicht bereit war. Trotz unserer Beziehung zog ich mein Ding durch. Eigentlich ein Indiz dafür, dass es nicht die wahre Liebe ist. Dann begegnete ich Trish und betrog Annie mit ihr.“ Emma empfand sofort Mitleid mit dieser Annie. „Zu meiner Ehrenrettung muss ich allerdings sagen, dass ich wirklich in Trish verschossen war. Dennoch machte ich Annie an meinem Junggesellenabend an, weil ich … ach, lassen wir das. Jedenfalls habe ich Trish geheiratet und kurz danach ließen wir uns wieder scheiden. In den folgenden Monaten stürzte ich mich in zahllose Abenteuer und habe sogar bei der Arbeit getrunken. Bis ich vor kurzem eine Abmahnung erhielt. Jemand hat mich angeschwärzt. Anfangs war ich ziemlich sauer. Mittlerweile bin ich froh darüber, weil es wie ein Weckruf war.“
„Wieso ist Ihre Ehe in die Brüche gegangen? Haben Sie Trish ebenfalls betrogen?“
„Ich war nicht immer ein Schwein. Obwohl ich alles dafür getan habe, um dafür gehalten zu werden“, blockte er ihre Frage ab und blieb stehen. Emma tat es ebenso.
Es war seltsam, zu einem beinahe Wildfremden aufzublicken. Mit ihm in der Kälte zu stehen, die nicht spürbar war. In seine Augen zu schauen, die etwas Geheimnisvolles, aber auch etwas Trauriges hatten. Die Gesichtszüge im sanften Licht des Schaufensters zu erkunden, die das Leben gezeichnet hatte. Seinen Atem auf der Haut zu fühlen und ihm in diesem Augenblick näher zu sein als irgendeinem anderen Menschen auf dieser Welt.
Auf einmal berührte seine Hand ihr Kinn. Emma verlor sich in den unergründlichen Augen. Seine Lippen näherten sich und dann küsste er sie. Sanft und zärtlich. Wie der Flügelschlag eines Schmetterlings. Doch ehe sie reagieren konnte, ließ er sie los und winkte ein Taxi heran, das sofort an den Straßenrand rollte. Zuvorkommend öffnete der Unbekannte die Tür.
„Leben Sie wohl“, raunte er. Mit klopfendem Herzen und leisem Bedauern in sich blickte Emma zu ihm hoch, bevor sie sich ins Taxi setzte. Das Leder knirschte, als sie sich zurücklehnte. „Danke für diesen unvergesslichen Abend, Sherlock.“ Er lächelte.
Die Tür schlug zu. Das Taxi fuhr an. Emma drehte sich um und schaute durch die Heckscheibe. Unbeweglich stand der Mann inmitten des Schneetreibens und sie glaubte, seinen Blick auf sich zu spüren. Kurz erwog sie, den Chauffeur anhalten zu lassen und den Unbekannten nach seinem Namen zu fragen. In der nächsten Sekunde schalt sie sich eine Närrin. Er hatte sie getröstet. Ihr geholfen und sie aus der Laune eines Augenblickes heraus geküsst. Auf den Trümmern ihres Lebens. Die galt es zu beseitigen, statt irgendeinem Zauber hinterherzulaufen, den dieser Abend jedoch zweifelsohne gehabt hatte.
2. Kapitel

„Wie romantisch!“, rief Linda aus, die klirrend ihre Kaffeetasse auf den Unterteller zurückstellte. „Und du hast wirklich keine Ahnung, wer der Typ ist?“
Emma zuckte mit den Achseln. „Nein. Aber dieser Mann ist im Augenblick meine geringste Sorge“, schwindelte sie, obwohl sie ständig an die vergangenen Stunden denken musste. Mitsamt der Frage, ob das tatsächlich passiert war. „Immerhin steht mir eine Scheidung bevor und wenn ich Brandon richtig verstanden habe, gibt es einen Rosenkrieg.“
„Na ja, wie ein Häufchen Elend wirkst du nicht auf mich.“ Linda schob den kleinen runden Spiegel zu sich und griff nach dem Lipgloss neben der Blumenvase mit den Plastikrosen, die ihr Grant vor Jahren zum Geburtstag geschenkt hatte. Die roten Blüten waren vom Sonnenlicht ausgeblichen und staubig wie der Rest ihrer Wohnung. Lindas Perfektion hörte nicht nur am Reißverschluss ihrer Tasche auf, sondern auch an der Türschwelle. Sie war keine geborene Hausfrau und schenkte diesem Teil ihres Lebens nur wenig Aufmerksamkeit. Ganz nach dem Credo: Es wäre schade um die vergeudete Zeit. „Du wirst es schon schaffen.“
„Mir graut bereits jetzt davor“, bekannte Emma. „Allein der Gedanke, dass ich zu einem Anwalt muss. Dabei habe ich mir mein Leben anders vorgestellt.“
„Schätzchen, du hast es dir schöngeredet. Wie so einiges in den vergangenen Jahren.“ Gekonnt zog Linda ihre Lippen nach, die rosafarben schimmerten. Wie die Augenlider und ihre Wangen. Ein hübsches Make-up. Nicht zu viel und nicht zu wenig. Emma kramte in ihrer Erinnerung, wann sie sich selbst zuletzt geschminkt hatte. Es musste beim Abschlussball gewesen sein. Mit dem Ergebnis, dass sie aussah wie nach einem Verkehrsunfall, weshalb sie sich kurzerhand abgeschminkt hatte. „Du hast dich an Brandon festgekrallt, weil du dich seit deiner Kindheit nach Liebe sehntest. Wenn du ehrlich in dich gehst, wirst du feststellen, dass er nicht das Gelbe vom Ei war. Brandon war weder romantisch noch hat er dich auf Händen getragen.“
„So was erlebt man ohnehin nur als Schauspielerin in schnulzigen Filmen.“ Im Nachhinein betrachtet kam die Begegnung mit dem Unbekannten dem ziemlich nahe …
„Wie gesagt: Im Schönreden bist du einsame Spitze.“ Linda legte den Lipgloss neben den Spiegel und griff erneut zur Tasse mit dem Zwiebelmuster und dem Goldrand. Das edle Porzellan gehörte zu einem Service, das sie von ihrer Großmutter geerbt hatte. So wie Linda stets alles bekam, die als Einzelkind aufwachsen durfte. Behütet und umsorgt von ihren Eltern, die am Stadtrand wohnten. „Früher warst du sicher eine Schnecke“, behauptete Linda wenig schmeichelhaft, nippte an der Tasse und stellte sie mit spitzen Fingern wieder zurück. Sie hatte sich gerade die Nägel blau lackiert. „Auch in diesem Leben verziehst du dich meistens in dein Häuschen, aber sobald du dich ungerecht behandelt fühlst, traust du dich kurz heraus. Nur um dich anschließend erneut zu verkriechen und die Scherben mitzunehmen, die du verursacht hast. Im Glauben, dass du wieder einlenken musst. Wie bei deinen Eltern. Harmonie ist aber nicht alles, Emma. Vor allem nicht um jeden Preis. Ein Wunder, dass du nicht schon längst daran kaputtgegangen bist, womit wir wieder bei Brandon wären. Erinnere dich zurück. Damals, als wir jung waren“, stocherte Linda weiter in Emmas Leben herum, „hast du dir oft ausgemalt, wie dein Mann sein müsste. Zärtlich, liebevoll und dass er dir das Gefühl geben sollte, das Wichtigste für ihn zu sein. Was hast du stattdessen gekriegt? Einen Mann, der nach wenigen Monaten auf der Couch herumlungerte und dich nicht einmal mehr vom Dienst abgeholt hat. Kein Hochzeitstag, kein Geburtstagsgeschenk, keine Überraschungen. Du nahmst es hin und hast deine Erwartungen so weit heruntergeschraubt, dass sie mittlerweile irgendwo im Nirgendwo vor sich hinvegetieren.“
Emma zupfte am Croissant herum, das ohnehin krümelte, weil es staubtrocken war. „Brandon hätte sich eine attraktive Frau gewünscht“, ließ sie das Gespräch Revue passieren. „Sexy und verführerisch. Stattdessen hat er Restware bekommen.“
„Brandon hat von Anfang an ein falsches Spiel getrieben“, ließ Linda kein gutes Haar an ihm und innerlich rupfte Emma munter mit, was das Croissant zu spüren bekam. „Wenigstens ist er zum ersten Mal ehrlich gewesen. Allerdings hat er dich nicht im Mindesten verdient, weil Liebe nicht dort aufhört, wo Aussehen und Geld anfangen. Nimm zum Beispiel diesen fremden Typen. Er hat dich geküsst und das bestimmt nicht aus Jux und Tollerei. Es liegt auf der Hand, dass du ihn beeindruckt hast.“