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Abrupt verschonte Emma das wehrlose Croissant, fuhr sich durch das offene Haar und schaute an sich herunter. Sie trug immer noch die ausgewaschene Jeans und den weiten grauen Pullover. Der Wintermantel aus grauer Vorzeit hing in Lindas Garderobe, bei der sie um fünf Uhr auf der Matte gestanden hatte. Heulend. „Im Schönreden bist du auch nicht ohne“, meinte Emma und lächelte, was Linda strahlend erwiderte. Eine bessere Freundin als sie gab es nicht. Ohne zu zögern hatte Linda ihr Obdach gegeben, sie in eine warme Decke gehüllt, heiße Schokolade gemacht und nach der ausgiebigen Heul-Arie ein üppiges Frühstück gezaubert. Seit einer Stunde saßen sie nun hier. „Ich habe dich und Grant echt scheiße behandelt“, entschuldigte sich Emma und nahm Lindas Hand, wobei sie darauf achtete, nicht die Nägel zu berühren.
„Das ist längst vergessen.“ Ein sanfter Druck folgte. „War ja auch hart, was ich dir vor die Füße geknallt habe. Allerdings kann ich mich mit dem Ausgang des Abends sehr gut anfreunden. Noch dazu hast du eine Flasche Sekt getrunken. Da fragt man sich schon: Wer bist du und was hast du mit meiner Freundin getan?“
Emma zog grinsend ihre Hand zurück. „Du tust gerade so, als wäre ich eine Heilige.“
„Na, na, wir wollen nicht übertreiben. Allerdings auch nicht untertreiben.“ Linda schaute auf ihre silberne Armbanduhr. „Ich muss allmählich los. Soll ich dich in die Stadt mitnehmen? Dein Dienst beginnt ja ebenfalls gleich.“
„Schon okay“, sagte Emma. „Ich werde mich krankmelden.“ Zwar fühlte sie sich körperlich fit - weil der erwartete Brummschädel ausblieb - trotzdem brauchte sie Zeit für sich. „Ich denke, nach allem was geschehen ist, kann ich ruhig einen Tag blaumachen. Und da mir Tiff sicher keinen Urlaubstag gewährt, muss ich eben zu dieser List greifen.“
Anerkennend pfiff Linda durch die strahlend weißen Zähne. „Das aus dem Mund der Frau, die freie Tage und Urlaube bisher für Gerüchte hielt. Ich finde es toll, dass du einige Dinge in deinem Leben änderst.“
„Eine Krankmeldung ist keine große Veränderung.“
„In deinem Fall schon.“ Linda zupfte mit Blick in den Spiegel an ein paar Haarsträhnen herum. „Tiff wird im Dreieck springen. Wie bedauerlich, dass ich das nicht live sehen kann! Deine Schwester war früher übrigens auch eine Schnecke, wegen dem Schleim und so.“ Kurz lachte Linda auf, bevor sich neuerlich ein verträumter Ausdruck in ihr Gesicht schlich. „Was für ein Jammer, dass ich diesen Typen nie kennenlernen werde. Er scheint einiges bei dir bewirkt zu haben.“
„Wie kommst du darauf, dass der Fremde irgendeinen Einfluss auf mein Leben hätte?“
„Keine Ahnung, immerhin hast du ihn geküsst.“
„Er hat mich geküsst.“ Emmas Puls beschleunigte sich.
„Wie auch immer, es kam zu einem Kuss. Dabei geht dir nichts über Treue. Geschweige denn, dass jeder Verehrer wochenlang warten musste, bis du dich küssen lassen hast.“
„Brandon hat mit seiner Affäre unsere Ehe beendet. Demnach war ich bei dem Kuss frei wie ein Vogel“, fühlte sich Emma dazu genötigt, sich zu verteidigen. „Aber bin ich wirklich so … so …“ Sie suchte nach dem passenden Wort. „Spießig? Langweilig?“
„Ein romantischer Spaziergang“, Linda schien plötzlich in anderen Sphären zu schweben, „ein Dinner bei der Imbissbude … Schneegestöber … sogar vor Brandon nahm er dich in Schutz. Ich sage nur: Drei Haselnüsse für Aschenbrödel“, hauchte sie den Titel ihres gemeinsamen Weihnachts-Lieblingsfilms, den sie sich seit über zehn Jahren inklusive Grant bei Linda anschauten.
„Der Unbekannte ist kein Prinz und ich nicht das Aschenputtel“, saugte Emma jegliche Romantik aus ihrer Unterhaltung. So gradlinig Linda ansonsten war, bei der Liebe setzte regelmäßig ihr Verstand aus.
„Nein, das bist du nicht“, wurde ihre Freundin ernst. „Aber du verhüllst dich, wie du ständig deine Gefühle versteckst. Im Glauben, dass du dieses oder jenes nicht verdienen würdest. Und klar, du hast keine böse Stiefmutter, trotzdem führst du ein ähnliches Schattendasein wie unser allseits geschätztes Aschenputtel. Von der Arbeit ganz zu schweigen, die Tiff dir aufs Auge drückt. Du schuftest tausendmal härter als sie und kriegst einen Hungerlohn. Wie ihr Gehalt aussieht, will ich mir gar nicht vorstellen. Dabei bist du das Zugpferd der Konditorei. Deine Eclairs sind der Hammer und zählen zu Londons Geheimtipp.“
„Jetzt übertreib mal nicht“, wurde Emma verlegen.
„Siehst du?“ Strafend blickte Linda sie an. „Du kannst nicht einmal Komplimente annehmen. Dabei stimmt es. Nicht umsonst nennt man dich die Zauberin der Carnaby Street.“
Natürlich war Emma diese Bezeichnung zu Ohren gekommen und insgeheim schmeichelte sie ihr sehr. Ein schöner Lohn für die harte Arbeit, das ständige Weiterbilden und die Kreativität, fortwährend neue Backrezepte aus dem Hut zu zaubern. „Ich wünschte, Dad könnte das genauso sehen“, beklagte sich Emma, die sich voller Bitterkeit fragte, wie ihr Vater wohl auf die Trennung von Brandon reagieren würde. Vermutlich mit dem Satz, dass er ohnehin immer gewusst hatte, dass diese Ehe nicht lange halten würde. „Genug lamentiert. Jetzt rufe ich im Geschäft an, bevor ich mir einen Anwalt suche.“
„Lieber eine Anwältin“, riet Linda, als sie sich erhob. Der edle Stoff ihres schwarzen Hosenanzuges glänzte im Schein des Tageslichtes, das durch die Panoramafenster fiel. „Frauen kämpfen mit härteren Bandagen, weil sie solidarisch mit uns sind. Also, Süße, mach es dir gemütlich. Du kannst so lange bleiben wie du willst. Wir sehen uns abends.“
Fünf Minuten später war Emma alleine im erlesen eingerichteten Appartement. Linda war Produkt-Managerin und verdiente gut, weswegen sie sich sowohl die Lage an der Themse als auch teure Möbel leisten konnte. Beruflich hatte ihre Freundin alles erreicht, privat fiel das Resümee leider traurig aus. Seit über sechs Jahren war sie Single nach einer überaus glücklichen Ehe, die der Tod von einer Sekunde auf die andere beendet hatte. Ihr Mann Willy starb bei einer Rafting-Tour. Er hatte die Strömung unterschätzt. Es dauerte lange, bis Linda über diesen unfassbaren Schicksalsschlag hinwegkam. Sofern sie das je schaffen würde.
Seufzend erhob sich Emma und räumte den Tisch ab. Nachdem sie die Küche sauber gemacht hatte, wählte sie die offizielle Geschäftsnummer. Wie erhofft hob eine der Servicekräfte ab, die förmlich nach Luft schnappte, als sich Emma krankmeldete. Tiff würde tatsächlich toben, das war so sicher wie das Amen im Gebet. Allerdings öffnete es ihrer Schwester vielleicht die Augen darüber, was sie Tag für Tag leistete.
Nach einer ausgiebigen Dusche schlüpfte Emma in die Jogginghose und das weiße T-Shirt. Linda hatte ihr beides auf die Waschmaschine gelegt. Nach einem kurzen Blick in den beleuchteten Spiegel ging sie ins Wohnzimmer zurück, griff zum Handy und googelte nach einer Anwältin. Eine stach ihr sofort ins Auge: Ruth Hart-Divorce. Ein ziemlich vielversprechender Name. Hastig speicherte sie Namen und Nummer in ihr Handy ein und starrte anschließend auf die Zahlen.
Das war es also mit ihrer Ehe. Vorerst auch mit den Plänen, Kinder zu haben. Eine Familie zu gründen. Nichts hatte sie sich in den letzten Jahren sehnlicher gewünscht. Leider hatte es nicht geklappt - wobei das aufgrund des mangelnden Sexes kein Wunder war. Auf der anderen Seite musste sie nach dem Fiasko mit Brandon froh darüber sein. Bei einer Scheidung wären Kinder die Leidtragenden und so gesehen hatte es das Schicksal schon richtiggemacht. Ihre Zeit würde kommen. Irgendwann. Denn noch hatte sie den Glauben an die wahre Liebe nicht verloren. Vielleicht wäre es so, wenn der Fremde nicht ihren Weg gekreuzt hätte, dessen Kuss sie noch jetzt auf ihren Lippen zu spüren glaubte.

Die Dämmerung brach bereits herein, als Roger seinen Honda über die Küstenstraße lenkte. Fast alle Eigenheime waren weihnachtlich geschmückt. Vor vielen standen die obligatorischen Bäumchen, die jedes Jahr von den freiwilligen Helfern ab November verteilt und aufgestellt wurden. Auch für die bunten Lichter entlang der Hauptstraßen sorgten sie. Bei manchen Häusern wurden sogar alte oder neue Fotos von St. Agnes und der Umgebung festlich in Szene gesetzt. Eines der größten Bilder befand sich auf der Stirnseite des Heimes, das man als Erstes sah, wenn man in St. Agnes ankam.
Ankommen. Ein Wort, das in Roger nachklang. Tat er es denn? Jetzt, da er aus London zurück war, stellte sich die Frage, ob ihn etwas in St. Agnes hielt. Sicher, er hatte einen guten Job und einen netten Freundeskreis. Aber sonst?
Im Grunde ließ es sich hier gut leben. Ein Paradies, in dem andere Menschen Urlaub machten. Von den vielen Touristinnen ganz zu schweigen, die ihm einige angenehme Stunden bereitet hatten. Die Auswahl war so groß wie die Zahl der einsamen Herzen, die es in ihr idyllisches Küstendörfchen verschlug. Doch sich mit Frauen und Alkohol zu betäuben hatte irgendwann seinen Sinn verloren. Bloß weil ihm Trish so übel mitspielte, hätte er beinahe sein Leben weggeworfen. Dabei war es diese Frau nicht im Geringsten wert!
Roger verscheuchte ihr Bild. Die Erinnerung an sie. Stattdessen blickte er zu Annies Schmuckladen, an dem er vorbeifuhr. In den Schaufenstern glitzerte Lametta und einige Kugeln hingen an Schnüren herab. Die versilberten Äpfel auf dem Baum glänzten im Schein der Lichterkette, die sich über die Fassade, um die Äste und den Stamm wand. Wie es Annie wohl ging? Vermutlich tausendmal besser als ihm. Angeblich war sie mit Jack und Leni in New York. Eine Aushilfe kümmerte sich in den Wintermonaten um das Geschäft.
Annie hatte das große Los gezogen und er gönnte es ihr, obwohl sie das sicher nicht glauben würde. Für sie blieb er wahrscheinlich bis in alle Ewigkeit das Arschloch und zugegeben, er hatte es nicht anders verdient. Trotzdem setzten ihm die Gerüchte zu, die sich um ihn und Trish rankten. Die Leute in St. Agnes hatten ja keine Ahnung!
Zehn Minuten später parkte Roger vor seinem Haus. Es lag völlig im Dunkeln. Keine Beleuchtung, nichts. Selbst das Bäumchen fehlte, weil er sich vehement gegen diesen Brauch sträubte. Weihnachten war ihm seit jeher ein Gräuel. Seine Eltern lagen sich gerade an diesen Feiertagen ständig in den Haaren. Von wegen die Zeit der Liebe und des Friedens. Bei ihnen herrschte regelmäßig kalter Krieg.
Missmutig blickte Roger vor sich hin, bis sein Blick zur Sektflasche auf dem Beifahrersitz glitt. Seit er London verlassen hatte, spukte ihm die fremde Frau ständig im Kopf herum. Dabei war er ungern in die Weltmetropole gefahren, wozu ihn zwei unangenehme Termine zwangen, was er vor der Unbekannten niemals zugegeben hätte.
Zum einen hatte ihn Mister Hall wegen seiner Trinkerei in die Zentrale zitiert und las ihm ordentlich die Leviten. Entgegen Rogers Annahme gab ihm der Geschäftsführer trotzdem eine zweite Chance. Wesentlich unangenehmer gestaltete sich seine Unterredung mit Trish am nächsten Tag, die gründlich in die Hose ging. Deswegen war er durch die Stadt geirrt und hatte sich schließlich auf der Aussichtsplattform wiedergefunden. Und da hatte sie gestanden. Diese Frau, mit der er sofort Mitleid empfand, obwohl er nicht besser war als ihr Brandon.
„Emma.“ Roger ertappte sich dabei, dass er lächelte. Im Gegensatz zu ihr wusste er durch das Gespräch mit diesem Brandon, wie sie hieß. Zumindest kannte er ihren Vornamen. Er passte zu ihr, weil er etwas Unschuldiges hatte. Aber auch etwas, das seinen Beschützerinstinkt weckte und das Verlangen, sie nach der Pleite mit ihrem Mann nicht alleine zu lassen. Wenn er ganz ehrlich zu sich selbst war, genoss er ihre Gesellschaft zu sehr, um den Abend schnell enden zu lassen. Es war schön, an ihrer Seite durch London zu schlendern. Mit ihr zu reden. Ihre bescheidene und fast schüchterne Art berührte ihn auf seltsame Weise, die jedoch in Kratzbürstigkeit und Trotz umschlagen konnte. Launisch wie das Wetter in St. Agnes, das sich ebenfalls von einer Sekunde auf die andere ändern konnte. Doch ob Sturm oder Sonnenschein, in allem lag eine beeindruckende Schönheit und Kraft. Wie in dieser Frau, die er nur ein paar Herzschläge lang küsste. Ihre Lippen waren zart und nachgiebig gewesen und er hätte sich weit mehr vorstellen können, aber er ahnte, dass sie keine für eine Nacht war. Nicht einmal eine, um sie hemmungslos auf der Straße zu küssen. Deshalb riss er sich zusammen, obwohl es ihm schwergefallen war. Eigentlich lachhaft. Außer bei Trish hatte er sich weder vorher noch nachher sonderlich viele Gedanken um die Frauen gemacht. Sogar im Bett ging es immer nur um seine eigenen Bedürfnisse. Sex ohne Gefühle, danach hatte er größtenteils gelebt.
Seufzend nahm er die Sektflasche, bevor er den Schlüssel aus dem Zündschloss zog und ausstieg. Nachdem er das Auto versperrt hatte, betrat er sein Cottage. Er hatte es kurz vor der Hochzeit mit Trish gekauft. Es lag auf einer Anhöhe etwas außerhalb von St. Agnes und war von dichtem Laubwald umgeben. Fast so, als wäre man von der Außenwelt abgeschnitten. Ein kleines Paradies, in dem Kinder toben könnten …
Als Roger die Tür zum Wohnzimmer öffnete, schlug ihm anheimelnde Wärme entgegen. Die gute alte Doris hatte ihn gestern angerufen und gefragt, wann er zurückkäme. Sie besaß einen Zweitschlüssel und behielt sein Haus stets im Auge, wenn er nicht da war. Noch dazu sorgte sie jedes Mal für einen lodernden Kamin. Wie auch jetzt. Die Flammen fraßen sich knisternd durch das Holz, als hätte sie die Scheite gerade erst entfacht. In der Ahnung, dass er später kommen würde. Manchmal war ihm die Achtzigjährige fast unheimlich. Immerhin hatte er sich für den Nachmittag angekündigt, ließ sich jedoch Zeit und nahm einige Umwege, weshalb es bereits acht war, wie ihm ein Blick auf die alte Pendeluhr neben dem schwarzen Ledersofa zeigte.
Roger stellte die Flasche auf den Glastisch und zog sich den Mantel aus. Als er ihn auf die Couch gelegt hatte, klopfte es an der Tür. Eigentlich hatte er keine Lust auf Besuch, weshalb er missmutig die dunkelgrüne Pforte öffnete. „Doris“, begrüßte er seine unmittelbare Nachbarin und lächelte, weil sie einen Topf in den Händen hielt, aus dem es dampfte. „Erstens hast du einen Schlüssel und zweitens musst du nicht ständig für mich kochen. Du hast genug Arbeit.“ Trotz ihres hohen Alters führte sie nach wie vor die kleine Privatpension und war die Einzige, über deren Besuch er sich nun doch freute.
„Da ich dein Lotterleben kenne, habe ich wenig Lust, dich nackt mit irgendeinem Sternchen zu sehen und zum anderen sind die letzten Gäste heute abgefahren. Um wen soll ich mich sonst kümmern? Du kennst mich. Ich hasse Untätigkeit.“ Schon stakste sie auf ihren schwarzen Stöckelschuhen an ihm vorbei. Da Schnee in St. Agnes eine Rarität war, musste sie auch im Winter nicht auf ihre geliebten hohen Schuhe verzichten.
Roger warf die Tür zu und folgte ihr in die Küche, die sich neben dem Wohnzimmer befand. Ein Rundbogen verband die beiden Räume und erst jetzt fiel ihm der Mistelzweig auf, der davon herunterbaumelte.
„Hast du das fabriziert?“ Roger deutete zum Rundbogen.
„Gefällt es dir?“ Umsichtig stellte sie den Topf auf den Gasherd.
„Einen größeren Nagel konntest du wohl nicht finden“, schimpfte er halbherzig, obwohl der Kirschholz-Rahmen kostspielig gewesen war, aus dem ein mindestens zehn Zentimeter langer Nagel ragte, der zu allem Überfluss schief eingeschlagen war. Von den Löchern im direkten Umfeld ganz zu schweigen. Wie es aussah, hatte sie einige Versuche gestartet, um den Mistelzweig aufzuhängen.
„Die Leiter hat gewackelt“, meinte sie lapidar und öffnete die Schublade neben dem Herd, aus der sie die Kelle entnahm. Doris kannte sein Heim in- und auswendig. „Wie war es in London? Konntet ihr euch einigen?“
Roger setzte sich an den Tisch im verglasten Erker. Dabei fiel sein Blick auf Doris’ weiß getünchtes Cottage. Bunte Lichterketten schmückten die Vorderseite des Daches. Hinter den Fenstern leuchteten Sterne, Schneemänner und Engel. Der kleine Baum vor dem Haus blinkte wie eine Discokugel. Ebenso wie der Schlitten und die Rentiere. Selbstredend, dass Doris ebenfalls ein vergrößertes Foto ins rechte Licht rückte. Es zeigte ihre Großeltern, die früher einen Süßwarenladen in St. Agnes betrieben, bevor Doris’ Eltern das Cottage zur Privatpension umfunktionierten. „Nicht so wirklich“, antwortete Roger und fühlte erst jetzt, wie erschöpft er war.
„Ich habe es von Anfang an gewusst“, gab Doris launig von sich. „Trish ist eine falsche Schlange. Aber du wolltest ja nicht hören.“
„Du hast nie etwas gesagt“, erinnerte Roger sie an diese Tatsache.
„Jeder muss eigene Fehler machen, um daraus zu lernen.“ Mit flinken Händen holte sie einen Teller aus dem Schrank über sich und stellte ihn auf die Arbeitsplatte. „Und ganz unter uns: Was hätte mein Einmischen genützt? Du hättest dir nichts sagen lassen. Genauso wenig wie bei deiner Trinkerei. Hätte ich dir ins Gewissen geredet, wärst du rund um die Uhr besoffen gewesen. Du warst ohnehin nahe daran.“ Sie schöpfte Reisauflauf in den Teller, legte die Kelle ab und drehte sich zu ihm um. „Ich habe dich bei der Bank verpfiffen. Die Abmahnung geht demnach auf meine Kappe.“
„Du hast dafür gesorgt?“, entfuhr es Roger, der insgeheim schmunzeln musste. Das schlechte Gewissen stand ihr förmlich ins faltige Gesicht geschrieben.
Sie nickte. „Jetzt kannst du mich erschießen.“
„Wenn wir unter dem Mistelzweig stünden, würde ich dich eher küssen.“
„Du bist nicht böse?“, vergewisserte sie sich und starrte ihn mit ihren großen blauen Augen an, die sie wie üblich mit blauem Lidschatten betonte. Das schwarze Lockenhaar erinnerte an die Wildheit des Meeres. Ihre schmale Gestalt an einen zarten Ast, der jede Sekunde zu zerbrechen drohte. Doch das täuschte. Doris war die stärkste Frau, die er je kennengelernt hatte.
„Anfangs war ich natürlich nicht erfreut, aber mit Abstand betrachtet hast du mir damit einen großen Gefallen getan.“ Roger verließ den Tisch und trat vor Doris hin, die zwei Köpfe kleiner war. „Du hast mich vor einer Riesendummheit bewahrt. Ab jetzt beginnt ein neues Leben und ehrlich gesagt hätte ich dieses Haus bis vor kurzem am liebsten verkauft. Ich bin froh, dass ich es nicht getan und dich weiterhin an der Backe habe. Du bist stur wie ein Esel, neugierig und redest am liebsten den ganzen Tag lang.“ Sie lächelte ihn spitzbübisch an und zeigte ein makelloses drittes Gebiss. Auf ihr Aussehen legte Doris extremen Wert und war früher eine wunderschöne Frau gewesen, wie alte Aufnahmen bewiesen. „Nebenbei liebenswert, mütterlich und eine der wichtigsten Personen in meinem Leben. Jetzt weiß ich auch wieder, was mich in St. Agnes hält. Menschen wie du und wenn du jünger wärst, könnte ich für nichts garantieren“, neckte er sie.
„Ach Roger, für mich wärst du als Toy-Boy viel zu alt.“ Sie lachte schallend. „Und nun lass uns essen“, verkündete sie übermütig, als sie sich beruhigt hatte. „Danach sollten wir über dein Haus sprechen. Ich bin es leid, dieses traurige Etwas ständig vor Augen zu haben.“
„Wir können über vieles reden“, wehrte sich Roger im Wissen, was sie mit ihrer Aussage bezweckte, „aber der Mistelzweig ist für meine Begriffe genug an Weihnachtsdekoration. Ich hasse dieses Fest und bin froh, wenn es vorbei ist.“
„Bei mir ist es genau andersherum“, entgegnete sie mit glänzenden Augen, „Weihnachten hat eine ganz eigene Magie. Vor allem in St. Agnes. Eines Tages wirst du sie auch spüren. Lass mich nur machen, Kleiner.“

„Den zerquetsche ich wie eine Fliege.“ Mrs. Hart-Divorces Faust klatschte gegen die flache Hand, während sie hinter dem Schreibtisch einige Schritte hin und her stapfte. Wiederholt fragte sich Emma, ob sie tatsächlich eine gute Entscheidung getroffen hatte. Diese maskuline Frau im grauen Kostüm mit der riesigen Masche am Hinterkopf - die ihren rattengrauen Pferdeschwanz zusammenhielt - wirkte nicht wie eine Anwältin, sondern wie ein Guerilla-Kämpfer. „Sind Sie dabei, Prinzessin?“
„Äh, meinen Sie mich?“ Emma blickte schnell hinter sich, bevor sie erneut die Anwältin ins Auge fasste, die mittlerweile wie eine Salzsäule vor dem verstaubten Fenster stand. Gurrende Tauben tummelten sich draußen auf dem schmalen Sims. Manche trafen mit dem Schnabel das Glas. Es hörte sich an, als ob sie hereinwollten. Emma hätte die andere Richtung bevorzugt.
„Wen soll ich sonst meinen? Den Grinch?“ Die Anwältin lachte hölzern auf. Immerhin bewies sie einen guten Filmgeschmack. „Grün genug wären Sie ja. Haben Sie Schiss?“ Mit zwei Schritten war sie am Schreibtisch, richtete ihre Hornbrille und stützte sich schließlich mit beiden Händen am blank polierten Holz auf. Bedrohlich beugte sie sich zu Emma, die ihren Kopf einzog. „Oh ja, Sie haben Schiss“, lag diese Verrückte völlig richtig. „Und wie. Aber keine Angst, Täubchen. Den zerreiße ich in der Luft. Zum Schluss werden Sie nicht nur ein Haus haben, sondern ein sattes Sümmchen nebenbei.“ Mrs. Hart-Divorce richtete sich zur vollen Größe auf und stemmte die Hände in die üppigen Hüften. „Wie ich solche Arschgeigen hasse! Wir Frauen sollen rund um die Uhr schön und perfekt sein. Doch wenn sich die Kerle gehen lassen, Speckbäuche ansetzen und regelmäßig Hochzeitstage sowie Geburtstage vergessen oder sogar fremde Namen beim Sex stöhnen, nennen sie das liebenswerte Marotten. Pah, da wird mir speiübel!“
Ohne Zweifel, diese Frau sprach aus eigener Erfahrung.
„Nun ja, mir wäre eine friedliche Trennung am liebsten, Mrs. Hart-Divorce.“
„Friedlich?“, wiederholte die Anwältin in einer Lautstärke, dass sich die Tauben erhoben und mit heftigen Flügelschlägen das Weite suchten. „Glauben Sie, dass ich mir umsonst diesen Künstlernamen zugelegt habe? Er ist Programm, Prinzessin, und ich habe bereits viele Paare geschieden. Meine Wenigkeit eingeschlossen. Alle Frauen waren überaus zufrieden mit dem Ergebnis. Zumindest die, die auf mein Kommando gehört haben. Die anderen Senkrechtstarterinnen landeten schneller auf dem Boden der Tatsachen, als es ihnen lieb war und besitzen nichts mehr. Nichts. Verstehen Sie?“
Emma nickte heftig. „Nun, vielleicht wäre es einen Versuch wert?“, wagte sie selbst einen.
„Dann haben wir bereits verloren, Prinzessin.“ Diese Frau sah aus wie ein Mann und sprach wie ein Mann. „Nur die Harten kommen in den Garten. Wissen Sie, wie der Spruch weitergeht?“
„Äh … das Böse kommt überall hin?“
Erneut stützte sie sich auf dem Schreibtisch auf. „Genau“, presste sie zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor. „Und in dem Fall bin ich das Böse.“
„Okay“, erwiderte Emma mit gezwungenem Lächeln und sprang hoch. „Leider muss ich zu meinem nächsten Termin. Ich melde mich bei Ihnen.“
Die Anwältin zog einen Bleistift aus der orangen Stift-Box neben ihrem PC und schob ihn sich hinter das linke Ohr. „Gar nichts werden Sie. Ich kenne diesen Blick. Höre förmlich die Frage, ob ich etwas taugen würde. Eine Frau in einem Männerkörper, mit einer Stimme, als hätte sie morsche Zahnräder im Kehlkopf. Glauben Sie mir, ich bin die Beste. Weil ich ein Gespür dafür habe, mit welchem Ex man sich einigen kann und mit welchem nicht. Dafür muss ich nur die Vorgeschichte hören. Ihre sagt mir, dass der liebe Brandon alles will. Das Betthäschen, ihr gemeinsames Haus und einige Millionen. Notfalls vom Konto Ihres Vaters. Dafür wird er zu Mitteln greifen, die Sie sich nicht einmal in Ihren kühnsten Albträumen ausmalen könnten. Und den Anfang macht er mit dem Unbekannten, mit dem er Ihnen eine Affäre nachsagen wird, die Sie natürlich vor Brandon hatten. Deswegen wird sich dieser so verkaufen, dass er nur aus Verzweiflung über Ihren Betrug mit dieser Angie ins Bett gestiegen ist. Immerhin waren Sie die Liebe seines Lebens.“
Entsetzt starrte Emma sie an. „Das stimmt hinten und vorne nicht!“
Die Anwältin lächelte mitleidig. „Wir zwei wissen das, und ich glaube Ihnen. Doch tun das auch die anderen, wenn es hart auf hart kommen sollte?“
„Ich schicke Ihnen alle erforderlichen Unterlagen“, entschied Emma in derselben Sekunde. „Bitte übernehmen Sie meinen Fall.“
Ein Siegerlächeln wurde ihr zuteil. Allerdings nicht arrogant, sondern eher, als hätten sie einen Geheimbund geschlossen. „Seien Sie versichert, dass ich die Lage genau checken werde. Wenn ich nur den geringsten Anlass sehe, dass wir in Frieden das Schlachtfeld verlassen können, werde ich Ihren Wunsch berücksichtigen. Wenn nicht, kann man Brandons Reste von einer Mauer kratzen. Und noch etwas, Prinzessin: Kleidung macht zwar Leute“, sie deutete allen Ernstes auf sich selbst, „und der erste Eindruck ist entscheidend, allerdings versteht es nicht jeder, seine Vorzüge hervorzuheben, wie ich es zu tun vermag.“