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„Aha.“ Von dem Selbstbewusstsein konnte sie sich ein paar Scheiben abschneiden!
„Höre ich ein Aber heraus?“, stellte die Anwältin eine Gegenfrage, als führe sie ein Kreuzverhör. „Obwohl jeder Einwand lächerlich wäre“, sprach sie umgehend weiter. „Jedenfalls will ich damit sagen, dass Sie in Ordnung sind, Emma. Lassen Sie sich von niemand etwas anderes einreden. Ihr Mann hat scheinbar keine Augen im Kopf. Übrigens wäre es gut, wenn Sie den Unbekannten finden würden. Nur für den Fall der Fälle.“
Emmas Herz klopfte hart gegen die Brust. „Haben Sie vergessen, dass ich seinen Namen nicht kenne?“
Eigentümlich blickte die Anwältin sie an. „Schon gut, wir werden auch ohne ihn auskommen.“
„Das müssen wir wohl“, stotterte Emma und wurde von der Anwältin zum Lift begleitet. Fünf Minuten später trat sie ins Freie und atmete tief durch. Dabei ließ sie ihren Blick über den großen Vorplatz schweifen, der von Hochhäusern umringt war. Einige Bäume zauberten etwas Farbe in das triste Bild. Menschen eilten aus allen Richtungen heran. Mit Aktenkoffern in den Händen, dem Handy am Ohr oder mondän gekleidet, als wären sie auf dem Weg in die Oper. So viele verschiedene Leute, die aneinander vorbeiliefen. Deren Leben sich kurz kreuzten, ohne dass sie sich wahrnahmen. Weil sie alle etwas gemeinsam hatten: Sie wirkten gehetzt.
Bis gestern hätte Emma eine von ihnen sein können. Nicht anders war sie zur Arbeit gegangen. Hatte Einkäufe erledigt oder war nach Hause geeilt. Mit dem Handy am Ohr, weil es immer etwas zu besprechen, zu lösen oder zu beantworten gab. War das wirklich alles, was man vom Leben erwarten durfte? Im Laufschritt durch die Kindheit, im Dauerlauf durch das Erwachsenensein, um schließlich atemlos vor dem Tod zu stehen? Mit dem Blick auf alles, das man sich im Laufe der Zeit erarbeitet hatte. Dennoch mit dem Wissen, dass man nichts mitnehmen konnte, außer Erinnerungen. Und nichts anderes ließ man letzten Endes zurück: Erinnerungen an sich selbst. Stellte sich bloß die Frage, wer sich an sie erinnern würde?
Kurzerhand verscheuchte Emma die düsteren Gedanken und beschloss, bei ihrer Tante Camilla vorbeizuschauen. Viel zu lange hatte sie die Buchhandlung nicht mehr aufgesucht.
Emmas Laune hob sich augenblicklich. Bewusst gemächlich spazierte sie über den Vorplatz und die Seitenstraße entlang, wo ihr roter VW-Käfer parkte. Sie hatte ihn vor dem Besuch bei der Anwältin von Zuhause geholt. Gott sei Dank war Brandon nicht dagewesen, weshalb sie Zeit hatte, einige Sachen zu packen, die nun im Käfer lagen, der aus der Menge stach. Weil er anders war, fast lebendig wirkte, obwohl auch er nur aus Blech bestand. Doch Emma kannte jede Schramme, jede Beule und alle Eigenheiten. Er sprang ungern an, wenn ihm zu kalt war und machte ziemlich viel Krach. Das war ihr anfangs äußerst peinlich gewesen. Inzwischen war sie daran gewöhnt und musste oft an die alte Mrs. Bing denken, die ihr Reddy verkauft hatte. Sehr preisgünstig. Kurz danach war ihre ehemalige Nachbarin gestorben, was Emma sehr nahe gegangen war wie die Beisetzung. Nur zwei alte Freundinnen nahmen daran teil. Verwandte hatte sie scheinbar keine gehabt. Als hätte Emma es geahnt, bat sie den Priester einen Tag zuvor, Mrs. Bing zu Ehren My Way zu spielen. Es war berührend gewesen. Vielleicht hatte es die alte Dame gehört und sich über diese Geste gefreut. Emma hoffte es.
Umso mehr hing sie an Reddy, den sie hegte und pflegte. Auch jetzt genoss sie die Fahrt mit ihrem Käfer, obwohl der Verkehr in London mörderisch war. Besonders zur Mittagszeit, wie es gerade der Fall war. Aber sie hatte keine Eile und dieses Gefühl der Muße gefiel ihr zunehmend. Und das inmitten einer hektischen Großstadt wie London. Trotzdem war sie froh, als sie eine Stunde später einen Parkplatz für Reddy gefunden hatte, was oft wie ein Sechser im Lotto war.
Das vertraute Ladenglöckchen verkündete Emmas Eintreten, die sich in der Bücherei umschaute und gleichzeitig die Glastür schloss. Beim Geruch der Bücher fühlte sie sich plötzlich wie das sechzehnjährige Mädchen von früher, das auf leisen Schritten durch die langen Gänge gehuscht war. Das sich manchmal in eine ruhige Nische gesetzt und den Stimmen gelauscht hatte. Dem Flüstern, das von den Seitengängen zu ihr gedrungen war. Oftmals erweckte es den Anschein, als würden die Bücher leise ihre Geschichten erzählen. Spannende, traurige, abenteuerlustige oder welche aus längst vergangener Zeit.
„Hi. Ist Camilla da?“, erkundigte sich Emma, die an den Kassatresen trat. Eine ihr unbekannte junge Frau blickte von ein paar Unterlagen hoch. Sie trug kleine Kristallohrringe, die wie Schneeflocken aussahen, einen roten Pullover und eine Weihnachtsmütze. Eine ähnliche hatte ihr Camilla früher auch aufgeschwatzt. Emma hatte sie mit dem Gefühl getragen, als hätte sie Läuse.
„Eben war die Chefin noch hier.“ Die Frau deutete zur Treppe. „Ich glaube, Camilla wollte nach oben. Eine Kundin hat ihre Tasche vergessen. Soll ich nachschauen, wo Mrs. Porter ist?“
„Nein, danke. Ich werde sie schon finden.“ Emma lächelte. Die Frau lächelte zurück, bevor sie sich wieder auf ihre Arbeit konzentrierte.
Die Buchhandlung verlief über vier Etagen. Mit einem Sortiment, das als das Beste der Stadt galt. Hier betrat man ausschließlich die Welt der Bücher - von Weihnachten natürlich abgesehen - und wurde Teil dieser ganz eigenen Atmosphäre unzähliger Worte, knisternder Seiten und lebendig werdender Protagonisten.
Der Teppichboden schluckte Emmas Schritte. Ob auf der breiten geschwungenen Treppe oder in den Gängen. Das sanfte gelbe Licht strahlte Gemütlichkeit aus und die Ölgemälde alter Meister verliehen den Räumen eine gewisse Erhabenheit. Es hatte sich kaum etwas verändert. Sogar die alten Klassiker befanden sich immer noch im selben Regal.
Allerdings ließ Emmas Kondition zu wünschen übrig. In der vierten Etage schnaufte sie wie nach einem Sprint und überlegte, welchen Gang sie nehmen sollte.
„Emma! Was für eine schöne Überraschung.“ Mit ausgebreiteten Armen eilte Camilla plötzlich auf sie zu und drückte sie im nächsten Moment an ihre Brust. „Wie komme ich zu der Ehre?“
„Ich wollte dich sehen.“ Sie lösten sich voneinander. „Und die Buchhandlung habe ich auch vermisst. Es hat sich nichts verändert.“
„Außer meine Wenigkeit. Leider wird niemand jünger, nicht wahr?“ Lächelnd drehte sich Camilla um die eigene Achse. Die graublauen Augen sprühten wie eh vor Lebenslust und waren in kleine Fältchen gebettet, die davon zeugten, dass sie ein fröhlicher Mensch war. Ihr Gesicht mit den hohen Backenknochen strahlte Würde aus, die schlohweißen kinnlangen Haare verliehen ihr eine gewisse Vornehmheit und verleiteten viele dazu, sie mit der Hollywood-Schauspielerin Helen Mirren zu vergleichen. „Wie lange ist es her, dass wir uns gesehen haben?“ Sie zog den Hosenbund höher. Seit Emma ihre Tante kannte, trug sie ausschließlich Stoffhosen im Marlene-Dietrich-Stil und wie üblich die Lesebrille an einer goldenen Kette.
„Ein Jahr?“, überlegte Emma
„Wir sind eine schlimme Familie.“ Ihre Tante hob tadelnd den Zeigefinger. „Zu viel Arbeit schadet der Gesundheit.“ Das sagte die Richtige! Auch Camilla lebte förmlich für ihren Job und war nie verheiratet gewesen. „Da wir dabei sind: Du siehst nicht gerade wie das blühende Leben aus.“ An ihre direkte Art hatte sich Emma längst gewöhnt. Das war allemal besser, als dass jemand hinter dem Rücken tuschelte. „Wie geht es Brandon? Hast du ihn mitgebracht?“ Suchend blickte sie sich um.
„Ich war gerade bei einer Scheidungsanwältin.“
„Im Ernst?“ Ihre Tante zog sie mit sich in den rechten Gang. An dessen Ende stand ein kleiner Tisch mit verschnörkelten Füßen und Biedermeier-Stühlen vor dem runden Fenster. Während sie darauf zugingen, stahl sich ein Sonnenstrahl herein, der die vielen Staubpartikel glänzen ließ, die in der Luft schwebten. „Erzähl“, bat Camilla, als sie Platz genommen hatten, und schob den roten Teller mit den Zimtkeksen und der Zuckerglasur zu Emma.
„Da gibt es nicht viel zu erzählen. Brandon hat eine andere und das schon seit Monaten. Ich bin gestern dahintergekommen.“
„An deinem Geburtstag?“ Die Falte auf ihrer Nasenwurzel vertiefte sich. „Das hätte ich ihm niemals zugetraut. Er wirkte immer so nett.“
„Vielleicht ist es besser so.“ Emma blickte zum Regal, in dem sich Liebesromane aneinanderreihten. „Danke übrigens für deinen Anruf gestern.“
„Gern geschehen. Mein Geschenk bekommst du noch. Leider lässt es auf sich warten.“
Emma war das peinlich. Seitdem sie ihrer Tante als Jugendliche das Herz ausgeschüttet hatte, erhielt sie jährlich eine Aufmerksamkeit. Obwohl Camilla ihr auch sonst bei den wenigen Besuchen im Elternhaus etwas mitgebracht hatte wie den großen schneeweißen Bären. Grinch war mehr als ein Stofftier gewesen. Sie konnte sich an ihn kuscheln, wenn sie sich in den Schlaf weinte und ihm alles erzählen. Bis er eines Tages aufgeschnitten auf dem Bett lag. Angeblich wollte Tiff wissen, womit er gefüllt war. Leider konnte ihr Lieblingsbär nicht mehr gerettet werden, womit sie ihren größten Halt verloren hatte. „Du musst mir nichts schenken.“
„Ich will es aber. Obwohl du immerzu dasselbe bekommst: ein Buch.“
Emma lächelte. „Das stimmt nicht ganz. Jedes Buch ist anders.“
„Wie wahr.“ Camilla lehnte sich zurück und überkreuzte die Beine. Ihr sanft gewelltes Haar leuchtete regelrecht in der Sonne. Seltsam, dass eine Frau wie sie alleinstehend war. Emmas Tante erklärte es regelmäßig damit, dass sie in jungen Jahren keine Fesseln wollte und nunmehr zu alt dafür sei, um Männern ihrer Generation Tabletten in den Mund zu stopfen, zum nächsten Orthopäden zu fahren oder sich um sonstige Wehwehchen zu kümmern. Jüngere seien nicht viel besser, die Camilla gern mit ihrem Hund Barbados verglich. Zu halbstark, zu kostenintensiv, zu oft müsse man mit ihnen vor die Tür. „Und was hast du jetzt vor? Bleibst du im Haus oder wollt ihr es verkaufen?“
„Entschuldigen Sie bitte die Störung, Mrs. Porter, aber ich habe die Tasche gefunden.“ Die junge Frau vom Erdgeschoss kam mit einer schwarzen City-Bag auf sie zugeeilt. „Sie lag unter dem Waschbecken auf der Toilette.“
„Wunderbar. Vielen Dank.“ Camilla nahm die Tasche entgegen und stellte sie neben sich auf den Boden. Die Frau eilte wieder davon. „Jedenfalls, lass dich von der Sache mit Brandon nicht unterkriegen.“
„Ich glaube, unsere Ehe war schon lange vorbei“, bekannte Emma. „Nur wollte ich es nicht wahrhaben, denn ich bin ein Gewohnheitstier. Obwohl ich mich natürlich hintergangen fühle. Das tut weh. Doch meine Tränen sind getrocknet und eigentlich sollte es anders sein.“
„Hinterfrag das nicht. Sei lieber froh darüber.“
„Das bin ich.“ Komisch. Es fühlte sich mit jeder Stunde mehr an, als würde sich ein riesiger Stein von Emmas Brust lösen. „Meine Eltern werden aus allen Wolken fallen.“
„Und wenn schon. Sie führen ihr Leben, du das Deine. Habt ihr übermorgen wieder das traditionelle Weihnachtsessen? Falls ja, serviere ihnen die Neuigkeit zum Nachttisch. Ehe Claire und Ben sie verdaut haben, machst du die Biege.“
„Warum soll ich es ihnen überhaupt auf die Nase binden? Irgendwann werden sie es schon erfahren“, entgegnete Emma. „Außerdem geht der Kelch gottlob an mir vorbei. Mom und Dad wollen über Weihnachten in die Karibik. Das Essen ist abgesagt.“
Camilla tätschelte ihre Hand. „Und bis sie wiederkommen, ist Gras über die Sache gewachsen.“ Sie deutete auf die Tasche. „Die gehört übrigens deiner Mom.“
„Mutter war hier?“
„Wir hatten eine Vormittags-Lesung. Dornenvögel. Du weißt ja, wie sehr Claire die Geschichte liebt.“ Das wusste Emma in der Tat. Wie oft ihre Mom darin gelesen hatte, konnte sie nicht sagen und auch die Verfilmung schaute sie sich mindestens zweimal im Jahr an. Der einzige Anlass, bei dem Emma sie jemals weinen sah. „Oh, da vorne ist eine wichtige Kundin. Ich muss kurz zu ihr und bin gleich zurück.“ Als Camilla aufstand, warf sie die Tasche um. Ein Buch rutschte heraus, der Schlüssel, ein Kamm und anderer Kleinkram. „Bist du so lieb?“, bat ihre Tante, bevor sie der Frau im wollweißen Cape entgegenrauschte.
Emma bückte sich, stellte die Tasche auf und griff nach dem nur allzu bekannten Buch. Auch sie hatte Dornenvögel gelesen und musste zugeben, dass die große Liebe zwischen Meggie und Pater Ralph sehr zu Herzen ging. Vermutlich trug die Mutter den Roman aufgrund der Lesung mit sich herum. Allerdings hatte Emma das Lesezeichen nie gesehen, das herausragte. Es schillerte türkis. Wie ein glasklares Meer. Neugierig zog Emma es heraus. St. Agnes stand in großen Lettern auf der Vorderseite. Handschriftlich war in der unteren Ecke eine Telefonnummer vermerkt. Die geschwungene Schrift stammte allerdings nicht von ihrer Mutter.
Emma drehte das Lesezeichen um. Als sie die wenigen Sätze las, begann ihr Herz zu rasen. Gleichzeitig trocknete ihr Mund aus, während es fieberhaft in ihr arbeitete …

„Bist du sicher, dass die Summe stimmt?“ Roger starrte auf die Unterlagen, die ihm Larissa soeben gebracht hatte.
„Wir haben alles geprüft. Der finanzielle Rahmen ist ausgeschöpft. Doris schreibt laufend rote Zahlen und überzieht ständig ihren Dispo. Leider sind in den letzten Monaten kaum Einkünfte eingegangen. Auch die Einnahmen ihres kleinen Handwerksladens fehlen, seitdem der Mieter gekündigt hat.“
„Über kurz oder lang wird sie bestimmt jemanden finden. Mehr Sorgen mache ich mir wegen der Pension. Sie wirft kaum einen Cent ab. Dabei redet Doris ständig davon, dass sie ausgebucht ist und sich allmählich eine Aushilfe nehmen sollte.“
Die vollbusige blonde Bankangestellte spielte mit dem obersten Knopf ihrer schwarz gepunkteten Seidenbluse. „Kann es sein, dass du ihr nicht zugehört hast? So, wie du das bei keiner Frau tust?“
Rogers Laune sank noch mehr als ohnehin.
Leider hatte er nicht nur Touristinnen abgeschleppt, sondern sogar aus der Bank die eine oder andere mit nach Hause genommen. Ein fataler Fehler, der ihm nun nachhing. „Du bist ein nettes Mädchen, Larissa, und hast einen guten Kerl verdient.“ Zu seinem Unglück verband sie mit ihrer ersten gemeinsamen Nacht mehr als ihm lieb sein konnte und lief ihm seit Monaten nach. Während seiner Trinkerei griff er dummerweise des Öfteren auf sie zurück, sofern er keine andere bei der Hand gehabt hatte. Damit schürte er ihre Hoffnung natürlich, dass sich etwas Festes daraus entwickeln könnte. „Ich bin nicht der Richtige für dich, denn ich werde mich in mancher Hinsicht nie ändern. Vor allem was Frauen betrifft. Allerdings sage ich ab jetzt von vornherein, dass ich keine Beziehung will. Das habe ich in der Vergangenheit nicht getan und es war nicht fair. Vor allem Frauen wie dir gegenüber.“
„Liebe kann wachsen“, blieb sie eisern und setzte ein seliges Lächeln auf.
„Das wird nicht passieren.“ Roger erhob sich und schob die Papiere zusammen. „Für eine Beziehung bin ich nicht gemacht. Frag meine Verflossenen.“ Er hörte, wie hart sie schluckte und blickte hoch. „Du bist fünfundzwanzig, hübsch und intelligent, Larissa. Vergeude nicht deine Zeit mit mir und bitte lass uns den Umgang zukünftig auf das Geschäftliche beschränken.“
Plötzlich schimmerten Tränen in ihren braunen Augen, die etwas heller waren als Emmas. „Alle Welt hat mich vor dir gewarnt“, wütete sie mit bebender Brust. „Du bist tatsächlich ein arroganter selbstverliebter Schnösel und es stimmt: Einer, der seine Frau kurz nach der Hochzeit betrügt und sein Kind im Stich lässt, ist nicht einmal den Dreck unter den Schuhen wert. Du kannst mich mal!“ Sie machte auf dem Absatz kehrt und verließ das Büro mit lautem Türknallen.
Roger sank auf seinen Stuhl zurück.
Larissas Szene war vorhersehbar. Trotzdem regte es ihn auf. Vor allem, weil er das selbst verbockt hatte! Hinzu kam die Pleite mit Trish. Im ganzen Dorf wurde hinter seinem Rücken gemauschelt. Ehebrecher! Schäbiger Vater! Betrüger … dabei wusste niemand, was Trish ihm zugemutet hatte!
Schon vor der Hochzeit hatte man ihm gesteckt, dass die Gute nicht von ihm schwanger wäre. Er hielt es für Blödsinn, bis zu seinem Junggesellenabschied. Erneut wurde er mit den Gerüchten konfrontiert. Vermutlich hatte er kalte Füße bekommen und Annie deswegen angemacht. Oder er wollte sich unbedingt etwas beweisen. Vom Alkoholpegel ganz zu schweigen. Doch das Misstrauen trug Früchte. Zwei Tage vor der Trauung hatte er Trish zur Rede gestellt. Sie stritt alles ab und er glaubte ihr nur zu gern. Bis an ihrem Hochzeitstag die Wehen einsetzten. Sie mussten die Feier unterbrechen, worüber Trish mehr als erbost gewesen war. Auf dem Weg ins Krankenhaus wurde sie vollends hysterisch. Als sie erneut stritten, knallte sie ihm die ganze Wahrheit ins Gesicht. Wer immer der Vater des Babys war, Roger kam nicht infrage und würde Trishs Kaltschnäuzigkeit nie vergessen.
Deshalb suchte er das Weite, sobald sie im Krankenhaus versorgt war. Für jeden sah es so aus, als hätte er sie gnadenlos im Stich gelassen. Im Grunde stimmte es ja. Nur hatte keiner die geringste Ahnung, wieso er es tat. Zwar versuchten sie danach einen Neubeginn, aber sie rieben sich nur gegenseitig auf. Sein einziger Lichtblick war Lucas gewesen. Obwohl der Junge nicht sein Sohn war, hatte er ihn von Anfang an ins Herz geschlossen und sich mehr um ihn gekümmert als Trish. Das führte zu weiteren Spannungen und Roger in den plötzlichen Wahn, Annie wiederhaben zu wollen. Er hatte sich regelrecht in die Vorstellung hineingesteigert. Wahrscheinlich, weil sie so anders war als Trish. Aufrichtiger, liebevoller.
Roger wurde beinahe übel beim Gedanken daran, was er in der Vergangenheit alles gesagt und getan hatte. Vieles flog ihm um die Ohren, seitdem er mit sich selbst ins Gericht ging. Mit dem Menschen, der er geworden war. Doris hatte ihm in dieser Zeit am meisten geholfen. Als eine der wenigen trat sie ihm neutral entgegen und wusste inzwischen über alles Bescheid. Auch darüber, dass er unter der Trennung von Lucas litt. Aber mit Trish war nicht zu reden gewesen, als er sie in London um Besuchserlaubnis bat. Nur die Höhe des Unterhalts interessierte sie. Denn ob Lucas sein Sohn war oder nicht, er war während ihrer Ehe geboren worden und somit galt Roger als Vater. Obwohl er nichts von ihm hatte. Vielleicht war das von Anfang an Trishs Plan gewesen. Sie hatte einen Dummen gesucht, der sie versorgte. Gut versorgte, angesichts der horrenden Unterhaltsforderungen.
Doris hatte wie ein Rohrspatz über Trishs Verhalten geschimpft und stand ihm in dieser schwierigen Sache bei. Nun brauchte seine Nachbarin selbst Hilfe und er hatte keine Ahnung, wie er das bewerkstelligen sollte. Finanziell gab es nichts bei ihm zu holen. Die Raten für das Haus verschlangen sein halbes Gehalt. Allerdings würde Doris sowieso keinen Cent von ihm annehmen. Also musste er andere Wege finden, um ihr zu helfen. Unbemerkt, denn sie hatte einen ausgeprägten Stolz. Obwohl sie ihn sich nicht leisten konnte. Aber die Pension bedeutete ihr alles und war ihr Lebenswerk.
Zuversichtlicher als er war, prüfte Roger neuerlich die Unterlagen. Mit demselben Ergebnis wie Larissa zuvor. Die Pension würde über kurz oder lang Bankrott machen.
Bis zum späten Nachmittag zermarterte er sich den Kopf darüber, was er tun könnte. Erst als er sich nach Dienstschluss im Feinkostladen ein Brötchen holen wollte, kam ihm eine Idee mit Blick zum gegenüberliegenden Tourismus-Büro. Voller Unbehagen schritt er darauf zu. Als er das Gebäude betrat, blickte Josie hinter dem Empfang hoch. Ihr Lächeln verschwand sofort. Übrig blieb eine grimmige Miene.
„Was willst du?“, begrüßte sie ihn und kaute heftig am Kaugummi. Ihr Haar war mittlerweile länger und sie trug einen türkischen azurblauen Seidenkaftan. Da Josie für ihren wechselnden Modestil bekannt war, schien sie geradezu prädestiniert dafür, um hier zu arbeiten und die internationalen Gäste zu empfangen. Außerdem beherrschte sie angeblich fünf Fremdsprachen, da sie seit ihrem Umzug nach St. Agnes laufend Fortbildungskurse in Redruth besuchte.
„Du könntest mir einen großen Gefallen tun.“
„Dir tu ich bestimmt keinen Gefallen“, versprühte Josie weiter ihr Gift.
„Können wir nicht normal miteinander umgehen?“
„Du hast Annie übel mitgespielt. Da sie meine beste Freundin ist, erübrigt sich deine Frage, wie du dir sicher denken kannst. Außerdem fehlt mir jeglicher Respekt vor dir. Du legst alles flach, was nicht bei drei auf den Bäumen ist.“
„Stimmt“, nahm er ihr den Wind aus den Segeln. „Ich war ein Schwein und Annie hat einen wie mich nicht verdient.“ Allmählich fühlte er sich wie ein Plattenspieler, der ständig dasselbe Lied abspielte. „Aber sie ist jetzt glücklich. Das freut mich. Glaub es oder nicht.“
„Wer soll dir diese Läuterung abnehmen?“ Bei jedem Atemzug glitzerte der breite silberne Rundhalsausschnitt mit den vielen Glitzersteinchen. „Sorry, aber ich bin nicht der Papst. Selbst der hätte seine Zweifel bei deiner Biografie.“
„Hilfst du mir nun oder nicht?“ Josie überhaupt in Betracht gezogen zu haben schien einer seiner dümmsten Einfälle gewesen zu sein.
„Wieso? Soll ich dir Hotels nennen, in denen junge Frauen abgestiegen sind? Findet sich ansonsten keine Touristin für den notgeilen Sanders?“
Die ständigen Spitzen taten allmählich weh. „Es geht um Doris.“
Ihr verkniffenes Gesicht nahm einen erschrockenen Ausdruck an. Immerhin zählte Doris zu den Legenden des Ortes und man ließ die ältere Generation in St. Agnes hochleben. „Was ist mit ihr? Ist sie krank?“
„Das nicht, aber sie kommt finanziell kaum über die Runden. Könntest du ihr vielleicht regelmäßig ein paar Gäste vermitteln?“
„Wie soll das gehen?“ Jetzt hatte ihre Stimme wenigstens einen normalen Ton.
„Na ja, bei dir schneien täglich Touristen herein, um sich nach freien Zimmern zu erkundigen. Du könntest Doris’ Privatpension empfehlen.“
„Dir ist schon klar, dass ihr Haus den heutigen Standards nicht mal im Ansatz entspricht? Weder hat sie Internetanschluss noch TV-Geräte in den Zimmern. Das Klo ist am Gang und es gibt nur eine Gemeinschaftsdusche. Von der alten Einrichtung ganz zu schweigen.“
„Mag sein, dafür ist die Lage ein Traum“, versuchte er ihr die Sache schmackhaft zu machen, obwohl ihm klar war, dass er eine Fachfrau vor sich hatte. „Lass uns Doris helfen.“
Josie kniff die Augen zusammen. „Sieh an, du hast ja doch Gefühle“, murmelte sie. „Gut. Ich werde mein Bestes geben, aber versprechen kann ich nichts.“
3. Kapitel

Emma starrte auf das Lesezeichen vor sich auf dem Tisch und hatte keine Ahnung, wie sie zu Lindas Appartement gekommen war. Weil sie sich wie ferngesteuert fühlte und so viele Fragen hatte, die auf so vieles eine Antwort wären.
„Ich bin zuhause, Liebling“, flötete Linda lachend zur Wohnungstür herein. „Und ich habe jemand mitgebracht.“ Kaum war das letzte Wort verklungen, kam sie mit Grant im Schlepptau ins Wohnzimmer. Beide blieben jäh stehen. „Du liebe Zeit, ist etwas passiert?“
Wortlos schob Emma das Lesezeichen in Lindas Richtung. Mit dem Gefühl, als würde sie heißes Eisen anfassen.
„Was ist das?“, wunderte sich ihre Freundin, schlüpfte aus den beigen High Heels und trat zum Tisch. Grant folgte ihr und beäugte neugierig das Lesezeichen, das Linda in die Hände nahm, die in Angora-Handschuhen steckten. Ihre Freunde hatten gut durchblutete Wangen und dufteten nach frischer Winterluft. „Eine Telefonnummer?“ Auf einmal erhellte sich Lindas Gesicht. „Etwa von Mr. X?“
„Ich denke, sie ist von meinem Dad“, stellte Emma richtig. Unwissend, ob es tatsächlich so war, denn es klang seltsam. Immerhin hatte sie einen Vater. Seit einunddreißig Jahren. Dennoch ließ dieses Lesezeichen einen anderen Schluss zu.
„Und das wirft dich so aus der Bahn?“ Linda setzte sich, während Grant mit beiden Händen die Sessellehne umspannte und Emma mit einem ähnlich fragenden Blick bedachte wie ihre Freundin.
„Lies die Rückseite“, forderte Emma sie auf.
Linda drehte das Lesezeichen um. „Wir finden eine Lösung, Claire“, las sie laut vor. „Besonders für die Kleine. Bitte lass uns darüber reden. Ich werde bei der Wheal Coates Mine auf dich warten. Um zehn Uhr, an Silvester, unserem Tag. Dein R., Dezember 1986.“ Linda schaute vom Lesezeichen zu Emma und wieder zurück. Ihre Lippen bewegten sich, als sie sich erneut in die Zeilen vertiefte.