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„Was bedeutet das?“, fasste sich Grant als Erster, der zwischen Emma und Linda Platz nahm. Umständlich wie ein alter Mann. Bei jeder Bewegung hörte man ein Knacken in seinen Knochen. „Woher hast du das Lesezeichen überhaupt?“ Er zog sich die graue Kappe vom Kopf und legte sie auf den Tisch. Die obligatorische Brille fehlte. Hin und wieder griff er zu Linsen, wenngleich ungern. Nicht selten zog er sich eine satte Augenentzündung zu. Da er aber blind wie ein Maulwurf war, konnte er weder auf das eine noch auf das andere verzichten.
„Aus der Tasche meiner Mutter“, erteilte Emma Auskunft.
Abrupt schaute Linda hoch, die allmählich zu begreifen schien, worauf Emma hinauswollte. „Du bist im selben Jahr geboren. Könnte es sein, dass du …“, sie räusperte sich, als hätte sie einen Frosch im Hals, „all die Jahre recht hattest und Ben in Wahrheit nicht dein leiblicher Vater ist?“
„Es würde vieles plausibler machen“, rief Emma aus, die sich völlig überfordert fühlte. „Die Tatsache, dass meine Geschwister mehr gelten als ich. Meine Gefühle, ein Fremdkörper zu sein und das Äußere. Tiff und Kim sind beide blond wie … Dad es früher war.“ Es fiel ihr plötzlich schwer, Ben so zu nennen. „Nur Mom hat schwarze Haare.“
„In der Tat wäre es möglich“, bestätigte Grant ihren Eindruck, der den Reißverschluss seines Parkas öffnete. Das Geräusch war für einen Augenblick das einzige im Raum. „Andererseits ist es schwer vorstellbar, dass sie das vor dir verheimlichen. So gemein kann kein Mensch sein.“
„Darauf würde ich keine Wette abschließen“, meinte Emma mit einem metallischen Geschmack auf der Zunge.
„Jetzt brauche ich ein Cola-Rum“, ließ Linda verlauten, legte das Lesezeichen auf den Tisch und erhob sich. Im Nu zog sie sich die Handschuhe aus und warf sie achtlos neben die Vase. „Wollt ihr auch eins?“ Grant und Emma nickten. Nur eine Minute darauf standen randvolle Gläser vor ihnen.
Wie die anderen sog Emma kräftig am gelben Strohhalm. Lindas Lieblingsgetränk war ziemlich stark. „Wenn das so weitergeht, werde ich über kurz oder lang an der Flasche hängen“, sagte sie mit Galgenhumor, nachdem sie sich zurückgelehnt hatte und deutlich die starre Sessellehne spürte. Als stünde sie mit dem Rücken zur Wand. Nicht anders war diese Situation zu beschreiben.
„Was mich nicht wundern würde.“ Grant schälte sich aus seinem Parka und hängte ihn über die Stuhllehne. Linda trug nach wie vor ihren beigen Kurzmantel und als würde sie sich erst jetzt darauf besinnen, zog sie sich die Baskenmütze vom Kopf. Schwungvoll landete sie neben dem Lesezeichen, das wie ein Brandmark vor Emma lag. „Wo ist dieses Wheal Coates eigentlich? In St. Agnes?“
Emma nickte. „Ich habe vorhin gegoogelt. Es gehört zu den Wahrzeichen des Ortes und sieht auf den Bildern ziemlich romantisch aus. Eine alte Zinn-Mine, sofern ich richtig gelesen habe.“
„Was willst du jetzt mit den Informationen anfangen?“, erkundigte sich Linda.
„Keine Ahnung.“ Emma schaute auf ihr Handy. Bis zu ihrem Besuch bei Camilla hatte sie es ausgeschaltet, da Tiff in Fünf-Minuten-Abständen anrief. Seitdem sie die Bücherei verlassen hatte, war es wieder in Betrieb. Irrwitzigerweise hoffte sie, dass sich ihre Mutter wegen dem fehlenden Lesezeichen melden würde. Inzwischen müsste sie die Tasche längst haben. Inklusive der Information, dass Emma das Lesezeichen bei ihrem überstürzten Aufbruch in der Hand hielt, was ihrer Tante sicher nicht entgangen war. Doch es war wiederholt Tiff, die anrief. „Es fühlt sich an, als wäre mein bisheriges Leben eine einzige Lüge gewesen“, stieß Emma aus. „Nicht genug, dass sie mir vermutlich den Vater vorenthalten haben, strafen sie mich sogar mit Gleichgültigkeit. Wer weiß, wie anders mein Leben verlaufen wäre, hätte ich ihn gehabt.“
„Das sind reine Spekulationen“, gab Linda sanft zu bedenken. „Vielleicht war er ein ganz mieser Kerl, vor dem sie dich beschützen wollten.“
„Denkst du das wirklich?“ Emma verließ den Tisch, weil sie es nicht mehr aushielt, und stellte sich zum Fenster. Sanft plätscherte die Themse vor sich hin. Über die Jubilee Bridge strömten viele Menschen mit ihren bunten Regenschirmen. Trist und grau zog der Abend heran, gegen den sich allmählich die Lichter der Stadt behaupten würden. Ob auf dem Riesenrad London Eye, hinter den Fenstern des Westminster Palace oder am Big Ben, den man ebenfalls von hier aus sehen konnte. Offiziell der Elisabeth Tower, da nur die schwerste der fünf Glocken Big Ben hieß, aber wie viele Londoner benutzte auch Emma die alte Bezeichnung für den Turm. Manches änderte sich eben nicht aufgrund eines Namens. Manches jedoch schon.
Wie dieser R. wohl aussah? Ob sie ihm ähnlich war? In der Art? Im Äußeren? War er gutmütig? Eigen? Besaß er Humor? Doch in der Tat waren es nur Hypothesen. Vielleicht hatte jemand ein Zitat aus irgendeinem Buch auf das Lesezeichen geschrieben. Mit dem Namen ihrer Mutter. Aus Jux oder Tollerei. Eine von vielen Erklärungen, die sich trotz aller Vernunft nicht richtig anfühlten. Weil Emma etwas Unbeschreibliches empfand. Ein Gefühl, als würde sie nach langem Herumirren in einem Labyrinth zum ersten Mal den Ausgang sehen. „Glaubt ihr, dass ich mich zu sehr hineinsteigere?“ Sie wandte sich zu ihren Freunden um und setzte sich auf die weiche mintgrüne Sitzauflage, die auf der breiten Fensterbank lag.
„Ich kann verstehen, dass dich das stutzig macht“, antwortete Grant, der einen erbsengrünen Pullunder mit V-Ausschnitt über dem weißen Hemd trug, eine graue Fliege und eine schwarze Bundfaltenhose. Sein altmodischer Kleidungsstil hatte schon die Aufmerksamkeit einiger Scouts auf sich gezogen, die Bilder von ihm auf Instagram veröffentlichten. „Wen würde es nicht zum Nachdenken bringen? Sicherheit wirst du jedoch erst haben, wenn du deine Eltern damit konfrontierst. Auch Gesten oder Reaktionen können eine Antwort sein, ohne dass jemand den Mund aufmacht. Verlass dich auf deinen Bauch, Emma. Womöglich hat er dir von Anfang an das Richtige gesagt.“
„Ich muss Grant beipflichten.“ Hastig sog Linda am Strohhalm, deren Glas beinahe leer war. „Du hattest einen Verdacht. Jetzt hat er sich erhärtet. Finde heraus, was es damit auf sich hat. Nur bitte verliebe dich nicht bereits jetzt in den Gedanken, dass du einen anderen Vater hast. Einen, der dich lieben wird. Bei dem du es gutgehabt hättest. Ich weiß, das hast du dir immer gewünscht. Allerdings ist das Leben kein Wunschkonzert und nicht jeder Mann ist automatisch ein guter Dad. Aber wem sage ich das.“
„Keine Sorge, ich mache mir keine Illusionen, denn mir ist bewusst, dass alles möglich sein kann“, versicherte Emma. „Obwohl ich das seltsame Gefühl nicht ignorieren kann.“
„Was ist eigentlich mit der Telefonnummer?“, warf Grant ein.
„Kein Anschluss unter dieser Nummer.“ Es wäre auch zu einfach gewesen.
Die Türglocke setzte ihrem Gespräch ein jähes Ende.
„Das wird der Pizzalieferant sein.“ Linda sprang vom Tisch hoch und knöpfte hastig den Mantel auf. „Ich habe mir am Nachmittag erlaubt, eine Kleinigkeit für uns zu bestellen. Wir haben ja deinen Geburtstag nicht gefeiert und unser Geschenk hast du ebenfalls nicht bekommen. Also lasst uns das Beste aus diesem Abend machen.“ Mit schwingenden Hüften und dem Mantel über dem Unterarm eilte Linda in den Korridor hinaus. „Was willst du denn hier?“, ertönte plötzlich ihre schrille Stimme.
„Ist meine Schwester bei dir?“
Tiff!
Wie von einer Tarantel gestochen stürzte Emma zum Tisch und schnappte sich das Lesezeichen, das sie sich in die Gesäßtasche ihrer Jeans schob. Gerade rechtzeitig, weil Tiff bereits im Türrahmen erschien und sie mit funkelnden Augen anstierte.
„Ich habe dich nicht hereingebeten“, schimpfte Linda, die sich drohend neben Tiff aufbaute.
„Reg dich ab. Ich bin gleich weg. Eigentlich wollte ich nur nach meiner ach so kranken Schwester sehen, die uns heute kläglich im Stich ließ.“
„Mir geht es wirklich nicht gut“, verteidigte sich Emma. Wie armselig. Kaum kreuzte Tiff auf, kuschte sie. Dabei war sie eine erwachsene Frau, keine Leibeigene oder ein kleines Kind.
„Das sehe ich.“ Tiff blickte zum Tisch. „Gibt es etwas zu feiern?“
„Mit Cola?“, machte sich Linda lustig über sie. „Ich bitte dich.“
„Deinem Atem nach ist es mit Rum gestreckt“, konnte sie Tiff nichts vormachen, die wieder umwerfend aussah in ihrem schwarzen Satinmantel mit dem Leopardenmuster auf der Schulter und den kniehohen Lack-Stiefeln, die schmutzige Abdrücke auf dem glänzenden hellbraunen Marmorboden hinterließen. „Warum starrst du mich so an, Emma?“, fragte Tiff schnippisch. „Neidisch, weil ich im Gegensatz zu dir vorzeigbar bin?“
Ihre Annahme war nicht weit hergeholt, denn Brandons Vorwurf hämmerte in Emmas Kopf. Es stimmte, dem Vergleich mit den Schwestern hielt sie niemals stand. Besonders was Tiff betraf.
„Falls du gekommen bist, um Emma zu beleidigen, kannst du gleich wieder gehen“, sprang Linda für sie in die Bresche. Eigentlich hätte Emma etwas in der Art sagen müssen. Um endlich klarzumachen, dass sie sich nichts mehr gefallen lassen wollte.
„Irrtum. Ich bin hier, um sie zur Vernunft zu bringen“, wurde Tiff unwirsch. „Die Belegschaft musste den Gästen laufend erklären, warum es keine frischen Eclairs gibt. Einige haben sogar mit schlechten Kritiken im Internet gedroht. Deshalb will ich wissen, ob ich morgen auf dich zählen kann, Emma.“
„Wir werden sehen“, rang sie sich zu einem halben Widerwort durch und tat nach außen hin cool. Leider wusste Tiff genau, welchen Schalter sie betätigen musste, um ihr ein schlechtes Gewissen zu machen. Zu sehr fühlte sich Emma für die Mitarbeiter verantwortlich.
„Schön“, äußerte sich ihre Schwester mit säuerlicher Miene. „Du musst selber wissen, was du tust. Aber ich könnte nie so egoistisch sein und meine Kollegen mitten im Weihnachtsgeschäft alleinlassen. Nun ja, nicht jeder ist verlässlich. Also amüsiere dich gut. Ich hoffe, du erstickst am Rum.“ Wütend stapfte sie hinaus. Als die Tür ins Schloss fiel, blickten sich Emma, Linda und Grant an.
„Eigentlich haben wir stimmungsmäßig neuerlich keinen Grund zum Feiern“, meldete sich Linda zu Wort, die sich schüttelte, als hätte sie den Leibhaftigen gesehen. Emma ging es ähnlich, nur dass sie das Lesezeichen wie ein Damoklesschwert über sich spürte. „Andererseits ist das der beste Grund, um es erst recht zu tun. Also, Leute, lasst uns heute Abend alles vergessen.“

Es war erst sechs Uhr morgens. Dennoch stand Emma in der Backstube. Ungeachtet der langen Nacht mit ihren Freunden, die ihr einen roten Sitz-Überzug für Reddy geschenkt hatten. Plüsch für die kalten Tage. Die beiden waren grandios.
Doch die Freude darüber konnte ihre innere Rastlosigkeit nicht auf Dauer verdrängen. Stundenlang hatte sie sich im Bett gewälzt und sich gefragt, wie sie die Sache angehen sollte. Denn dass sie dem nachgehen musste, stand fest. Sonst würde sie keine Ruhe finden. Deswegen war Emma unter anderem in die Konditorei gekommen. Beim Backen kamen ihr oft die besten Ideen. Außerdem half ihr diese Tätigkeit, um sich zu entspannen. Ein weiterer Grund waren die Angestellten. Das Weihnachtsgeschäft war tatsächlich jedes Jahr der reinste Horror und die Nerven aller lagen blank. Das musste sie nicht zusätzlich schüren, indem sie fehlte. Für Tiff hätte sie hingegen keinen Finger krummgemacht.
Das Wasser mit der Butter kochte auf. Emma hatte eine Prise Salz und etwas Zucker dazugegeben. Das Mehl stand neben dem Herd wie der kleine Messing-Streuer mit ihrer Geheimwaffe. Ein selbst kreiertes Gewürz, das den Eclairs den unnachahmlichen Geschmack verlieh. Unter anderem bestand es aus der Tonka-Bohne, echtem Süßholz, Kardamon, Chili, Koriander, Bourbon-Vanille und einem Hauch Kalu Namak. Im Winter erweiterte sie das Gewürz gerne mit Anis, Zimt, Pfefferminze oder Nelken. Im Frühjahr und Sommer griff sie zu Rosenblüten, rosa Pfeffer, getrockneten Blumen oder Kräutern. Der Fantasie waren keine Grenzen gesetzt. Allerdings musste man auf die korrekte Dosierung der Zutaten achten, damit sich das Aroma in den Eclairs perfekt entfalten konnte. Natürlich sollte auch die Füllung dazu passen, die eine Kunst für sich war. Diese Arbeit und das Dekorieren liebte sie am meisten.
Mittlerweile kochte es im Topf. Emma reduzierte die Hitze und fügte das Mehl hinzu. Danach rührte sie, bis der Teig glatt wurde und sich vom Boden löste. Als sie mit dem Ergebnis zufrieden war, zog sie den Topf vom Herd, damit die Masse abkühlen konnte.
Diese Zeit nutzte sie, um das übriggebliebene Schwarzgeschirr zu waschen. Vermutlich hatte ihr Vater ausgeholfen - oder zumindest der Mann, den sie bisher dafür hielt.
Emma riss sich sofort zusammen, mit Lindas Ermahnung im Hinterkopf. Es würde sich alles weisen. So oder so. Zuerst musste sie sich um die Arbeit kümmern, denn es sah fast so aus, als hätten gestern alle fluchtartig die Konditorei verlassen. Im Gastraum bot sich kein besseres Bild. Allerdings war sie vor zwei Tagen ebenfalls abgehauen. Deswegen war es nur gerecht, dass sie jetzt den Angestellten hinterher putzte.
Als zumindest die Küche wieder glänzte, widmete sich Emma der inzwischen warmen Masse und bestreute sie mit ihrem Geheimgewürz. Danach rührte sie ein Ei hinein. Nicht mit der Küchenmaschine oder dem Handmixer, wie es die meisten taten. Die Maschinen hatten kein Herz und keine Seele. Mit Liebe zu backen hieß, vieles von Hand zu machen. Auch wenn es anstrengender war. Emma glaubte jedenfalls fest daran, dass man den Unterschied schmecken konnte und arbeitete auf dieselbe Weise die restlichen Eier ein.
Als der Teig eine seidige Konsistenz hatte, füllte sie den Spritzsack damit und schob kurz danach die gefüllten Bleche ins Backrohr. Währenddessen bereitete sie eine weitere Masse vor, da sie auch herzhafte Eclairs anboten, süß-herbe oder anderes. Drei Stunden später stapelten sich die gefüllten Leckereien im Kühlraum. Nach einer Weile gesellten sich auch Cupcakes, zwei Torten und ein Apfelkuchen dazu, den sie nach einem alten Rezept buk, das sie vor Jahren in einer Zeitschrift gefunden hatte. Ohne Brimborium, was ihn gerade deshalb zu etwas Besonderem machte.
Um halb zwölf trudelten schließlich die Servicekräfte ein, denen Emma zur Hand ging, da sie wie jeden Tag um dreizehn Uhr aufsperrten. Früher war das anders gewesen. Der Vater hatte in aller Früh aufgemacht, doch Tiff führte neue Öffnungszeiten ein. Natürlich kam sie auch heute fast pünktlich mit den ersten Gästen zum Dienst und verzog sich sofort in ihr Büro neben dem Eingang.
Emma füllte laufend die Vitrinen mit Eclairs, Kuchen und Torten nach. Dann und wann half sie dem Servicepersonal hinter der Bar und wusch die Gläser ab. Am Nachmittag war die Konditorei brechend voll, trotzdem musste Tiff unbedingt zur Maniküre und blieb drei Stunden weg. Dabei hätten sie jede helfende Hand brauchen können.
„Geht es Ihnen wirklich besser?“, fragte Alice, mit der Emma die Gläser polierte. „Sie sehen etwas blass aus und hätten sich auskurieren sollen, statt zu arbeiten.“
„Es geht schon“, wich Emma aus. „Davon abgesehen kann ich euch nicht im Stich lassen.“ Zumindest das war nicht gelogen.
„So wie es Ihre Schwester laufend tut?“, erkundigte sich die Zwanzigjährige spitz. Alice studierte Psychologie und wohnte in einer WG. Ursprünglich kam sie aus Irland, wo ihre Eltern eine Farm besaßen. „Verzeihen Sie, das hätte ich nicht sagen sollen.“
„Stimmt. Du bist gefeuert, Alice!“, zischte Tiff, die plötzlich hinter ihnen stand.
„Bist du von allen guten Geistern verlassen?“, ergriff Emma Partei für das Mädchen, das leichenfahl wurde. Alle wussten, wie dringend sie den Job brauchte. London war ein teures Pflaster.
„Im Gegenteil.“ Tiff verschränkte die Arme vor der Brust. „Ich sortiere aus und du bist die Nächste, wenn du noch einmal so mit mir sprichst, Emma. In der Konditorei bin ich deine Chefin, nicht deine Schwester, weshalb es keinerlei Narrenfreiheit für dich gibt.“
Emmas Herz raste und eine unbändige Wut erfasste sie. Es reichte! Das Fass war übergelaufen. Genau genommen war es das längst. „Narrenfreiheit? Mein Name ist Emma und nicht Tiffany!“ Zornig stellte Emma das Glas auf den Tresen und warf das Tuch daneben hin. Alice stand immer noch reglos da. „Du kommst und gehst, wann es dir passt. Kein Wunder, dass uns das ärgert. Alice hat nur ausgesprochen, was wir alle denken.“
„Du hast keine Ahnung, wie egal mir das ist.“ Allmählich wurden die Gespräche an den Tischen leiser. „Ihre Aussage war respektlos und ein Imperium wie unseres braucht eine harte Hand. Tanzt mir einer auf der Nase herum, tut es der Nächste ebenfalls und meine Arbeitsleistung steht ohnehin nicht zur Debatte. Davon abgesehen ließ Alices Einsatz in den letzten Wochen sehr zu wünschen übrig.“
„Sie ist eine der Fleißigsten!“ Emma bemerkte, dass das Mädchen gegen die Tränen ankämpfte.
„Du solltest jetzt besser den Mund halten“, warnte Tiff sie.
„Sonst was?“, zeigte sich Emma angriffslustig. Tiff hatte sie nicht nur auf dem falschen Fuß erwischt, sondern mit ihrem Verhalten Alice gegenüber eine Schleuse geöffnet. Nebenbei tat die Sache mit dem Lesezeichen ihr Übriges.
„Kannst du dir das nicht denken?“ Tiff zog die Augenbrauen zusammen. „Obwohl das zu viel verlangt wäre. Im Denken warst du nie eine Leuchte. Lieber hast du geheult über dein ach so schlimmes Dasein.“
„Woran du nicht unschuldig bist“, warf Emma ihr vor. „Du egoistische, berechnende und intrigante Schnepfe!“ Nie zuvor hatte sie so mit ihrer Schwester gesprochen oder sich vor den Angestellten mit ihr gestritten, die sie mit offenem Mund anstarrten. Sogar Tiff stand wie vom Donner gerührt da. „Von klein auf hast du ständig versucht, mir alles wegzunehmen, das mir wichtig war. Notfalls mit eiskalten Mitteln. Aber hast du ein schlechtes Gewissen? Nein, du beutest mich ohne mit der Wimper zu zucken aus und ich dämliches Schaf lasse das zu. Doch das hat ein Ende, weil ich nicht mehr für dich arbeiten will, du … du …“ Ihr fiel kein passendes Schimpfwort ein, und jene, die ihr in den Sinn kamen, wollte sie den Anwesenden nicht zumuten. „Ich kündige, und zwar fristlos.“ Tiff schnappte nach Luft. „Such dir eine andere Dumme, die für dich die Drecksarbeit macht. Ich bin raus.“ Emma zog an der Masche ihrer Schürze, zerrte sie sich förmlich vom Körper und schleuderte sie Tiff vor die Füße. Dann eilte sie in die Küche, um ihre Tasche zu holen und das Geheimgewürz einzustecken. Im Gastraum zurück, drängte sie sich an ihrer Schwester vorbei. Als Emmas Blick jedoch auf den roten Kapuzenmantel fiel, der am Haken der Bürotür hing, blieb sie wie gelähmt stehen.
„Gehört der Mantel dir?“ Bleiern wandte sie sich Tiff zu, die sie spöttisch von oben bis unten betrachtete.
„Eifersüchtig auf das Einzelstück?“ Ihr Lachen war widerwärtig.
„Du bist Brandons Affäre?“, flüstere Emma ungläubig. „Mein Mann hat mich mit der eigenen Schwester betrogen?“ Ein entsetztes Raunen ging durch den Raum. „Wie konntest du nur?“
„Du kennst seine Einstellung. Für ihn warst du nur das hässliche kleine Entlein. Welcher Mann gibt sich nicht lieber mit dem schönen Schwan ab? Tja, und Angie ist unser Codewort gewesen, wie meine ständigen Dates nur erfunden waren.“
Alle Blicke waren auf Tiff gerichtet. Entsetzte und angewiderte. Selbst das schien sie nicht zu merken, wie sie nichts mehr um sich herum merkte. Vielmehr fühlte sie sich scheinbar über alles und jeden erhaben. Im Recht. Sogar jetzt noch. „Du widerst mich an, Tiff.“
„Damit kann ich leben.“ Sie lachte gehässig. Doch niemand lachte mit. In der Konditorei blieb es mucksmäuschenstill. Bebend vor Zorn trat Emma vor ihre Schwester hin, die noch immer lachte - bis sie ihr eine schallende Ohrfeige verpasste. Das klatschende Geräusch erfüllte die Luft. Abrupt verstummte Tiff und fuhr sich mit geweiteten Augen an die linke Wange, auf der sich ein dunkler Fleck abzeichnete. „Das wirst du büßen“, zischte sie und schaute sich hastig um, als würde ihr erst in diesem Moment bewusst, dass sie nicht alleine waren.
„Zeig mich an, verklag mich oder mach sonst etwas. Es ist mir egal. Aber wenn du glaubst, dass du dich in meinem Haus breitmachen kannst, hast du dich geschnitten. Brandon kannst du hingegen behalten. Ich schenke ihn dir mit dem größten Vergnügen, weil ich schon lange nicht mehr glücklich bin. Insofern muss ich dir sogar dankbar sein, dass du mir die Augen geöffnet hast.“ Emma wusste, dass sie ihre Schwester damit am meisten traf. „Dein ursprünglicher Plan, mir eins reinzuwürgen, ist somit gescheitert. Aber irgendwann kommt alles zurück.“ Emma beugte sich näher zu Tiff. „So was nennt man Karma“, flüsterte sie. „Viel Glück. Du wirst es brauchen.“

„Die haben applaudiert, als du aus der Konditorei gerannt bist? Ernsthaft?“, vergewisserte sich Grant, mit dem sich Emma am nächsten Tag im Hyde Park verabredet hatte. Als IT-Manager konnte er sich die Zeit frei einteilen und arbeitete meistens im Homeoffice.
„Peinlich, was?“ Trotz ihres schlechten Gewissens, sich vor allen Leuten derart gehen zu lassen, freute sich Emma über den Zuspruch der Gäste und Angestellten, der sie bestärkt hatte. In einem Augenblick, als sie sich unendlich schwach fühlte und gleichzeitig nie stärker gewesen war. „Ich bin immer noch fassungslos“, stieß sie aus. „Brandon und meine Schwester! Wie konnte sie so tief sinken?“ Es war unbegreiflich. Dabei hatte sie gedacht, Tiff hätte sich schon alles geleistet.
„Wenn du mich fragst, passen die zwei ausgezeichnet zusammen.“
„Das ist wahr. Trotzdem finde ich keine Worte dafür.“ Eine Weile schwiegen sie. „Was für eine Wendung! Bis vor kurzem hatte ich einen Ehemann, einen Job und zumindest im Ansatz eine Familie. Jetzt habe ich gar nichts mehr.“ Hinzu kam Emmas Sorge wegen dem Personal. Durch ihre Kündigung hatte sie es ihnen nicht einfacher gemacht. Andererseits wollte sie keinen Tag länger für Tiff arbeiten und für Alice würde sich eine Lösung finden lassen. Linda hatte viele Kontakte. Womöglich konnte der Concierge weiterhelfen.
„Vielleicht musste es so kommen. Damit du das Neue siehst, sobald sich der aufgewirbelte Staub gelegt hat“, philosophierte Grant, dessen Leidenschaft die Oper und alte Literatur war. Deshalb hielt er sich oft stundenlang in Camillas Buchladen auf, die sogar eine Zeit lang geglaubt hatte, er würde auf sie stehen.
„Glaubst du?“ Ein kleiner Lichtblick in dieser Misere wäre zu schön, um wahr zu sein.
„Ich bin sogar felsenfest davon überzeugt, dass es ab heute bergauf gehen wird. Mit freier Fahrt voraus.“ Grant legte den Arm um ihre Schulter und zog sie liebevoll an sich. Wie ein Paar schlenderten sie weiter, obwohl er bestimmt lieber Linda im Arm gehalten hätte. Seit Jahren liebte er ihre Freundin und hatte Emma häufig sein Leid geklagt, die ihm riet, offen mit ihr darüber zu reden. Grants Selbstbewusstsein war leider ähnlich verkümmert wie Emmas. Er traute sich nicht. Aufgrund seiner Krankheit, seines Äußeren und anderen Dingen. Ebenso wenig fruchtete ihr Rat, Abstand zu halten, bis es nicht mehr so wehtat. Das schaffte ihr Freund erst recht nicht und so litt er still vor sich hin. Emma mochte sich kaum ausmalen, wie es ihm gehen würde, sofern sich Linda eines Tages neu verlieben sollte.
„Was hältst du davon, wenn wir morgen gemeinsam zum Arzt gehen?“, schlug Emma vor, da jeder Schritt eine Tortur für Grant war, wie sie seinem schmerzerfüllten Gesicht ablesen konnte. „Zeit genug hätte ich, um dich zu begleiten.“
„Themenwechsel“, zeigte er sich stur. „Ich hasse Ärzte.“
„Aber sie können dir helfen.“
„Meinst du so wie meiner Mom?“ Die Furcht war deutlich zu hören. Grant wuchs mit drei Geschwistern auf. Seine Mutter hatte hart gearbeitet, um die Familie durchzubringen, da sein Vater über Nacht verschwand. Nach drei Jahren heiratete sie erneut. Grant verstand sich blendend mit seinem Stiefvater, der sich rührend um die Mutter kümmerte, die ebenfalls einen weiten Bogen um jeden Arzt machte. Ungeachtet ihrer Schmerzen durch die Verformung der Wirbelsäule und dem Buckel, der sich im Laufe der Jahre entwickelte. Eines Tages hatte Grants Stiefvater sie bewusstlos aufgefunden und sofort ins Krankenhaus gebracht. Dort stellte man einen sehr schweren Krankheitsverlauf fest, der eine Operation unumgänglich machte. Bedauerlicherweise endete dieser Eingriff damit, dass sie seitdem im Rollstuhl saß. Grants größter Albtraum.