- -
- 100%
- +
Cohen erwiderte: »Du solltest es ihm sagen. Dass du es nicht wusstest, meine ich. Du solltest wirklich mit ihm reden, bevor er dir die Schuld gibt.«
Bellzazar wandte den Blick ab und ließ Cohens Kinn los, was dieser sehr bedauerte, und durch die plötzliche fehlende Berührung wäre er beinahe gegen Bellzazar gefallen, weil er das Kinn auf dessen Hand gestützt hatte.
»Das ist erstmal nicht wichtig«, blockte Bellzazar ab, »was er von mir hält, ist nie wichtig, er muss einfach nur verstehen. Und wenn es ihm leichter fällt, jemandem die Schuld für irgendetwas zu geben, dann ist das eben so. Lieber soll er mich hassen, weil er denkt, ich hätte ihm etwas verschwiegen, als in Selbstmitleid zu baden, weil er schuld daran ist, dass er nie nach diesem Ei gesucht hat.«
Cohen verzog die Lippen wehmütig und legte Bellzazar eine Hand auf den steinharten, muskulösen Oberarm. »Unverbesserlicher Märtyrer«, murmelte er und legte den Kopf auf Bellzazars Schulter.
Korah kam mit eingezogenem, demütig hängendem Kopf auf sie zu geschlurft und hielt die Arme vor der flachen, knabenhaften Brust verschränkt.
»Es tut mir leid«, Reue ließ seine schöne Alabasterhaut grau erscheinen, »es ist meine Schuld, dass er sich in einen Drachen verwandelte, er wollte seinen Schützling retten. Wenn ich ihn nicht darauf aufmerksam gemacht hätte, dann …«
»Schon gut«, unterbrach Bellzazar ihn scheinbar genervt und verdrehte die Augen. »Ist ja nichts passiert. Und genau genommen ist das hier doch besser als erwartet. So können wir Desiderius alles schonend beibringen und ihn von der Dringlichkeit unserer Probleme überzeugen.« Dabei sah er hinüber zu Place.
Korah seufzte erleichtert darüber, dass Bellzazar ihm nicht böse war, und trat auf diesen zu. Er lehnte sich aufdringlich an Bellzazars freie Seite und schmiegte die Wange an seine andere Schulter.
Cohen musste Schmunzeln, als Bellzazar es mit einem Grollen zuließ und dann sogar die Nase im schwarzen Haar seiner Schöpfung vergrub.
Cohen wurde ganz warm ums Herz, während er die beiden betrachtete. Bis er Bellzazars tief grübelnden Blick bemerkte.
»Was ist los?«, hakte er leise nach, obwohl er eine Ahnung hatte, und hob den Kopf von Bellzazars Schulter.
Sein Fürst zuckte nur mit den Schultern. »Nichts, was soll sein? Ich denke über unsere Möglichkeiten nach, diese göttliche Dirne kalt zu machen.«
Cohen runzelte die Stirn. »Nein, das ist es nicht«, sagte er einfühlsam, »du wirkst angefressen.«
Bellzazar wandte ihm das Gesicht zu. »Angefressen?«
»Ja«, Cohen zuckte mit den Achseln, »verstimmt, miesmutig, wütend…«
»Ich weiß, was angefressen bedeutet«, knirschte er und starrte mit eng verschränkten Armen vor sich hin. »Es ist nichts!«
Dieser Sturkopf. Cohen schnaubte und schüttelte den Kopf. »Es tut mir leid, dass du gesehen hast, wie er mich küsste.« Er wusste doch, was los war, Bellzazar konnte ihm nichts vormachen.
Aber er zuckte nur mit den Schultern. »Ist mir gleich. Ich wusste, dass er das tun würde.« Nun sah er Cohen ins Gesicht und lächelte kalt und aufgesetzt. »Mir war bewusst, dass unsere Liaison nicht von Dauer sein konnte, vor allem seit er dich wieder sehen kann.«
Cohen legte bedauernd den Kopf schief. »Bell…«
»Nein, kein Mitleid«, unterbrach Bellzazar ihn und wirkte gleichgültig, »es ist, wie es ist. Du hast Nähe gebraucht, um dich an etwas klammern zu können, und ich war verfügbar. Jetzt kannst du dich wieder an die unglückliche Liebe zu meinem Bruder klammern.« Er wandte den Blick mit einer endgültigen Geste ab.
Cohen wollte noch etwas sagen, wusste aber gar nicht, was. Er wusste ja noch nicht einmal so recht, was er fühlte. Sein Herz frohlockte, weil er wieder bei Desiderius sein konnte, trotzdem zog es ihn weiter zu Bellzazar hin. Und es schmerzte ihn, dass sein Fürst ihn von sich stoßen wollte.
»Er ist eifersüchtig«, murmelte Korah plötzlich mit einem Grinsen in der Stimme und legte seinem Schöpfer eine Hand auf die Brust, »er platzt gleich vor Zorn.«
Bellzazar presste die Lippen zusammen und konterte mühsam beherrscht: »Halt den vorlauten Schnabel, oder ich schmeiß dich vom Gipfel.«
Cohen schmunzelte verstohlen und lehnte sich wieder an Bellzazar, der keine Anstalten machte, irgendeine körperliche Zuneigung zu ihm zu bekunden. »Er kommt eindeutig nach dir«, neckte Cohen ihn.
Und Bellzazar schnaubte, legte aber die Wange auf Korahs Scheitel, wie es nur ein liebender Vater tun würde.
*~*~*~*
»Mein Name ist Doragon. In der Sprache unserer Stämme bedeutet es Drache. Es tut mir leid, dass ich nach Euch geschnappt habe, aber Ihr standet zwischen mir und meinem Schützling. Ich schwor ihm bei meinem Leben die Treue – und ihr wart mir im Weg. Aber ich habe Euch nicht runtergeschluckt, Eure Gefährten übertreiben etwas.«
Desiderius stieg schmunzelnd durch das Unterholz, Doragon wollte ihm etwas zeigen, von dem er glaubte, Desiderius würde es nur glauben, wenn er es selbst sähe. »Ich mache dir keinen Vorwurf, ich war der Dummkopf, der sich vor das Maul eines Drachen warf. Genauso gut hätte ich mich mit ein paar Gewürzen garnieren können.«
»Davon muss ich immer niesen.«
Sie lachten beide. Unsicher und noch etwas verkrampft, aber sie lachten. Und es war befreiend, zu spüren, dass keinerlei Groll ihr Aufeinandertreffen verdüsterte. Ragon hatte glücklicherweise Rahffs frühere Besonnenheit geerbt, von Desiderius` übergroßem Stolz hatte er nichts abbekommen, dafür aber den Drachen in sich.
Es war verrückt, absolut unglaublich, dass er existierte und sie sich unterhielten. Desiderius konnte das alles noch gar nicht so richtig begreifen, er wusste auch gar nicht ob er sich fürchtete oder sich freute. Man stand ja nicht alle Tage vor einem verlorenen Sohn, der aus einem Ei geschlüpft war, und den man mit einem anderen Mann geschaffen hatte. Einem Mann, den man einst wegen Verrats gerichtet hatte.
Schuldbewusst griff sich Desiderius an die Brust und umfasste Nebelkralles alte Kette und die Ringe, die Rahff für sie angefertigt, ihm aber nie gegeben hatte. Trauer und Wut überkamen ihn, aber er zügelte seinen Zorn auf sich und die Welt.
Was war er doch dumm gewesen, zu glauben, Suto und das Ei wären einfach so aus der Welt. Er hätte nach beiden suchen müssen! Doch damals war es einfach, daran zu glauben, Suto sei gestorben. Er hatte es sich eingeredet, um nie wieder daran denken zu müssen.
»Es tut mir leid, dass ich nie nachgeforscht habe, was aus euch geworden ist«, hörte er sich sagen, ohne sich bewusst gewesen zu sein, dass er es hatte sagen wollen. Aber er meinte es ehrlich, heute bedauerte er es zutiefst, vor allem wenn er sich ansah, was für ein stattlicher Mann vor ihm stand, in dessen Augen eine Erfahrung innewohnte, die ihn sogar ein wenig einschüchterte.
Doragon ging um eine Tanne herum, blieb dann stehen und wandte Desiderius das Gesicht zu. Er hatte die Maske nicht wieder übergestreift und in seinem Blick stand Vergebung. »Ihr habt es selbst gesagt, Ihr wart jung – und es gingen schreckliche Dinge in Eurem Königreich vor, von denen wir sogar bis nach Zadest hörten. Ihr hattet ein Schicksal zu erfüllen.« Er zuckte mit den Schultern. »Ich bin nicht verbittert, König Desiderius. Das heißt, ich war es, aber das ist lange her. Heute bin ich erwachsen und habe meinen Frieden damit gemacht. Ich wollte nie Teil Eures Lebens sein. Ich fragte mich immer, wer Ihr wohl seid und was für ein Mann aus Euch geworden ist, was Ihr wohl zu mir gesagt hättet. Aber ich wollte nie …« Er brach ab und schüttelte seufzend den Kopf. »Ich hatte ein Leben, ein eigenes Leben. Zadest war meine Heimat und die Tiermenschen waren mein Volk. Und ihretwegen bin ich hier. Nicht, um irgendetwas von Euch für mich selbst zu erbitten, nicht einmal, um Euch zu treffen. Nur um den Westen um Hilfe zu ersuchen. Nicht für mich, sondern für die Völker meiner Heimat. Und wir brauchen den gesamten Westen, nicht Euch im Einzelnen.«
Desiderius hätte von den Worten vielleicht gekränkt sein sollen, aber das war er nicht, er lächelte lediglich und reckte das Kinn ein wenig vor. »Jetzt ist es fast, als stünde dein Vater vor mir, Doragon.«
»Ragon«, korrigierte er und neigte leicht das Haupt, »wenn Ihr wünscht, mein König.«
»Nennen deine Stammesbrüder dich so?«, fragte Desiderius interessiert.
»Ähm ja… aber den Namen gab ich mir selbst.«
»Oh. Ach so?«
»Ja…« Nun wirkte Doragon doch tatsächlich ein wenig schüchtern, als er sich im Nacken kratzte. »Wisst Ihr… Ragon. Rahff. Das klang ein wenig ähnlich…« Er räusperte sich unbehaglich und zuckte mit den Schultern. »R.A. Es war das Einzige, was irgendwie von ihm blieb, oder? Na ja, ich und diese beiden Buchstaben. Damals war es einem ruhelosen Jungen wichtig, und heute ist Ragon einfach mein Name.«
Neugierig legte Desiderius den Kopf schief. »Und welchen Familiennamen bevorzugst du?«
»Keinen, mein König. Ich bin einfach Ragon, schon mein ganzes Leben.«
Desiderius schnaubte amüsiert. »Also schön. Ragon. In Ordnung. Aber lass den Quatsch mit dem Verbeugen und diesem Königs-Ding. Du hast es selbst gesagt, deine Heimat ist Zadest, und dein Volk ist dein Stamm – ich bin nicht dein König, Ragon, ich will es auch nicht sein.«
Das brachte Doragon – Ragon dazu, die Augen zu verengen, aber er nickte einmal knapp.
Natürlich herrschte noch gesunder Argwohn auf beiden Seiten, immerhin waren sie sich trotz allem gänzlich fremd. Und es hatte eine Zeit gegeben, da hätte Desiderius nicht einmal seinem eigenen Schatten vertraut, geschweige denn einem Verwandten. Doch Wexmell hatte ihn gelehrt, auch mal auf sein Herz zu vertrauen, darauf, was es ihm sagte, und dieses wollte sich gegenüber diesem Fremden regelrecht öffnen. Es war so seltsam, als würde er wieder vor dem jungen Rahff stehen, und natürlich kamen dabei allerlei Gefühle auf.
»Wir sollten weiter gehen«, schlug Ragon vor. Desiderius nickte und bedeutete ihm, voran zu gehen. Ragon drehte sich um und kämpfte sich weiter gewissenhaft durch das Unterholz, wobei er sich weniger einen Weg bahnte, als vielmehr trotz massigem, riesigem Körper der Umgebung anpasste. Selten knickte ein Zweig oder auch nur ein Blatt ab, wenn er durch den Wald schlich.
All das nahm Desiderius ganz deutlich wahr, er beobachtete den Fremden ganz genau, um ihn kennen zu lernen. Ragon wusste, sich durch den Wald zu bewegen, sogar noch besser als er. Er war wie ein schleichender Bär, der immer darauf achtete, Mutternatur nicht zu schaden. Er respektierte den Wald, vom kleinsten Grashalm bis zum größten Baum, liebte ihn wie eine Mutter, das sah man auf den ersten Blick. Ein Mann, der eindeutig im Dschungel und unter Völkern aufgewachsen war, deren Gott und deren Glaube die Wälder waren.
Aber nicht nur das fiel Desiderius auf, auch bei ihrem Gespräch achtete er ganz genau auf Ragons Worte und auf das, was sie beinhalteten. Er war zurückhaltend, vorsichtig – aber nicht verschlossen. Er wollte Desiderius` Vertrauen gewinnen, erzählte persönliche Dinge von sich und antwortete ohne zu zögern auf alle Fragen, wobei er ehrlich blieb, selbst wenn die Antwort Desiderius vielleicht nicht gefiel, jedoch war er dabei immer höflich.
Klug. Das war er. Sehr klug. Und er schien mit Königen, die nicht die seinen waren, Erfahrung zu haben. Er benahm sich vorbildlich distanziert, aber offen, und das obwohl er vermutlich jeden Grund hätte, Desiderius etliche Vorwürfe zu machen.
Des Weiteren ging er voraus und drehte Desiderius ohne zu zögern den Rücken zu. Er war ein wenig angespannt dabei, drehte sich aber niemals nervös zu ihm um, als wollte er ihm zeigen, dass er ihm vertraute, und Desiderius auch ihm vertrauen konnte. Er trug auch keine Waffen, die hatte er bei der Ruine gelassen.
Der Wald wurde wieder lichter und Desiderius holte auf, nebeneinander gingen sie weiter. Herabgefallene, trockene Äste knackten unter ihren Schritten, es wurde wärmer, der Morgen ging in den Mittag über, und er fragte sich, ob es Wexmell gut ging.
Mir geht es gut, Liebster, sagte er in Gedanken und hoffte, sie würden seinen Prinzen erreichen. Ich komme zurück zu dir. Ich. Komme. Immer. Wieder. Zurück. Zu. Dir.
Erst an zweiter Stelle trat die Sorge an seine Kinder, die vermutlich umkamen vor Angst um ihn.
Er dachte immer zuerst an Wex, so war das leider. Sie liebten ihre Kinder ohne Grenzen, aber die Liebe zu einander war schon immer die stärkste Macht gewesen.
Und jetzt war Cohen wieder da. Das änderte natürlich nichts zwischen ihm und Wexmell, rein gar nichts. Aber … es war seltsam. Einfach seltsam. Er könnte nicht glücklicher sein, und doch wusste er, dass es nichts ändern würde, außer einem Ende der Schuld, weil Cohen für ihn gestorben war, und ein Ende der Trauer.
Was Wex wohl sagen wird, wenn er Cohen sieht?
Desiderius vertrieb die Gedanken, er würde es auf sich zukommen lassen. Wexmell würde Cohen vermutlich umarmen, so war er eben einfach. Aber gerade war Desiderius sogar froh, dass Ragon ihn von Cohen ablenkte.
Denn… er war einfach wieder da, nach all den Jahren. Und er war jetzt ein Dämon. Zudem ein ziemlich bissiger, wenn er an dessen Bemerkung dachte. Das musste erst einmal verdaut werden.
Er konnte es kaum glauben, dass er das mal sagen würde, aber sein verlorener, aus einem Ei geschlüpfter Spross, der bereits seit langem ein erwachsener Mann war, bereitete ihm weniger Kopfzerbrechen als sein plötzlich von den Toten als Dämon widergekehrter einstmals Geliebter…
Verdammt, sein Leben war ja schon immer kompliziert gewesen, aber dieser Tag und seine Enthüllungen übertraf einfach alles. Er wollte nur noch das Gesicht an Wexmells Hals vergraben und schlafen. Sehr lange schlafen.
»Was ist mit Suto?«, wagte er endlich zu fragen und sah vor seinem inneren Auge noch einmal dieses seltsame, zierliche Vogelwesen mit dem azurblauen Federkleid und den riesigen Eulenaugen, das sich gern schüchtern an seinen Rücken geklammert hatte. »Was ist mit ihm geschehen?«
Ragon ging einige Schritte mit gesenktem Kopf weiter und Desiderius glaubte schon, dieser würde ihm die Antwort schuldig bleiben, wenn er nicht noch weiter nachhaken würde.
Doch da seufzte Ragon schwer und legte leicht den Kopf schief. »Suto lebt nicht mehr, er starb vor vielen Jahren.«
Desiderius hatte es geahnt, immerhin war es viele Jahrzehnte her. Wie alt war Ragon ungefähr? Vierzig Sommer? Nicht, dass man es ihm angesehen hätte, dank seines luzianischen Blutes würde er ein paar Jahrhunderte alt werden können und immer noch wie dreißig aussehen. Der Fluch ihres langlebigen Volkes war es, dass alle anderen Völker nicht einmal ansatzweise so alt wurden wie sie.
Trotzdem krampfte Desiderius` Herz bei dieser endgültigen Nachricht, auch wenn er ewig nicht an Suto gedacht hatte. Durch Ragons Auftauchen war Suto wieder … Wirklichkeit geworden.
»Wie?«, verlangte er zu erfahren. Er musste es jetzt einfach wissen.
Ragon machte dieses Thema sichtlich unglücklich, doch nach einem tiefen Durchatmen, suchte er Desiderius` Blick und begann zu berichten, während er sie langsam und gewissenhaft weiter durch den Wald führte: »Er starb, wie fast alle seinesgleichen starben.«
Desiderius wurde hellhörig, als er Ragons kryptischen, missmutigen Unterton vernahm, und wäre beinahe über eine Wurzel gestolpert, weil er dessen plötzlich düsteres Gesicht betrachtete, statt dahin zu sehen, wohin er als nächstes trat. »Wie meinst du das?«, fragt er, innerlich über sich selbst fluchend.
»Die meisten seiner … Gattung…«
»Zwitterwesen?«
»Wir bevorzugen es, sie das geistliche Geschlecht oder auch Göttergeschlecht zu nennen«, korrigierte Ragon ihn, jedoch ohne Tadel, als wäre Desiderius eben einfach ein dummer Westländer, dessen eingeschränkte Weltansicht man ihm vergeben müsste.
Desiderius presste die Lippen zusammen. »Verzeih, ich wollte ihn gewiss nicht beleidigen.«
»Schon gut«, Ragon zuckte mit den Achseln, während er sich nach einem Ast streckte und sich daran hinaufzog, um über einen umgestürzten, mit Moos bedeckten Stamm zu klettern. Er blieb obendrauf sitzen und reichte Desiderius seine Hand, um ihm hinaufzuhelfen. Desiderius schlug ein und ließ sich hochziehen. Auf der anderen Seite sprangen sie wieder hinunter und setzten ihren langsamen Marsch fort.
»Wir sehen etwas Magisches in Wesen wie Suto«, klärte Ragon ihn dann weiter auf, »weil nur unsere Waldgeister – oder nur Götter, wie ihr es nennt – fähig sind, sich mit allem und jedem zu paaren. So hätte Suto durchaus auch einen reinrassigen Wolf oder einen Jaguar gebären können. Das bedeutet es für uns, magisch zu sein. Göttlich zu sein. Das göttliche Geschlecht ist im Grunde gar kein Geschlecht, es passt sich den Umständen an. Es kann alles sein, was es sein will, um sicherzustellen, dass das Leben in unserer Welt fortbesteht. Selbst wenn ein Stamm vom Aussterben bedroht ist, sorgt ein solches Wesen dafür, dass er vor der Ausrottung gerettet wird. Selbst dann, wenn es nur noch fruchtbare Männer oder nur noch fruchtbare Frauen gibt. Weil…«
»Sich das göttliche Geschlecht allem anpassen kann, um das Überleben zu sichern.«
Ragon nickte bestätigend. »Ja, genau.«
»Wie starb Suto?«, fragte er erneut nach, nun mit einer deutlichen Befürchtung in der Stimme.
Ragon seufzte neben ihm. »Vor einigen Jahren erfuhren die Frauenstämme von unserem göttlichen Geschlecht und sahen es als eine Bedrohung für die Welt der Frauen. Dass etwas, außer einer Frau, Leben erschaffen kann, machte ihnen Angst. Also jagten einige Stämme Wesen wie Suto. Und eines Tages … endeckten sie auch ihn.«
Desiderius wurde die Kehle eng. »Sie töteten ihn«, begriff er und mahlte wütend mit den Kiefern.
Ragon nickte bekümmert. »Es war meine Schuld. Wir lebten von unserem Stamm abgeschieden an einem Strand, wo uns Gaben und andere Huldigungen gebracht wurden. Suto wurde beinahe wie ein Druide verehrt, aber es gab keinen Schutz. Nur mich.« Er machte eine kurze Pause und lief mit gesenktem Blick weiter. »Wie ich bereits erwähnte, gab es eine Zeit, als ich wegen meiner … Herkunft zornig war. Ich wollte zurück, ich wollte wissen, wer meine Familie ist, woher ich stamme, ich … war wütend, als wir erfuhren, dass … Rahff getötet wurde. Aber Suto verbot es mir, er hielt es für zu gefährlich, gen Westen zu gehen. Ich war jung und eigensinnig, also verwandelte ich mich und wollte allein fliegen. Doch dann erlag ich dem Ruf der Freiheit und kam nie über Zadest hinaus.«
Desiderius sah ihn schockiert an. »Du bist dem Ruf der Drachen gefolgt?« Als Blutdrache konnte man in verwandelter Form auch seinen tierischen Instinkten verfallen und der Welt der Zweibeiner den Rücken kehren. Niemand konnte einen dann mehr zurückholen.
Ragon wirkte schuldbewusst, als er weitersprach. »Ich habe einige Jahre als Drache unter Drachen gelebt, als … Ich weiß gar nicht genau, was passiert ist, aber eines Tages verwandelte ich mich ohne mein bewusstes Zutun zurück. Und ich ging heim. Doch statt Suto erwarteten mich nur seine bereits vertrockneten Überreste. Er war schon seit mehr als einem Jahr tot, sie haben ihn aufgeschlitzt und liegen gelassen. Das ließ meine ganze Wut verrauchen. Mein Stamm war auch fort, sodass ich von heut auf morgen auf mich allein gestellt war, ohne den Rückhalt von … irgendwem.«
Desiderius starrte ihn fassungslos an, wusste aber nicht, was er sagen sollte. Jedes Wort wäre einer dummen Floskel gleichgekommen.
Ragon bemerkte seinen Blick und verzog wehmütig seinen Mund. »Wenn ich da gewesen wäre … Aber das war ich nicht. Solche Dinge passieren, wisst Ihr? Man trifft Entscheidungen, die sich hinterher als schrecklicher Fehler herausstellen. Aber an diesen Fehlern wächst man.«
»Wo bist du dann hingegangen?«, fragte Desiderius neugierig. »Hast du deinen Stamm wiedergefunden?«
»Nein, aber einen befreundeten Stamm«, antwortete Ragon, »dort hielt es mich aber auch nicht lange. Die Schuld war zu groß und ich war sehr wütend auf mich selbst. Der Häuptling riet mir, für meine Fehler Widergutmachung zu leisten, um meinen eigenen Seelenfrieden wiederzufinden. Er schickte mich direkt ins Wespennest, wie man so schön sagt.« Er lächelte Desiderius amüsiert an. »So gelangte ich in den Dienst der Königin von Zadest.«
Desiderius hob überrascht die Augenbrauen.
»Ja. Aufgrund meiner blanken Haut und menschlichen Gestalt war es ihnen einfacher, mir zuzuhören, als einem Vogelmann«, fuhr Ragon fort. »Wie dem auch sei, ich war dort eine Art Botschafter für die Tierstämme. Damit das Ausrotten unserer heiligen Wesen aufhörte, versuchte ich, den Frauen begreiflich zu machen, was sie sind, und dass sie ihre Welt niemals bedrohen könnten. Einige hörten zu, ich hatte die Gunst der Königin auf meiner Seite, und nach und nach konnten wir die Verfolgungen eindämmen. Und noch viel mehr. In Zadest ist es üblich, Jungen schon bei der Geburt in Zucht- oder Arbeiterhäuser zu stecken, wir kämpften für das Recht dieser Männer, und obwohl noch viele Frauenstämme strikt dagegen waren, erhielt die Königin dennoch großen Zuspruch.«
Desiderius hörte, dass dies nicht der Anfang eines glücklichen Endes war.
Ragon bog um einen Baum herum und blieb plötzlich stehen, die Sonne hing nun kräftig leuchtend am blauen Himmel und brannte auf den bewaldeten Gipfel des Berges hinab. Der Wind pfiff hier lauter, als wäre eine Klippe ganz in der Nähe.
»Aber dann wurde sie verraten und plötzlich war nicht mehr nur mein Volk, sondern auch ihres in Gefahr«, erklärte Ragon mit verhärtetem Gesicht. »Sie wurde ermordet. Ich floh zurück zu meinem Stamm und konnte den Häuptling überreden, zu helfen. Seitdem sind wir Rebellen, die nicht nur unsere eigenen Leute, sondern auch ihre befreien und beschützen.«
Desiderius konnte förmlich spüren, wie sich die Falte zwischen seinen Augen vertiefte. »Reden wir hier von Sklaven?«
»Wir befreiten viele«, sagte Ragon dazu nur mit sehr ernster Stimme. Dann sah er plötzlich zur Seite, durch die Bäume hindurch. »Aber dann offenbarte sich uns das ganze Ausmaß dieses Verrates. Diejenige, die die Königin ermordete, ist kein Wesen aus unserer Welt.«
Desiderius sah ihn fragend an, doch statt sich weiter zu erklären, wandte Ragon sich ab, ging noch einige Schritte und deutete dann nach unten.
Neugierig trat Desiderius neben ihn und wäre beinahe eine plötzliche steile Klippe hinabgestürzt, die sich unmittelbar wie der Rachen eines Ungeheuers unter ihnen auftat. Dort unten sah er, was ihm den Atem stocken ließ. Ein Heerlager in mitten des Waldes unter ihnen. Sechshundert Mann, schätzte sein geübtes Auge.
»Was ist das?«, hauchte er und ging in die Hocke. Es brannten Feuer, aber es standen keine Zelte, die Soldaten standen wie zum Befehl bereit, keiner rührte sich. Mehr Statuen als lebendige Wesen.
»Selbst die Frauenstämme sind vor ihr geflohen.« Ragon lehnte sich mit der Schulter an den Baum. »Sie nennt sich die Herrin, und sie ist hier, um auch euch zu stürzen. Euch alle.«
Desiderius sah noch eine Weile auf das Heer hinab, während er im Geiste bereits fieberhaft nach Schlachtplänen und ebenso nach anderen Lösungen forschte. Er konnte den Blick nicht von dem Feind abwenden, der dort unten zu lauern schien und von dem etwas Fremdartiges, Bedrohliches ausging. Die Gefahr stank bis zu ihnen hinauf.
»In Ordnung«, hörte er sich sagen, »erzählt mir alles ganz genau.«
*~*~*~*
»Es tut mir so leid«, flüsterte Kacey voller Reue an Fens Schulter. Noch immer klammerte er sich an dessen Arm und versteckte sich halb hinter dessen Rücken. Doch die fremden Männer, die wie aus dem Nichts aufgetaucht waren, beachteten sie gar nicht. Höchstens dieser große, schlanke Kerl mit unheimlich schwarzen Augen, der immer wieder mit einem Habichtblick zu ihnen rüber starrte, als ob er fürchtete, sie könnten sich heimlich davon gemacht haben. Ansonsten ließ man sie in Ruhe.
Wer waren all diese Männer? Warum hatten sie bereits an der Ruine auf sie gewartet, als Ragon gelandet war? Kacey hatte während der ganzen Aufregung nicht viel mitbekommen. Es war ihm alles zu viel gewesen, die Stadt, die Lichter, der Lärm und dann diese vielen Leute um ihn herum, die aufgebracht und nervös schienen. Bis dieser große Kerl mit den schwarzen Augen, von dem eine tiefdüstere, wabernde Aura ausging, recht bestimmt Ragon befohlen hatte, den Mann im Maul sofort auszuspucken. Was der Drache auch getan und sich dann zurückverwandelt hatte.