- -
- 100%
- +
Dann hatte dort ein Bewusstloser gelegen, um den sich alle gescharrt hatten, während Ragon seine Wunden selbst verbunden und seine Maske übergestreift hatte. Nun war Ragon fort, gemeinsam mit einem der Fremden, und Kacey zitterte noch immer am ganzen Leib vor Aufregung. Er kam sich ja so dumm vor. Das ganze Chaos war seinetwegen ausgebrochen, das spürte er ganz deutlich.
Und er spürte auch Fens Ärger, der sich unverkennbar auf seine verhärteten Züge eingeschweißt hatte, was nur zu Kaceys Verzweiflung beitrug.
»Es tut mir ja so leid«, beteuerte er wiederholt und schmiegte das tränennasse Gesicht an Fens Arm.
Dieses Mal seufzte Fen und drehte sich endlich zu ihm um. »Jetzt setz dich, du zitterst wie ein Aal!«
Fen drückte Kacey auf eine umgestürzte Mauer. Das Moos darauf war klamm und durchnässte seine Hose, aber es tat gut, zu sitzen.
Als Fen sich wieder abwenden wollte, umfasste Kacey dessen Hände und zog ihn zu sich herum. Mit großen feuchten Augen sah er zu ihm auf. »Ich wollte wirklich nicht, dass Ragon verletzt wird! Ich hab gedacht, wenn ich allein gehe, muss er seinem Vater nicht begegnen und …« Er verstummte verzweifelt, als er Fens harten Blick bemerkte. Ernüchtert ließ er den Kopf hängen und schniefte. »Du hasst mich jetzt, weil ich Ragon in Gefahr gebracht habe.«
Fen seufzte und ging vor ihm in die Hocke, seine Hände waren warm, als er Kaceys kalte Finger umfasste und zudrückte. »Ich hasse dich nicht. Ich hatte nur furchtbare Angst um dich. Das hatten wir beide.«
Zögerlich hob Kacey den Blick. Und Fen rang sich ein leichtes Lächeln ab.
»Ragon ist schon ein Großer«, sagte Fen eindringlich und knuffte Kaceys zartes Kinn, von dem Tränen tropften, »den haut nichts zu schnell um, also mach dir keine Sorgen um ihn. Es waren nur ein paar Kratzer.«
Kaceys Herz zog sich schmerzhaft zusammen. »Ich hatte solche Angst… als die ganze Stadt ihn angriff … und… wenn du nicht so schnell dagewesen wärst…«
»Ich bin mit Ragon geflogen und vor der Stadt abgesprungen, damit sie mich nicht kommen sehen. Ich wusste, dass etwas schief gehen würde. Ragon hat nicht nachgedacht, er wollte nur so schnell wie möglich zu dir.«
Kaceys Lippe zitterte unkontrolliert. »Ihr wart wegen mir in Gefahr. Wegen mir war alles in Gefahr. Und ich habe mich so … hilflos, so klein gefühlt. Ich konnte nichts tun, Fen, ich war so … machtlos … während Ragon verletzt wurde… ich… ich wollte ihm helfen, aber ich konnte rein gar nichts tun…«
»Schsch.« Fen legte ihm einen langen Finger über die Lippen, bis er schwieg, und strich ihm dann beruhigend über den Kopf. »Denk nicht darüber nach. Es ist vorbei und uns geht es gut. Alles andere ist nicht wichtig, in Ordnung?« Doch dann wurde sein Blick sehr ernst und seine buttergelben Augen blitzten feurig auf. »Aber tu so etwas nie wieder! Hörst du? Keine Alleingänge, vor allem nicht, ohne uns Bescheid zu geben! Das macht eine Gemeinschaft aus, Kacey. Wir sind deine Gefährten, du darfst uns nicht so einfach hintergehen.«
Erschrocken sah er Fen an. »Ich würde euch nie hintergehen! Ich wollte doch nur Ragon schütz-…« Als er Fens leicht spöttischen Blick bemerkte, senkte er beschämt den Blick.
Sie wussten beide, warum er davongelaufen war. Er hatte sich zu sehr geschämt, von Ragon zurückgewiesen worden zu sein.
Fen atmete matt aus und trocknete Kaceys Wangen, indem er ihm mit den Knöcheln das Gesicht trockenwischte. »Es hängt so viel von dir ab, Okiniiri.«
Kacey blinzelte überrascht. Hatte Fen ihn gerade wirklich Liebling genannt?
»Tu nie wieder so etwas Leichtsinniges«, beschwor ihn Fen und in seinen mandelförmigen Augen konnte man die Furcht sehen, die er um Kacey gehabt hatte.
»Ist das alles, was für euch zählt?«, fragte Kacey matt. »Dass viel von mir abhängt?«
»Bei der Mutter, nein!«, stöhnte Fen und rang die Hände in die Luft, als wollte er Kacey am Hals packen und aus Verzweiflung schütteln. »Es geht mir allein um dich! Selbst, wenn du nur ein dümmlicher Bauer wärst, der nur noch sabbern könnte, weil ihm zu viele Kokosnüsse auf den Kopf gefallen sind, würde ich dich mit meinem Leben schützen!«
Kacey musste schmunzeln, zum ersten Mal seit er sich davongeschlichen hatte und alles im Chaos geendet war.
Fen seufzte und streichelte ihm die von den Tränen kalte Wange zärtlich mit dem Daumen. »Ich täte alles für dich. Wir sind …« - er nahm Kaceys Hände und legte sie sich feierlich über sein kräftig schlagendes Herz - »… Brüder.«
Kaceys Lippe zitterte vor Rührung und er warf sich an Fens Hals, der beinahe deshalb nach hinten umgekippt wäre. Leise lachend legte Fen schließlich die Arme um Kaceys dürren Leib und drückte ihn ganz fest an sich.
»Ich liebe dich, Fen«, schniefte Kacey. Er kam sich so dumm vor wegen dem, was er angerichtet hatte. Wie ein naives, trotziges Kind. Vielleicht war er das auch, er fühlte sich jedenfalls so.
Fen seufzte: »Und ich liebe dich, mehr als mich selbst.«
Kacey spürte neue Tränen, doch dieses Mal aus Dankbarkeit. Das Schicksal hatte ihm die Mutter und somit die einzige Familie genommen, die er gekannt hatte, es hatte ihn zum Gefangenen gemacht – aber ebenso hatte es ihn in Ragons und Fens Arme gebracht. Das Beste, was ihm hätte passieren können.
»Ich war dumm, davonzulaufen«, entschuldigte er sich beschämt.
Fen umfasste seine Arme und drückte ihn von sich, damit er ihn ansehen musste. »Hör mal, ich weiß, es ist nicht schön, abgewiesen zu werden. Aber es war mutig von dir, ihn zu küssen. Sehr mutig.«
Kacey starrte zu Boden, seine Wangen glühten. »Es war dumm«, erwiderte er matt. »Aber … nach all der Zeit …« Er biss sich auf die Lippe und atmete zitternd aus und ein, Fen lauschte ihm geduldig und interessiert, ohne Vorurteile. »Ich war immer nur eingesperrt gewesen«, Kacey hob ratlos die Schultern, »und jetzt … bin ich frei und … ich …«
»Du sehnst dich nach Nähe«, wusste Fen, »und Ragon hat dieses gewisse Heldenhafte.« Letzteres klang so amüsiert, dass Kacey wieder rot wurde, denn es stimmte.
»Ich kann nicht in Worte fassen, wie sehr ich mich nach … Nähe sehne«, raunte er leise vor lauter Verlegenheit. Er räusperte sich. »Es ist, als gäbe es da in mir diese riesige Kluft, die gefüllt werden will.« Sehnsüchtig sah er Fen ins Gesicht. »Ich weiß, dass es bei dir anders ist. Wir waren beide Sklaven, aber doch anders.«
Fen senkte nun den Blick, als wäre es ihm unangenehm, das Kacey davon wusste.
»Dir wurde Gewalt angetan«, flüsterte Kacey bedauernd, »und mir hat man die Einsamkeit angetan. Während man dir Nähe aufgezwängt hat, wurde sie mir immer verwehrt. Nun sauge ich alles auf wie ein Schwamm und … irgendwie scheint es nie genug.«
Fen lächelte matt und sah Kacey wieder an. »Du musst dich nicht entschuldigen, Kacey. Und wie gesagt, es war sehr mutig, deine Gefühle offen zu zeigen. Aber Ragon ist einfach viel zu … gut, um das auszunutzen. Außerdem ist sein Herz festverschlossen.«
Kacey nickte enttäuscht. Seit er Ragon kannte, zog dessen freundliche Art ihn magisch an, er war der typische Retter in der Not gewesen, und Kaceys einsames Herz hatte sich sofort an ihn gehängt, schon in dem Moment, als die Tür seines Käfigs aufgezogen wurde und Ragon sich ihm behutsam genähert hatte. Er war die erste Person, die Kacey Vertrauen geschenkt hatte, und er hatte es nicht bereut.
»Ich wünschte, ich hätte ihn nie geküsst«, seufzte er nun.
»Nein, tu das nicht«, Fen sah ihn streng an, »das gehört zum Leben dazu, Kacey. Jeder kann Gefühle verbergen, und die meisten von uns leben ein Leben ohne je das zu zeigen oder zu sagen, was sie wirklich wollen. Du hingegen hast Mut bewiesen und dein Glück versucht. Das war nicht dumm, überhaupt nicht! Du solltest immer deinem Herzen folgen, Kacey, auch wenn es verletzt werden könnte. Zurückweisung gehört nun mal leider auch zum Leben dazu, aber du hast es wenigstens versucht und hast dir nichts vorzuwerfen. Es ist immer besser zu wissen, woran man ist, als sich bis an sein Lebensende zu fragen, was hätte sein können. Also schäme dich nie für das, was du fühlst und tust und auch nie für Entscheidungen, die du aus dem Herzen heraus getroffen hast. Das bedeutet es, stark zu sein.« Fen lächelte aufmunternd und knuffte erneut Kaceys Kinn. »Stark ist der, der immer für seine Gefühle und Überzeugungen einstehen kann. Das macht dich besonders, nicht dumm.«
Aber er fühlte sich trotzdem dumm, bloßgestellt, weil Ragon jetzt wusste, dass er wie ein Kind von ihm schwärmte, es aber nicht im Geringsten erwiderte.
Oh ja, er fühlte sich sehr naiv deshalb und hätte es gern ungeschehen gemacht.
»Irgendwann, Kacey«, sagte Fen bedeutungsvoll, »küsst du den Richtigen oder die Richtige, und dann wirst du auch zurückgeküsst. Vielleicht schon früher als mir lieb ist.«
Kacey sah ihn irritiert an, musste aber dabei schmunzeln. »Wie meinst du das?«
Verdrossen nagte Fen auf der Innenseite seiner Wange. »Weil der- oder diejenige dich mir wegnimmt.«
Das brachte Kaceys Lächeln endgültig zurück und Fen seufzte glücklich, als er es sah. Ja, sie kannten sich vielleicht noch nicht sehr lange, aber doch waren sie eine Familie. Eine Familie, die sie sich ganz bewusst selbst ausgesucht hatten.
Bevor Kacey sich erneut an Fens Hals werfen konnte, hörten sie Äste auf dem Pfad knacken und fuhren herum. Fen erhob sich, als Ragon und der Fremde zurückkamen.
Ragon nickte ihnen zu und gesellte sich sofort wieder zu ihnen, während der Fremde zu dem großen Schlanken mit den schwarzen Augen ging und sie geradewegs gegeneinander liefen. Ein dumpfer Laut ertönte, als sie sich umarmten und einen Moment lang sehr innig festhielten. Sie sagten etwas, das Kacey nicht verstand. Dann wandte sich der Fremde von dem Mann mit den schwarzen Augen ab und wandte sich dem Einäugigen zu, den er mit solch einer Inbrunst an sich zog und küsste, dass seine Leidenschaft Kaceys Kehle nur beim Zusehen vor Sehnsucht austrocknen ließ. Was täte er nicht alles, selbst einmal so innig geliebt zu werden. Als sie sich lösten, traten sie herüber, und nun kamen auch die anderen Fremden auf sie zu, als hätte irgendjemand ein Signalhorn geblasen.
»Also«, erhob der dunkelhaarige Mann, der aus Ragons Drachenmaul gekommen war, das Wort in der Gruppe. Dabei huschten seine viel zu grünen Augen von Mann zu Mann und blieben kurz an dem silberhaarigen Spitzohr hängen, das ihn frech angrinste.
»Dich kenn ich doch.«
Das Spitzohr verneigte sich mit gefesselten Händen. »Place. Wir sind uns schon einmal begegnet, mein König.«
König? Neugierig musterte Kacey den Mann erneut. Er wirkte durch seine starke Statur und seinen stechenden Blick so imposant wie eine Führungsperson, doch seine Rüstung sah nicht nach einem König aus, wie Kacey ihn sich vorgestellt hätte. Kein Gold, kein Eisen, keine Krone.
Dieser angebliche König nickte. »Ich erinnere mich, mein göttlicher Sinn hat sich bei dir gemeldet.« Und dann blieben seine Augen an Kacey hängen und musterte ihn von Kopf bis Fuß. Diese Augen! Dieses beinahe giftige Grün! Er kannte sie, es waren die Augen dieses Prinzen, der ihm das Hemd zerrissen hatte. Kacey schob sich zwischen Ragon und Fen. Fen berührte ihn am Arm und Ragon legte ihm sanft eine Hand auf den Rücken, als wollten sie ihm sagen, dass sie ihn beschützen würden.
»Ich will alles wissen«, sagte der Mann mit den stechend grünen Augen. »Erzählt mir alles ganz genau von Anfang an«, verlangte er und dann bohrten sich seine Augen wieder in Kaceys Gesicht, als erwartete er von ihm eine Erklärung.
»Ich weiß, wer du bist«, schien sein Blick zu sagen, und Kacey vergrub das Gesicht in Fens Achsel.
Kapitel 5
Als sich ihm von hinten leise Schritte näherten, fuhr er sich eilig über die Wangen und schniefte noch schnell ein paar Tränen fort. Er drehte demjenigen, der zögerlich zur steinernen Bank zwischen all der saftig grünen Hecken kam, den Rücken zu, um sein verweintes Gesicht zu verbergen.
»Xa-Xaith?«, fragte Vaaks verwundert und setzte sich ungefragt neben ihn. Dabei hatte Xaith geglaubt, im Irrweg des Rosengartens würde ihn niemand finden.
Er sagte nichts und drehte sich auch nicht zu seinem Bruder um.
»Warum bist du hier allein?«, hakte Vaaks verwundert nach und versuchte, ihm ins Gesicht zu sehen. Aber Xaith drehte ihm nur noch mehr den Rücken zu, während er versuchte, heimlich die neuen Tränen fortzuwischen.
»Weinst du?«, rief Vaaks empört.
»Nein, du Schweinsgesicht, ich hab was im Auge!«, fauchte er über die Schulter.
Vaaks zuckte zurück, wie er es immer tat, wenn Xaiths ganzer Ärger unbeabsichtigt herausplatzte. Es tat ihm sofort leid, als er Vaaks` gekränktes Gesicht bemerkte, doch das sagte er natürlich nicht. Es fehlte ihm der Mut dazu, sich zu entschuldigen. Es war leichter, gemein und unausstehlich zu sein, als um Vergebung zu bitten.
Doch an diesem Tag ging Vaaks nicht einfach weg, wie er es sonst immer tat, er blieb sitzen und wandte nach einem Moment des unangenehmen Schweigens wieder das Gesicht zu Xaith um und fragte, als wäre nichts gewesen, sehr einfühlsam: »Was ist geschehen? Warum bist du nicht bei den anderen und lässt dich feiern? Heute ist doch euer Wiegenfest.«
»Und warum bist du denn nicht da?«, zischte er streitlustig und schabte mit den Füßen auf dem Kies unter der Gartenbank in Wexmells Rosengarten.
»Ich wollte noch etwas … holen.« Das letzte Wort sagte er so leise und nachdenklich, dass Xaith das tränennasse Gesicht zu ihm hob und ihn musterte.
Vaaks wirkte schüchtern, wie er in die Hecken starrte, die sie umschlossen und sie vor unerwünschten Blicken schützten.
Plötzlich war es, als wären sie wirklich ganz allein, wie in einer anderen Welt. Nur sie beide.
Das beruhigte Xaith auf eine seltsame Weise, wie er sie noch nie zuvor in seinem jungen Leben gespürt hatte. Zum ersten Mal schien er wirklich aufzuatmen und Luft zu bekommen. Sich sicher und geborgen zu fühlen.
Xaith wandte den Blick von Vaaks ab und starrte ebenfalls in die Hecken.
»Warum hast du geweint?«, hakte Vaaks nach einer Weile nach und wandte ihm das Gesicht wieder zu. Seine Augen betasteten Xaiths Profil spürbar, sodass er sich unwillkürlich beschämt wieder über die noch immer feuchte Wange wischte.
Xaith zuckte nur mit den Schultern.
»Wenn du nicht geweint hast, können wir ja auch wieder zurückgehen«, schlussfolgerte Vaaks und wollte aufstehen.
»Nein!« Xaith griff panisch nach Vaaks` Arm und zog ihn zurück auf die Bank. Da spürte er zum ersten Mal das seltsame Prickeln unter der Haut, und das aufgeregte Flattern seines Herzens.
Vaaks setzte sich wieder und sah ihn aufmerksam an. Er war beinahe ein ganzes Jahr älter als Xaith, zehn Monde, um genau zu sein, und das sah man seiner Statur auch an. Aber vor allem bemerkte Xaith, dass sein Bruder älter war, wenn er ihn so ansah, wie es ihr Vater immer tat. Irgendwie … verständlich und besonnen, immer offen und eine Spur … weise. Ja, Vaaks war groß und Vaaks war weise. Zumindest in Xaiths kindlichen Augen.
»Ich … ich mag nicht zurück«, nuschelte er dann mit gesenktem Kopf, hielt Vaaks` Arm aber mit seinen kleinen Händen fest umklammert, als könnte dieser ihn erneut versuchen, zu verlassen.
Vaaks versuchte, ihm ins Gesicht zu sehen. »Warum denn nicht? Willst du nicht dein Wiegenfest feiern? Das ist ein besonderer Tag für euch alle.«
»Nein, ist es nicht«, motzte er, »es ist ein blöder Tag!«
Vaaks runzelte seine große Stirn. »Aber warum denn? Wir haben uns doch alle schon vor einem Mond auf die Feier gefreut! Wir können soviel essen, wie wir wollen. Die Barden singen nur für euch! Und wir dürfen auf den Tischen tanzen! Vater hats erlaubt!«
Aber Xaith schüttelte stur den Kopf.
Vaaks` Blick wurde sorgenvoll, er senkte die Stimme. »War jemand gemein zu dir, Xaith?«
Daraufhin schwieg Xaith. Lange. Doch als Vaaks unruhig auf der Bank herumrutschte, bekam er plötzlich Angst, dieser könnte die Geduld verlieren und einfach gehen. Also nickte er irgendwann beschämt.
»Aber warum tust du dann so, als hättest du etwas angestellt?«, fragte Vaaks traurig. »Du musst dich nicht verstecken, wenn du nichts falsch gemacht hast. Komm, wir sagen Vater, was passiert ist, dann…«
»Nein!« Xaith zerrte an Vaaks` Arm, obwohl dieser sich noch gar nicht erhoben hatte. Panisch sah er ihn an und schüttelte entschieden den Kopf.
»Warum denn nicht?«, wollte Vaaks wissen und forschte mit seinen warmen, braunen Augen tief in Xaiths verlegenem Gesicht.
Xaith zuckte mit den kleinen Schultern und senkte den Blick. »Dann lachen sie nur noch mehr.«
»Wer war es?« Dieses Mal ließ seine Stimme keine Widerworte zu. »Sag es mir, Xaith! Sag schon!«
Kleinlaut nuschelte er: »Ein paar Kinder aus der Stadt.«
»Die sind nur neidisch!«, behauptete Vaaks.
»Nein, das sind sie nicht. Es liegt an mir, nur an mir. Mit mir stimmt etwas nicht!«, rief Xaith verzweifelt aus und wandte Vaaks wieder den Rücken zu, weil ihm erneut die Tränen kamen. »Ich bin hässlich, deshalb lachen sie. Ich bin … komisch!«
Vaaks schüttelte für einen Moment überrumpelt den Kopf, es dauerte, bis er die Fassung wiedererlangt hatte und beruhigend seine Hand auf Xaiths Rücken legte.
Sofort wehrte sich Xaith gegen die Berührung, wollte sie abschütteln, aber Vaaks drehte ihn wieder zu sich herum.
»Du bist nicht hässlich!«, sagte er empört. »So ein Unsinn!«
Xaith schniefte trotzig und fuhr sich mit dem Handrücken unter der Nase entlang. »Nein, ich bin seltsam, deshalb lachen sie.«
»Über was lachen sie?« Vaaks schien es einfach nicht begreifen zu wollen.
»Über meine Augen!«, schrie Xaith ihn an, wütend über seine Blindheit. Er drehte sich mit Tränen in den Augen zu Vaaks um. »Sie sagen, ich sähe komisch aus. Nennen mich Salamander.«
Vaaks verzog die Lippen zu einem Schmunzeln.
»Du findest das auch witzig!« Xaith schubste ihn, ballte die Fäuste und wollte wutentbrannt aufspringen, um vor ihm zu flüchten.
Aber Vaaks umschlang ihn mit beiden Armen und zog ihn auf seinen Schoß, wo er sich nicht mehr befreien konnte, obwohl er wütete wie ein Ferkel in der Schlinge des Schlachters.
Schon immer waren sie gleichgroß gewesen, aber Vaaks übertraf jeden an Breite und Masse, ohne rundlich zu erscheinen. Nein, er war kantig, nicht kurvig.
»Du bist schön«, beschwor Vaaks ihn. »Ich habe nicht dich ausgelacht, ich habe über sie gelacht. Ich liebe deine Augen. Jeder von uns liebt deine Augen. Sie sind besonders, nicht seltsam.«
Xaith spürte, dass er sich nicht befreien konnte, und ließ sich matt gegen Vaaks` warmen Körper fallen. »Ach ja, meinst du?«, murmelte er und nestelte mit den Fingern an den Ärmeln seines Bruders herum.
»Ich weiß es!«, beteuerte Vaaks. »Die anderen Kinder sind doch nur neidisch, weil sie gewöhnliche, langweilige Augen haben. Sogar ich bin manchmal neidisch, wenn ich deine sehe.«
Überrascht drehte Xaith das Gesicht zu ihm um. »Ja wirklich?«
Vaaks nickte schüchtern und ließ Xaith langsam los, woraufhin dieser eher widerwillig von seinem Schoß zurück auf die Bank rutschte. Interessiert und mit verklebten Wimpern betrachtete Xaith seinen Bruder.
»Ja, aber …«, Vaaks zuckte mit den Schultern, »…nur bis ich dich ansehe und dann kann ich nicht mehr neidisch sein.«
»Warum nicht?«, drängte Xaith sofort zu erfahren.
Aber Vaaks nagte nur an seiner Lippe und zuckte erneut mit den Schultern, ohne ihn ansehen zu können. »Weiß nicht, ist eben so.«
Xaith wollte weiter fragen, als Vaaks plötzlich den Kopf hob und ihn traurig ansah. »Ich muss dir was beichten.«
Verwundert blinzelte Xaith ihn an. »W…was?«, stotterte er alarmiert.
Vaaks schürzte die Lippen und starrte auf die Bank unter ihnen. »Ich habe kein Geschenk für dich.«
»Geschenk?«
»Ist doch dein Wiegenfest! Da wird man beschenkt.«
»Das haben wir noch nie getan.«
»Aber ich wollte es«, warf Vaaks ein und sah ihn mit einem ganz seltsamen Blick an. Seine warmen Augen glänzten irgendwie plötzlich, aber ohne Tränen. »Ich wollte dir was schenken, nur dir. Aber … ich habe nichts gefunden, was … was dir gefallen könnte.« Bedauernd sah er wieder in die Hecken hinein.
Xaith wusste nicht, was er sagen sollte, also wollte er ihn nur beruhigen: »Du musst mir doch nichts schenken.«
»Riath hat dir was geschenkt«, erinnerte Vaaks sich. »Heute Morgen.«
Xaith runzelte die Stirn, bis er sich an das Frühstück erinnerte. Er lachte und nickte fröhlich dabei. »Ja, einen Stein.« Er griff in seine Taschen und zeigte ihn stolz seinem Bruder. »Er sagte, wenn man ihn so dreht, sieht er fast aus wie ein Küken.«
Xaith drehte den Stein, bis die Form mit ganz viel kindlicher Fantasie so etwas wie ein Küken darstellen könnte, und zeigte es Vaaks. »Siehst du? Hier ist der runde Po. Und hier der Kopf, es fehlt nur der Schnabel. Die Füße sind eingezogen, als ob es schwimmt.«
Vaaks lächelte, legte den Kopf schief und sagte plötzlich: »Nein, es ist ein Herz.«
»Was?« Verwundert legte auch Xaith den Kopf schief.
»Siehst du?« Vaaks drehte den Stein, bis die zwei Rundungen von Kopf und Gesäß nach oben ragten. »Ein Herz.«
Tatsächlich, so betrachtet, sah es mehr wie ein Herz, denn ein Küken aus. Fasziniert strich Xaith darüber und lachte dann triumphal. »Ha! Und Riath hat´s nicht bemerkt! Riath ist sooo blind!«
Aber Vaaks freute sich gar nicht mit ihm darüber, dass sie klüger als Riath waren. Er starrte Xaith wieder mit seltsam glänzenden Augen an.
Xaith musste schmunzeln und senkte verlegen den Blick. »Ich mags, wenn du so schaust.«
»Wie schau ich denn?«
»Als ob du einen Braten siehst!«, lachte er auf.
Und Vaaks lachte ebenfalls.
Doch der Anflug befreiter Freude zog so schnell ab, wie er aufgekommen war, und wieder saßen sie still nebeneinander, während das Schweigen Xaith nervös machte.
»Du, Vaaks?«
»Ja?«
»Müssen wir wieder zurück?« Ängstlich sah er seinen großen Bruder an. »Ich glaub, ich will nicht wieder zurück.«
Vaaks schüttelte den Kopf und lächelte ihn an. »Nein, wenn du nicht willst, dann will ich auch nicht.«
Das brachte Xaith dazu, breit zu lächeln. Sehr breit. Sodass ihm die Mundwinkel schmerzten.
Vaaks wandte den Blick zu Boden und schürzte wieder die Lippen. »Xaith?«
»Hm?«
Schüchtern fragte er: »Hab ich wirklich ein Schweinsgesicht?«
Xaith gluckste und schüttelte den Kopf. »Nein! Natürlich nicht!« Dann schämte er sich sogleich und senkte den Blick. »Es tut mir leid, dass ich das gesagt habe. Ich wollte nur gemein sein.«