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Denise Remisberger
Mörder im eigenen Dezernat
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Inhaltsverzeichnis
Titel
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Impressum neobooks
Der Verstorbene Kaspar Senn sass gerade mitten in der Altstadt von St. Gallen, allerdings in einer ganz anderen Dimension. Er hörte die vorbeieilenden, miteinander redenden Leute nicht wirklich. Auch der Motorenlärm, der vom Oberen Graben her durch die Luft vibrierte, war ihm ziemlich fern. Dafür wurde er von den Gedanken der Menschen akustisch bombardiert, als befände er sich in einem 3-D-Actionfilm.
Kaspar war noch nicht lange tot. Vor etwa zwei Monaten wurde er erschossen, als er, gutgläubig, wie er war, freundlich auf seinen Arbeitskollegen Servus Blom zuging.
«Es war stockdunkel gewesen und Kaspar hat nichts gesagt. Ich dachte, er wäre ein Bösewicht, der mich umbringen will.»
Da Servus Blom ein Drogenfahnder der Kantonspolizei Zürich war, und das seit über zwanzig Jahren, wurde ihm geglaubt. Er verlor weder seine Arbeit, noch kam er ins Gefängnis. Er wurde einfach nach St. Gallen versetzt. Wie wenn ihn die dort gebrauchen könnten.
«Es war ein Unfall gewesen», wurde befunden und damit hatte es sich gehabt.
Nun aber, im Tod, konnte Kaspar Senn Gedanken lesen. Und die Gedanken des Servus Blom waren nicht nett gewesen, als er gestern über ihm schwebte.
«Ich habe dich gekillt, und niemand hat ’s bemerkt, du naive Nuss. Alle mochten dich. Mich mochte niemand. Ha, das hat dir auch nichts gebracht, deine Allseits-Beliebtheit. Jetzt habe ich dieses stechende Gefühl endlich nicht mehr. Weg ist es. Niemand mehr da, um mich im Neid leiden zu lassen.»
Kaspar Senn war schockiert gewesen, nachdem er dies vernommen hatte, und erholte sich nun im Ansturm von völlig alltäglichen Kopfstimmen, die vom Einkaufen, Kochen und vom Fernsehprogramm erzählten.
2
Auf der Erde, Zeitzone St. Gallen, war es genau 17.00 Uhr.
Birke sass zuhause an ihrem Schreibtisch und bannte die Botschaften des verstorbenen Grossvaters einer ihrer Klientinnen auf Papier. Die Klientin lebte in Zürich, schickte ihre medialen Fragen per Post an Birke und erhielt die Antworten schriftlich zurückgesandt.
3
Laura Peter, als Vorgesetzte von Servus Blom, hätte ihm gerne alles und jedes verboten, doch sie durfte nicht. Als Drogenfahnder im Dienst hatte er auch Rechte. Zum Beispiel das Recht, ein Arschloch zu sein. Laura Peter fand Servus Blom unglaublich unsympathisch. Jetzt stand sie, eine Zigarette rauchend, in ihrem olivfarbenen Trenchcoat und an den klammen Händen fingerlose schwarze Wollhandschuhe, ihr blondes Haar unter die Mütze gestopft, unter einer schummriges Licht verbreitenden Laterne wie einst Lili Marleen und dachte über das patriarchale System nach und was Macht so alles verursachen konnte.
Sie auf alle Fälle hatte zu wenig davon. Zu wenig davon, um richtig bestimmen zu können. Bestimmen tat hier nur der Stellvertretende Polizeichef Nulbert Kies, und der war erstens, ein gebürtiger Zürcher, zweitens, borniert bis zum Abwinken und drittens, magenumdrehend verlogen.
Nulbert Kies und Servus Blom verstanden sich bestens.
Laura Peter dachte darüber nach, wie das Treiben der beiden unterbunden werden konnte, bevor es zu spät war, doch sie wusste nicht, wie. Um eine interne Untersuchungskommission zusammenzustellen, war es viel zu früh. Es gab weder Tote noch Vergewaltigte. Und alle anderen Übertritte wie etwa Demütigen, Quälen, Schubsen, Bedrohen und Erschrecken galten als harmlos.
Aber das war alles überhaupt nicht harmlos. Die Psyche eines Menschen konnte auch zerstört werden, nicht nur der Körper. Vor allem, wenn jemand über lange Zeit auf dieser Ebene angegriffen wurde.
Laura Peter spürte, dass eine Katastrophe auf die Polizei zukommen würde und dass Servus Blom und Nulbert Kies die Schuldigen sein würden.
4
Birke traf sich mit Sandro zu einem ausgedehnten Spaziergang, startend beim Hauptbahnhof St. Gallen, wo Birke schon wartete, immer ein paar Schritte gehend, hin und her, um sich warm zu halten. Sandro kam aus Konstanz angereist und trug einen dünnen, mittelbraunen Ledermantel mit breitem Kragen, den er jetzt bis über die Ohren aufgestellt hatte, und einem schmalen Gürtel, der Sandro plus Mantel zusammenhielt. Seine Schultern waren hochgezogen vor Kälte, die Hände tief in den Manteltaschen vergraben, die Zähne aufeinander klappernd und die Nase halb in den Kragen gesteckt. Das Einzige, das nicht fror, schien sein blondbrauner Schopf zu sein.
«Hier ist es saukalt», sagte er zur Begrüssung.
«Du meinst, der eine Hauch Unterschied zu Konstanz macht ’s aus?»
«Ja», kam es felsenfest, doch leicht gedämpft aus den Untiefen des Kragens hervor.
Birke, ihren wollenen Nierengurt schön anliegend unter dem dick gefüllten violetten Daunenmantel, lachte schallend.
«Ich weiss, ich sehe aus wie ein schillernder Käfer, aber dafür ist es mir wohlig warm. Wollen wir losmarschieren, damit du hier nicht festfrierst?»
Wenigstens hatte sich Sandro dazu überwunden, robuste winterfeste Stiefel anzuziehen, anstatt seiner üblichen spitz zulaufenden, lederbesohlten Indie-Country-Stiefeletten.
Sie durchquerten das Klosterviertel, ein Teil der St. Galler Altstadt, erklommen haufenweise steilste Holztreppen und erreichten die Drei Weiher, eingebettet in den Nordhang-Hügel der Stadt und darum auch schon hauptsächlich zugefroren.
Über einem der drei Weiher schwebend, entspannte sich Kaspar Senn endlich von seinem abrupten, heimtückisch inszenierten Ableben und fasste langsam, aber sicher den Entschluss, die Art und Weise seiner Ermordung ans Licht zu bringen. Alles, was er konnte, war, die Gedanken der Menschen etwas zu beeinflussen. Nur hörten die Lebendigen selten auf die Verstorbenen. Sie ignorierten die richtigen Eingebungen und taten das Falsche. Erst im äussersten Notfall hörten sie mal zu, aber auch nur, wenn sie nicht schon zu verbittert waren von all den Schicksalsschlägen, die sie frühzeitig hätten abwenden können, hätten sie nur auf die Eingebung gehört, die immer zuallererst im inneren Ohr ertönt. Jeweils nur ganz kurz, aber deutlich.
Also brauchte Kaspar ein Medium.
Darum befand er sich jetzt hier über diesem Weiher, denn hier würde gleich eines aufkreuzen.
Als er seine Seele auf die beiden richtete, die nun daherkamen, entstand ein leuchtend violetter Energiestrom zwischen ihm und der einen der beiden Spazierenden.
«Da schwebt ein Geist über einem der Weiher», sagte Birke zu Sandro.
«Ach, darum fühle ich mich so high. Ich dachte schon, ich hätte zu wenig gegessen.»
«Du bist eben ein sensibler Mann.»
«Und das ist etwas Positives?»
«Oh, ganz bestimmt. Vor allem für uns Frauen.»
«Ich heisse Kaspar Senn.»
Birke richtete ihr inneres Auge auf den Geist und sah den Ablauf seiner Ermordung in ihrem ganzen Zusammenhang in Form eines Bildes, das weitere Bilder in sich barg. Ihr wurde ein bisschen übel.
«Ich heisse Birke.»
«Ich brauche deine Hilfe, Birke, um meine Ermordung in ihrer Wahrheit kundzutun.»
«Das ist eine Riesenaufgabe, mein Lieber.»
«Ich weiss. Aber die Wahrheit ist das Wichtigste.»
«Ja, die Wahrheit ist immer das Wichtigste. Ich helfe dir.»
5
Der Elektriker ist ziemlich gut aussehend, dachte Laura Peter, als die Firma, die sie angerufen hatte wegen ihrer Lampen, die alle an die Decke sollten, jemanden bei ihr zuhause vorbeischickte. Gross, schwarze kurze Haare und warme dunkle Augen.
Laura reichte ihm den schweren Kronleuchter, der ins Esszimmer über den Tisch gehängt werden sollte, und schaute dem schönen Elektriker zu, wie er die Leiter erklomm und das Ungetüm an den bunten Kabeln, die aus der Decke hervorquollen, anschloss.
In seiner Arbeitshose steckten mehr Schraubenzieher, als Laura je auf einmal gesehen hatte. Sonst war er eher wortkarg und schaute sie selten an. Sie schlich trotzdem immer hinter ihm her, auch auf die Gefahr hin, ihn zu belästigen. Schliesslich musste sie ihm zeigen, welcher Lüster in welches Zimmer kam.
«Diese beiden hier würde ich auch gerne neu verkabeln lassen», sagte Laura in die Stille hinein und deutete auf ihre beiden Jugendstillampen, die provisorisch an der Wand befestigt waren. Die Kabel daran sahen aus wie vom Wetter zerzaust und waren ausserdem zu kurz für die nächste Steckdose, sodass Laura wegen zehn Zentimeter fehlenden Kabels extra ein ellenlanges Verlängerungskabel in die Ästhetik ihres Schlafzimmers hätte bugsieren müssen.
«Die müsste ich mitnehmen und im Geschäft neu verkabeln, die sind zu speziell, und das nötige Material muss auch zuerst bestellt werden. Will heissen, ich muss wiederkommen.»
Da er ihr den Rücken zudrehte, sah sie nicht, dass er lächelte. Seine Stimme war kontrolliert und verriet nichts.
«Ja, natürlich, ist in Ordnung.»
Auch Laura konnte ausgeglichen tönen, obwohl sie sich darüber freute, dass es noch nicht vorbei war.
«Wie heissen Sie eigentlich?», wollte Laura wissen, als er eine Stunde später am Gehen war.
«Trevor. Also, ich meine natürlich, Engelmann.»
«Trevor Engelmann. Also, Trevor Engelmann, bis bald.»
«Bis auf bald, ja.» Er lächelte schon wieder, doch diesmal sah sie es.
6
Birke drückte sich schlotternd in eine Hausecke gegenüber dem Gebäude der Kantonspolizei, das, passend, im Klosterareal der Altstadt zu finden war. Hier lebten sie auch nach strengen Regeln, die nicht ihre eigenen waren. Fremdbestimmt, sozusagen.
Kaspar schwebte in ihrer Nähe, um auf seinen Mörder zu zeigen, sobald dieser endlich aus den Büroräumen herauskommen würde.
«Da, das ist er. Dieser kugelförmige Zwerg dort mit der Hornbrille.»
Heraus stampfte ein kleiner dicker Mann mit einer strähnigen Frisur auf einem halbkahlen Kopf, eingebettet in zwei heraufgezogene Schultern, mit einem nervösen, ständig das Territorium absuchenden Blick im aufgedunsenen Gesicht.
«Du meine Güte!», rief Birke aus. «Und dem hast du vertraut?»
«Ja, ich bin halt so. Ich weiss.»
«Servus», rief jemand hinter dem Mörder-Fahnder her und wedelte mit einem Blatt Papier in der Luft herum.
Der Rufer war eigentlich ein angenehmer Anblick: gerader Rücken, muskulös, aber nicht zu viel, eine grauweisse Lockenmähne, die ein interessantes Gesicht umwehte, eine grosse Nase, dichte Augenbrauen und gut sichtbare Wangenknochen. Mund und Augen aber hatten nichts Angenehmes: der Mund war ein dünner verkrampfter Strich, die Augen klein und der Ausdruck darin ein bisschen panisch. Immer voll der Angst, etwas einzubüssen, etwas, das er gar nie verdient hatte und darum auch nicht wirklich besass: die natürliche Autorität in einer Kaderposition.
«Und der dort ist der Stellvertretende Polizeichef Nulbert Kies. Die beiden haben sich verbündet.»
«Bei denen in der Aura haben sich ein paar kraterartige Risse gebildet», sandte Birke ihre Beobachtung in Gedanken an Kaspar.
«Wenn ’s nur das wäre. Sie hecken etwas Konkretes aus, etwas Destruktives. Und es hat mit Beförderung zu tun. Ungerechtfertigter Beförderung, versteht sich.»
Kaspar konzentrierte sich auf die Gedankengänge des Stellvertretenden Polizeichefs.
«Nulbert Kies will Polizeichef werden und will dafür Servus Blom benutzen. Er hat ihm gerade versprochen, ihn zu seinem Stellvertreter zu machen, wenn es dann so weit sein wird. Und dann wollen die beiden hier aufräumen. Nicht nur bei der Kantonspolizei, sondern sie fantasieren auch darüber, gleich die ganze Stadt umzukrempeln. Ich sehe sie schon die Grabenhalle schliessen wegen zu rockiger Musik.»
«So weit dürfen wir es wirklich nicht kommen lassen, Kaspar.»
«Wir müssen den Polizeichef beschützen; auf den haben sie es zuerst und vor allem abgesehen.»
7
Auf dem Nachhauseweg nach ihrem Dienst radelte Laura Peter übers Kopfsteinpflaster, denn auf den St. Galler Strassen wurden sämtliche Fahrräder ignoriert. Irgendwie war es noch nicht ins allgemeine Autofahrerbewusstsein gedrungen, dass es sie überhaupt gab.
Als Laura vor einem Monat, herkommend vom Bohl, am Café Seeger vorbei zum Bahnhof wollte, also geradeaus in einer Spur, in der auch rechts abgebogen werden durfte, wurde sie übersehen und musste händefuchtelnd ihren Weg erkämpfen, während die Ampel bereits auf Gelb umgeschaltet hatte. In anderen Städten befanden sich rechts auf der jeweiligen Spur die Velowege. Hier gab es sie nur stückweise. Durchgehend waren sie ausschliesslich in der Fussgängerzone auf den Pflastersteinen markiert, sodass die Einkaufstaschen der Lädelnden in den Speichen der Velos ihren Widerstand fanden.
Aber um diese Zeit, drei Uhr morgens, hallte das metallene Geräusch von Lauras Fahrgestell die Wände der Altstadt hoch vor lauter Leere.
Als sie um eine Ecke bog, fuhr sie beinahe über ein Paar Beine, das zu jemandem gehörte, der auf dem Boden, an eine Hauswand gelehnt, hockte. Das Kinn des Mannes war auf seine Brust gesunken.
Laura riss einen Stopp, kniete sich neben den Mann und hob seinen Kopf an.
«Gregor», schrie sie entsetzt auf, als sie Polizeichef Gregor Bohlbrühl identifizierte.
Der gab keinen Ton von sich.
Laura rief einen Krankenwagen auf ihrem privaten Handy und wartete, bis er endlich kam, um dann hinter ihm her Richtung Kantonsspital zu radeln.
Weit war es nicht, und bis sie dort ankam, hatten sie Gregor noch nicht mal auf die Intensivstation gelegt.
«Sind Sie eine Verwandte?», quäkte ein Pfleger mit der Kaffeetasse in der Hand und einem gelben Wolljäckchen um die Schultern.
«Geh’n Sie schlafen», rief ihm die hinter der Bahre hereilende Laura zu.
Laura verkrümelte sich in eine Ecke des freudlosen Raumes, in dem der inzwischen leise stöhnende Gregor untersucht wurde.
«Er hat eine Stichverletzung, junge Frau», kommentierte der Arzt, indem er sich kurz zu ihr umdrehte. «Allerdings geht sie nicht sehr tief. So wie der Mantel und der gefütterte Nierengurt des Opfers zerschnitten sind, hat sich der Herr hier noch rechtzeitig abgedreht, sodass das Messer, wahrscheinlich ein dünnes Stilett, abgerutscht ist. Nicht, dass er kein Blut verloren hätte, aber das Ärgste war der Schock, der ihn ohnmächtig werden liess, sodass er weder die Blutung stillen noch aus dieser Kälte in den nächsten Hauseingang kriechen und die Ambulanz hätte verständigen können. Sein Blutkreislauf scheint auch im Normalzustand schwach zu sein. Hätten Sie ihn nicht jetzt gefunden, Frau Peter, wäre er erfroren, noch bevor ihn all sein Blut hätte verlassen können.»
8
Als Gregor Bohlbrühl erwachte, war alles ungewohnt weiss. Weisses Bettzeug und weisse Wände ohne Bilder oder kostbare Schränke von vor ein paar Jahrhunderten, die den weissen Verputz auf angenehme Weise unterbrochen hätten. Und metallfarben. Bettgestell, Tischchen, beides metallen. Hier sah es aus wie in einem Spital. Also musste er sich wohl auch in solch einem befinden.
Gregor Bohlbrühl versuchte, sich zu erinnern. Doch es kam ihm nichts in den Sinn. Ausser, dass er die Polizeiwache morgens um kurz vor drei Uhr verlassen hatte, um in seine Altstadtwohnung im obersten Stock zu laufen.
Gregor Bohlbrühls Herkunft war nicht dieselbe wie die seiner Arbeitskolleginnen und -kollegen. Seine Mutter, Frau Professorin, und sein Vater, der ein Vermögen verdient hatte mit Public Relations, hatten seine Wahl, zur Polizei zu gehen, für ziemlich blöde gehalten.
Er drückte einmal auf die Klingel über seinem Bett und wartete.
«Was ist passiert?», fragte er die hereinkommende Schwester mit brüchiger Stimme.
«Einen Moment bitte, ich hole den Doktor.» Und schon war sie wieder weg.
Nach etwa einer Viertelstunde stand ein Mann neben seinem Bett, der einen weissen Kittel trug, mit schwarzen Haaren und einer schwarzen Hornbrille, und der sein Sohn hätte sein können.
«Was ist passiert?», wiederholte Gregor Bohlbrühl mit böser Vorahnung.
«Sie sind überfallen worden. Jemand hat versucht, Sie zu erstechen. Der Mordversuch ist aber misslungen.»
«Nicht so schnell, junger Mann», lächelte Gregor, «da müssen erst Beweise her.»
«Na hören Sie mal. Sie verbluten fast und erfrieren beinahe und liegen jetzt hier in diesem Zimmer und wollen noch mehr Beweise? Hätte Sie Frau Peter nicht sofort gefunden, wären Sie jetzt schon tot.»
«Frau Peter? Laura hat mich gerettet? Oh. Wo ist sie denn?»
«Soviel ich mitbekommen habe, ist sie heute Morgen um acht Uhr mit angsterregendem, äusserst grimmig entschlossenem Gesicht aus diesem Zimmer hinausmarschiert, um diesen Fall hier zu lösen, obwohl sie gar nicht im zuständigen Dezernat arbeitet.»
«Oh. Und ich kann mich an keinen Überfall erinnern.»
«Das ist nur psychisch. Ihr Kopf ist unverletzt.»
«Mein junger Herr Doktor, der Körper in allen Ehren. Aber mein Lebensalter hat mich gelehrt, dass die Psyche den Menschen ausmacht. Wenn die Schaden nimmt, kann das ganze Leben aus sein. Wenn die Psyche angegriffen ist, geht der ganze Mensch zu Grunde. Vielleicht langsamer, aber völlig unentdeckt. Und dann wirkt sich ein psychisches Problem auch noch psychosomatisch aus. Und die Überwindung, diesen Sog in die Tiefe zu stoppen, ist wohl das Allerschwierigste auf der Welt.»
9
Trevor Engelmann wusste beim besten Willen nicht, wie er Frau Peter anbaggern sollte, ohne Gefahr zu laufen, seinen Job zu verlieren, denn schliesslich war Frau Peter eine Kundin. Als er nun in ihrer Türe stand, mit den neu verkabelten antiken Lampen in einer offenen Kiste, sagte er kein Wort, sondern schaute Frau Peter nur an.
Laura Peter fühlte sich gleich wunderbar, denn Trevor Engelmann schenkte ihr einen nie mehr aufhören wollenden Blick, der irgendetwas mit seinem Herzen zu tun haben musste.
«Kommen Sie doch herein, Herr Engelmann.»
Laura zeigte ihre Freude über das Wiedersehen deutlicher, als ihr lieb war, und führte ihn ins Schlafzimmer, wo die Lampen halt hinmussten.
Beide vermieden es kategorisch, zum Bett hinüberzuschauen, und fanden es schwierig, die richtigen Worte zu finden, um ein Gespräch zu beginnen. Die Situation wurde richtig peinlich, doch ging Laura weder in ein anderes Zimmer, noch beeilte sich Trevor Engelmann mit dem Zusammenschrauben der Lampen. Ganz im Gegenteil: Das Ganze dauerte volle zwei Stunden, was Trevor Engelmann später seinem Chef so gar nicht erklären konnte.
10
Nachdem Polizeichef Gregor Bohlbrühl eine Stunde bei sich zuhause in seinem geliebten Schaukelstuhl gesessen hatte und den vertrauten Anblick aus seinem einen Wohnzimmerfenster auf sich wirken gelassen hatte, konnte er sich langsam entspannen und sich auch zuhause fühlen.
Er griff in sein holzgeschraubtes Schränkchen, das praktischerweise neben dem Schaukelstuhl auf einer kurzen Bank platziert war, und holte seine Appenzeller Krummpfeife, einen Topf, gefüllt mit erlesenem Tabak, und ein Stopfinstrument daraus hervor, um endlich wieder zu rauchen. Inzwischen erinnerte er sich zwar wieder an den Überfall, doch eigentlich hatte er gar nichts mitbekommen. Fast zeitgleich hatte er jemanden hinter sich und einen scharfen Stich, der sich in eine Rissspur verwandelt hatte, da er sich instinktiv abgedreht hatte, gespürt und eine vermummte Gestalt mit etwas Funkelndem in der Faust wahrgenommen, die weggerannt war.
Die Tatwaffe auf alle Fälle war nicht liegen gelassen worden.
11
Pierre Slagovic, halb Franzose, halb Kroate, eingebürgert in der Schweiz seit seiner Volljährigkeit, besass, trotzdem, dass er bei der Polizei arbeitete oder gerade deswegen, eine blühende Fantasie. Dieser Umstand würde ihm nicht gerade zu einer grossartigen Beförderung verhelfen, doch durfte er sein kreatives Potential wenigstens ausleben im Dienst.
Pierre Slagovic wurde dazu abberufen, E-Mails an verdächtige Personen zu senden, aber nicht etwa unter der Adresse der Kantonspolizei St. Gallen, sondern unter diversen gefälschten Namen, die ihm zugeteilt wurden. Diese Falschadressen fand er zwar ein bisschen einfallslos, so wie zum Beispiel die auf abc@def.com lautende, aber das lag gewiss an seinem hohen Kreativitätsniveau. Unser Slagovic war festgelegt verantwortlich für die jeweilige Betreffzeile der Spam-Mails und für den darunter folgenden Text, der wahrscheinlich eher selten von den Angemailten gelesen wurde. Das Hinzufügen zur «Liste der blockierten Absender» wurde viel häufiger benutzt.
«Pierre, wir haben im Schlafzimmerfenster einer Verdächtigen ein rotes Licht brennen sehen. Sie ist korrekt bei Bluewin angemeldet. Wir haben den Datenschutz geknackt. Hier ist ihre E-Mail-Adresse. Könntest du ein paar pornografische Mails an die Frau schicken? Wir wollen testen, ob sie darauf eingeht», befahl Nulbert Kies in forschem Tonfall, so wie wenn es sich um eine ganz trockene Angelegenheit handeln würde.
«Wegen was verdächtigen wir sie?», wollte Pierre Slagovic, seine Grenzen als Befehlsempfänger überschreitend, wissen.
«Sie könnte Drogen nehmen und sich prostituieren, um ihren Konsum auch bezahlen zu können.»
«Welche Drogen?»
«Woher soll ich denn das wissen! Drogen halt. Ist doch egal, welche. Das rote Licht ist auf alle Fälle komisch. Sonderbar, dieses Licht.»
Da Nulbert Kies langsam seine Contenance verlor, ging er lieber aus dem Raum und überliess Slagovic seinen fingierten Fantasien.
12
Eingetrocknetes Rot schmückte Hauswand und Kopfsteinpflaster dort, wo Polizeichef Gregor Bohlbrühl zusammengeklappt war. Laura Peter starrte auf die Flecken, regungslos in der Hocke, und erregte das Aufsehen der Vorbeieilenden.
«Sucht die ihre Nadel?», war eine der netten Bemerkungen, die an ihr Ohr drangen.
«Sind das die Reste ihres Ehemannes?», witzelte eine Frauenstimme.
Die Leute äusserten sich gerne dann laut, wenn es nicht um sie selber ging und doch irgendwie mit ihnen zu tun hatte. Laura konnte der subjektive Unsinn gestohlen bleiben. Sie suchte nach Spuren. Möglichst objektiven.
Doch obwohl sie die ganze Gasse samt Nebengässchen nach Verwertbarem absuchte, fand sie nichts. Nichts Verräterisches war hinterlassen worden. Allerdings konnte sie gerade aus diesem Grund Täterprofile ausschliessen. Kein Junkie, der in Hysterie nach Geld schreit. Überhaupt kein Raub, denn Gregor Bohlbrühl besass sein Portemonnaie samt Inhalt immer noch.