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Er hieß Fred Gaisberg und kam als 21-Jähriger von der Columbia Phonograph. Die Firma war von einem ehemaligen Gerichts- und Kongress-Stenographen gegründet worden. Das sagte viel darüber aus, worum es ihr bei der neuen Aufnahmetechnik eigentlich ging. Gaisberg versuchte sich als Pianist auf ersten, eher lustlos wirkenden Musikaufnahmen, stieß aber bei Columbia Phonograph auf wenig Interesse. So zog er es vor, fasziniert von den neuen Möglichkeiten des Grammophons, bei Emil Berliner erst einmal die Tontechnik zu erlernen. Der junge Musiker erlangte schnell dessen Vertrauen und wurde 1898 nach London geschickt, wo er die Grammophone Company Ltd. anmeldete und das erste Tonstudio aufbaute. Die räumliche Trennung hatte einen guten Grund. Berliner wusste, dass er auf dem europäischen Kontinent nicht auf Dauer ausschließlich mit amerikanischem Repertoire reüssieren konnte. Gaisberg hatte ihn sogar davon überzeugt, dass sie Aufnahmen von authentischen Künstlern aus allen Ländern bräuchten, in denen sie seine Erfindung auf den Markt bringen wollten. Musik, die von einer Scheibe wie der Schallplatte kam, war schon abstrakt genug – wenigstens die Interpreten und ihre Lieder sollten den ersten Konsumenten Vertrautes vermitteln. So zog Gaisberg von London aus quer über den europäischen Kontinent, durch Russland, Indien bis in den Fernen Osten. Er nahm Heurigenlieder in Wien, Fandangos in Madrid, Chansons in Paris, Tablas in Hyderabad, Pipamusik in Shanghai und Opernarien in Berlin und Leipzig auf.
Immer nach Talent und Repertoire suchend, kam er 1902 selbstverständlich auch in die legendäre Mailänder Scala. Dort war ein junger, bislang wenig bekannter Tenor namens Caruso in einer Inszenierung der Oper Germania zu sehen. Fred Gaisberg war hingerissen, eine solche Stimme war selbst ihm noch nicht untergekommen. Er bot dem jungen Mann nach seinem Auftritt hinter der Bühne enthusiastisch gleich mehrere Schallplattenaufnahmen an. Doch Enrico Caruso war ein selbstbewusster Künstler und schätzte, obwohl er erst am Anfang der Karriere stand, seinen Wert durchaus richtig ein. 100 englische Pfund für zehn kurze Arien forderte er. Eine unglaubliche Summe für die damalige Zeit und für ein Format, das sich noch in der Markteinführung befand. Gaisberg versuchte, sich im Mutterhaus rückzuversichern, bekam aber eine deutliche Abfuhr gekabelt. Wie viel Apparate man wohl mehr verkaufen würde, wenn dieser Caruso und nicht irgendein anderer italienischer Viehhirte oder Fischer in den Aufnahmetrichter singen würde ...
Fred Gaisberg war zu stolz und zu überzeugt, um sich auf diese Diskussion einzulassen. Kurz entschlossen bezahlte er Caruso aus eigener Tasche. In nur zwei Stunden sang dieser ihm alles ein. Besonders die Arie E lucevan le stelle aus Puccinis Tosca sorgte für Furore, und das nicht nur in Italien. Der Intendant der Metropolitan Opera in New York bekam eine Aufnahme in die Hand und engagierte Enrico Caruso vom Fleck weg. Die erste musikalische Weltkarriere begann und mit ihr setzte die Schallplatte zum Quantensprung an. Sie emanzipierte sich vom Abspielgerät, wurde plötzlich in den Zeitungen und den besseren Kreisen als Kulturträger entdeckt und geachtet. Zu verdanken hat sie das dem unbeirrbaren Glauben einer einzelnen Persönlichkeit, seinem Glauben an Regionalität und Qualität.
Joseph und Jacob Berliner, die für ihren Bruder die Platten in einem Kuhstall neben ihrer Telefonfabrik pressten, wussten gar nicht, wie ihnen geschah. Nach Caruso boomte der Markt. Ein neues Presswerk musste her, um den Bedarf an den aus England von Fred Gaisberg angelieferten Aufnahmen zu decken. 1907 wurden in Hannover bereits 36.000 Exemplare am Tag gepresst. Auch in Amerika zog mit etwas Verspätung der Markt an, aber dafür dann umso kräftiger. Die junge Schallplattenindustrie wurde in den frühen zwanziger Jahren der größte Player im amerikanischen Entertainment-Business. 1921 wurden bereits für 106 Millionen US-Dollar Tonträger umgesetzt. Der scheinbar so mächtige Film kam im Vergleich auf nur 93 Millionen.
Die Freude währte nicht lange. Ohne dass es die im Expansionstaumel befindliche Industrie gemerkt hätte, wurde in Amerika eine Technik entwickelt, die es dem Konsumenten ermöglichte, Musik zu konsumieren, ohne dafür zu bezahlen. Das Teufelsding hieß Radio. Es war, wie später das Internet, ursprünglich für militärische Zwecke entwickelt worden, und ab 1922 mit zwei großen Netzwerken, der Radio Corporation of America (RCA) und dem Columbia Broadcasting System (CBS) plötzlich in jedem Haushalt zu empfangen. CBS wurde von einem Künstlermanager und Konzertveranstalter, einem verkrachten, ehemaligen Violinisten namens Sarnoff Judson gegründet, weil er Angst hatte, dass durch Radiokonzerte das Livegeschäft leiden würde. Das tat es nicht, dafür aber umso mehr die Schallplattenindustrie, die nicht so entschlossen wie Judson handelte. Durch die Weltwirtschaftskrise geriet sie weiter unter Druck und ging in den frühen dreißiger Jahren in die Knie: Nur noch 6 Millionen US-Dollar – 5,7 Prozent von der Herrlichkeit zwölf Jahre zuvor – betrug der Umsatz mit Tonträgern in den USA im Jahr 1933.
Die Radiokonzerne RCA und Erzrivale CBS schluckten ab 1934 fast vollständig den traurigen Rest. Einerseits geschah das als strategisches Investment, andererseits weil die Schallplattenfirmen gerade so günstig zu haben waren. Irgendwoher mussten schließlich auch die Aufnahmen von den Künstlern kommen, die man senden wollte.
Lange blieb das Radio-Oligopol nicht allein. Mitten in die Krise hinein, der Logik des antizyklischen Handelns folgend, wurde in England die Firma Decca gegründet. Für ihren amerikanischen Ableger warb man A&R Jack Kapp ab, der es leid war, als geduldeter Subventionsempfänger der CBS seine Arbeit zu verrichten. Er holte nicht nur Künstler wie Guy Lombardo, Louis Armstrong und Bing Crosby peu à peu von seinem früheren Label Brunswick zu Decca hinüber, sondern entwickelte mit seinem englischen Chef Sir Ted Lewis eine Idee, die das Ende der Krise bringen sollte. Zur großen Verblüffung von RCA und CBS bot der kleine, neue Konkurrent seine Platten für nur 35, statt der üblichen 75 Cent an. Die radikale Politik, den Preis um mehr als die Hälfte abzusenken, bescherte Decca einen so gigantischen Erfolg, dass die beiden Riesen nachziehen mussten. Der Konsument belohnte das Entertainment-Angebot, das er sich wieder leisten konnte. Kurz vor dem Krieg hatte sich der amerikanische Markt mit 44 Millionen US-Dollar Umsatz mehr als versiebenfacht. Bis 1947 wuchsen die Umsätze in den USA auf 224 Millionen US-Dollar. Der Markt diversifizierte – neben RCA, CBS und Decca entstanden Capitol (spezialisiert auf Country und Rhythm & Blues), MGM (als Ableger der Filmgesellschaft Metro-Goldwyn-Mayer) und Mercury (als Tochterfirma eines Kunststoffherstellers, der sein Presswerk auslasten wollte) sowie viele kleine spezialisierte Labels. Der Musikmarkt stand stabil neben Film, Radio und dem noch neuen Medium Fernsehen. Während das Entertainment-Geschäft im Nachkriegseuropa zum Erliegen kam, entstand unter dem Dach der CBS die nächste technische Revolution: Schallplatten hatten damals alle einen Durchmesser von 30 Zentimetern, aber eine maximale Spielzeit von nur fünf Minuten pro Seite. Zudem war Schellack, das Material, aus dem sie bestanden, schwer und zerbrechlich. Besonders genervt zeigte sich davon ein gewisser Dr. Peter Goldmark. Der in die USA ausgewanderte Österreicher war ein glühender Klassikfan und sah nicht ein, weshalb er für eine vollständige Symphonie durchschnittlich 32-mal aufstehen sollte, um die Seite zu wechseln oder die nächste Platte aufzulegen. Er brauchte ein Material, das eine engere Rillenführung erlaubte und fand es 1948 im Kunststoff Vinylite. Als Chef der CBS-eigenen Labors entwickelte er einen Spezialmotor für geringere Abspielgeschwindigkeit, baute einen neuen Tonarm, optimierte die Nadel als Abnehmer und erfand gleich noch das Kondensatormikrophon, um die klangliche Qualität seiner neuen Vinylplatte auch ausreizen zu können. Quasi im Alleingang begründete Dr. Goldmark die High Fidelity. 45 Minuten Spieldauer pro Schallplatte und ein Frequenzumfang von 30 Hz bis 15.000 Hz boten dem Konsumenten ein völlig neues Klangerlebnis und bescherten der Schallplattenindustrie ihren zweiten Boom. Die Langspielplatte war geboren und mit ihr das für die Anbieter von Musikaufnahmen wunderbare Prinzip, dem Kunden zehn, zwölf Songs eines Interpreten verkaufen zu können, obwohl dieser vielleicht nur drei oder vier bestimmte Lieder haben wollte.
Die neue Technik machte das Geschäft mit der Musik auch für die Hardwarehersteller wieder attraktiv. Siemens hatte bereits während des Krieges die Deutsche Grammophon in Hannover erworben, Philips stieg 1950 mit der Phonogram ein, kaufte amerikanische Labels wie die Mercury hinzu und fusionierte dieses Bouquet zusammen mit der Siemens-Tochter Deutsche Grammophon und deren Pop-Label Polydor 1972 zur PolyGram, der größten Plattenfirma der Welt. Das war zuvor lange Zeit die Electric and Musical Industries Ltd., kurz EMI, gewesen, eine Vereinigung aus dem englischen, von Fred Gaisberg kontrollierten Arm der Grammophone und der Columbia Phonograph, seinem früheren Arbeitgeber. EMI verstand sich, wie ihr Name schon sagte, ursprünglich als Mischunternehmen, verkaufte aber 1954 zur Konsolidierung die Grammophon- und Radioproduktion an den Konsumartikel- und Waffenfabrikanten Thorn, der 25 Jahre später auch die restliche EMI erwarb. Die Decca, das Wunderkind der Rezession, fand bei Telefunken unter dem verkoppelten Namen Teldec eine neue Heimat.
Bei CBS dachte man vertikaler. Neben Fernsehen, Radio und Schallplatten gab es auch einen Musikinstrumente-Sektor (die Firma fertigte zum Beispiel die legendären Fender Gitarren und Steinway Flügel), HiFi-Geräte und eine eigene Handelskette. Mitte der sechziger Jahre war es kaum möglich, in den USA mehr als ein paar Dollar für Musik auszugeben, ohne dass CBS davon profitiert hätte. Damals machten die Schallplatten noch 15 Prozent des Konzernumsatzes aus, 1972 war es dann schon die Hälfte. Dieser maßgebliche Anteil relativierte sich wieder, nachdem CBS für 2 Milliarden US-Dollar von Sony geschluckt worden war. Sony war zuvor im Videobereich mit dem Beta-System und im Audio-Segment mit der DAT-Kassette am fehlenden Einfluss auf die Inhalte gescheitert – trotz überlegener Technik, aber eben ohne Mehrheit an einem Content-Unternehmen. Diese frustrierenden Erfahrungen sollten durch den Kauf von CBS in Zukunft ausgeschlossen werden.
Vertikale Integration scheint für die Musikindustrie eigentlich immer nur zu bedeuten, dass sie sich integrieren lässt, sobald eine technische Innovation durchzusetzen ist. Auch in Zeiten gewaltiger Umsätze und Renditen, ob in den zwanziger, sechziger, siebziger oder neunziger Jahren, unternahm sie selbst nie einen ernsthaften Anlauf, den Spieß umzudrehen, die Geräte und Kanäle offensiv an sich zu binden und somit Entwicklungen selbst moderieren zu können. Es scheint, als würde sich die Innovationskraft der Musikfirmen in der Konzentration auf den Inhalt erschöpfen. Als gesellschaftlicher Treiber agieren die Künstler und ihre Inhalte. Als Firmen werden sie weiterhin getrieben – von technologischen Neuerungen.
Aber selbst dort, wo das integrierte Denken leichter fällt, weil es auch um Inhalte geht, sind es meist Dritte, die agieren. Die Warner nimmt als Filmgesellschaft über ihren Musikarm ab 1958 zunächst die Nebenrechte selbst wahr und wächst dann mit dem Kauf von Atlantic und Elektra zur weltumspannenden WEA. Bei Bertelsmann erweitert man das Buchclubangebot 1956 konsequent um die Schallplatte, da diese – Vinyl sei Dank – nun endlich ohne Schäden versandt werden kann. Erst gründet man 1958 die Ariola, dann wird zwecks Internationalisierung erst Arista (1979) und schließlich die große RCA (1985) gekauft.
Das Paradies – beschützt von Ahmed und Nesuhi Ertegun
1986, als ich bei der Philips-Tochter PolyGram begann, war keine große Schallplattenfirma wirklich noch ihr eigener Herr. Aber dafür befand sie sich auch nicht direkt im Schussfeld von Anlegern oder Besitzern. Ihre Produkte stützten jeweils eine übergeordnete Firmenstrategie und leisteten insofern auch jenseits der direkt erwirtschafteten Rendite einen Beitrag.
Besorgniserregend war hingegen die zunehmende Konzentration. Mit nur fünf wirklich marktbestimmenden Anbietern (Teldec geht wenig später in der Warner Music auf) sind nach all den Fusionen und Aufkäufen über die Jahre ziemlich gewaltige, internationale Gebilde entstanden. Mit Tochterunternehmen in allen wichtigen Territorien, Tausenden Mitarbeitern, mit zig Unter-Labels und zahllosen Künstlerverträgen haben die Bertelsmann Music Group, EMI, Sony, PolyGram (später die Universal) und Warner Apparate geschaffen, die als Folge ihrer schieren Masse Kreativität eher zu erdrücken drohen als sie zu fördern. Nur starke Persönlichkeiten, die diesen Systemen Identität und Halt geben, können das abfedern und so strukturieren, dass weder Künstler noch Mitarbeiter Schaden nehmen. Zu ihnen zählen klassische Musikunternehmensführer wie Ahmed Ertegun, der Atlantic-Gründer, Clive Davis, der als CBS-Präsident, später als Arista-Chef zum Prototyp des Talent-Scouts und -Förderers wurde, und Siggi Loch, der Warner Deutschland aufgebaut hat.
Als Ahmed Ertegun 1947 vom New Yorker Ritz aus aufbrach, um die Welt der schwarzen Musik, der so genannten »race music« zu erkunden, war das ein ungeheuerliches Unterfangen. Seine Künstler hätten im Bus für ihn aufstehen und ihren Sitzplatz freigeben müssen, sonst wären sie festgenommen worden – so wie Rosa Parks acht Jahre später in Montgomery. Rassentrennung war seit dem Spruch »separate but equal« des Obersten Gerichtshofs von 1894 in den USA Gesetz, Martin Luther King zu diesem Zeitpunkt noch ein einfacher Priester und der friedliche Widerstand gegen die amerikanische Form der Apartheid begann gerade erst, als Idee in den Köpfen einiger weniger zu entstehen.
Der junge, verwöhnte Sohn des türkischen Botschafters ließ das beste Hotel der Stadt hinter sich und überschritt nördlich der 125sten Straße die Grenze zu einer für das weiße Amerika unbekannten Welt. Doch in Harlem gab es die aufregendsten Jazzclubs, hier feierte man den Rhythm & Blues (R&B). Hier hörte Ahmed Ertegun so viel heiße Musik wie nie zuvor. Er kam immer wieder und fasste den Entschluss, den Rest Amerikas nach Harlem mitzunehmen. Er wollte aufnehmen, was er hörte, es auf Platten pressen und der weißen Mittelschicht verkaufen. Harlem wäre dann plötzlich in jedermanns Wohnzimmer.
Ertegun war viersprachig aufgewachsen, hatte sich auf Privatschulen in der Schweiz, in Paris, London und Washington den letzten Schliff geholt, hatte Kierkegaard gelesen und die besten Weine getrunken – und er liebte den Jazz, seit ihn sein Bruder Nesuhi 1932 in ein Konzert von Duke Ellington und Cab Calloway ins London Palladium mitgeschleppt hatte. Gemeinsam waren sie stolze Besitzer einer üppigen Sammlung von 15.000 Schellack-78ern.
Wie er seinen Traum von einer Plattenfirma umsetzen sollte, davon hatte Ahmed Ertegun allerdings keinen Schimmer. Bis er in New York auf seinen alten Bekannten Herb Abramson stieß, der neben seiner Ausbildung zum Zahnarzt jede Menge Jazzkonzerte veranstaltete und in seiner Freizeit zudem Platten für National Records produzierte. Er führte Ertegun vom Konsumenten zum Produzenten, dafür infizierte ihn Ertegun mit der Idee eines eigenen Labels.
Atlantic Records hieß die Firma der beiden Freunde. Ihre Stärke war die innovative Produktionsarbeit, gekoppelt mit einer fairen Art, Künstler zu behandeln. Das bedeutete damals vor allem: Atlantic zahlte Lizenzen. Vertragsgemäß und pünktlich. Das war selbst bei großen Plattenfirmen wie Columbia oder RCA keineswegs üblich, und deshalb kamen die Künstler immer wieder zu Ertegun, unterschrieben langfristige Verträge und vertrauten ihm blind. »Sie lieben Ahmed«, erzählte der Produzent Phil Spector später im Rolling Stone: »Er sieht aus wie Lenin, trägt diesen Bart, ist smart und sensibel, hat die Sprache der Schwarzen gelernt, hängt in Harlem rum, raucht Shit und alle stehen auf ihn.« In einer Zeit, in der die meisten Amerikaner Schwarze bestenfalls als Bedienstete, aber nicht als ernst zu nehmende Künstler, geschweige denn als passendes soziales Umfeld für einen Diplomatensohn betrachteten, tauchte Ertegun in ihre Welt ein. Nicht als Voyeur, sondern als ein Teil davon. Gleichzeitig blieb er Geschäftsmann, er wurde zur Brücke zwischen den beiden Kulturen, lebte das Gegenteil von Rassentrennung und verdiente gutes Geld dabei. Seine Glaubwürdigkeit half ihm, Größen wie Ray Charles, Joe Turner oder Aretha Franklin zu einem neuen, moderneren und erfolgreicheren Stil zu verhelfen. Und Atlantic feierte schnell große Erfolge. Es gelang Ertegun, die fordernde, neuartige, schwarze Musik des Nachkriegsamerikas auch für Weiße interessant zu machen – nicht für die Upper Class, aber für Millionen Menschen in ganz Amerika, deren Erfahrungen, Gefühle und Träume der neue Sound besang. »Die meisten Leute im Musikbusiness wussten nicht, was der echte ›American taste‹ war«, erinnert sich Ahmed Ertegun. »Die großen Labels machten Musik für eine bourgeoise Gesellschaft. Sie verstanden nicht, dass der Hafenarbeiter in Seattle oder der Baumwollpflücker in Alabama unsere Musik hören wollte – egal ob er schwarz oder weiß war.«1
Das Gespür für den Crossover machte Ertegun aus – die Übergänge zwischen den Szenen, zwischen R&B und Pop interessierten ihn. Er war getrieben von der Vision, seiner geliebten schwarzen Musik einen Markt zu verschaffen. Atlantic wurde so zum Synonym für einen musikalischen und gesellschaftlichen Aufbruch. 1967 verkauften Ahmed Ertegun, sein Bruder Nesuhi und Partner Jerry Wexler Atlantic an Warner Music – für 17,5 Millionen US-Dollar plus wohldotierte Jobs an der Spitze der neuen Firma WEA (Warner Elektra Atlantic). Nach zwanzig Jahren als Independent ein wenig ermüdet, suchten sie Sicherheit, und das Geld war eine zusätzliche Honorierung. Ertegun verkaufte seine Firma, nicht aber die Verantwortung für seine Künstler. Er schaffte es, Atlantic als eigenständiges Label unter dem Dach des Konzerns zu erhalten. Er machte den Warner-Managern klar, dass man am stärksten sei, wenn sich der Konzern als Verbindung von verschiedenen, autarken, internen Kulturen verstünde. Man hörte auf den erfahrenen Musikmanager Ertegun und erlebte so mit der WEA in den Folgejahren einen ungeahnten Boom. Ertegun gelang es, dem Unternehmen Warner immer wieder neue inhaltliche Impulse zu geben und mit seinem kleinen Label den Riesenkonzern vor sich her zu treiben. Selbst heute, als 81-Jähriger, ist Ertegun bei Atlantic noch als Founding Chairman aktiv und mischt sich immer wieder in die Tagespolitik der Konzernmutter Warner Music ein.
Als die Branche in den sechziger und siebziger Jahren durch den Boom von Rock und Soul in Amerika erwachsen wurde, brauchte es Menschen, die sie anführten, ihr Charakter gaben. Menschen wie Clive Davis, der einer bitterarmen jüdischen Familie aus Brooklyn entstammt und seiner glamourösen Vision von Pop bis heute hinterherjagt, oder David Geffen, der als schwuler Manager in einer homophoben Gesellschaft auf seine Weise Erfolg haben wollte, und eben Typen wie Ahmed Ertegun. Leidenschaftliche Menschen, die nicht nur rational handelten und deshalb für Künstler so glaubwürdig waren. In der breiten Öffentlichkeit machte sie das jedoch angreifbar. Es gefiel bei Weitem nicht allen, dass eine Industrie, die für liberales Gedankengut stand, eng mit der Gegenkultur verbunden war und von Außenseitern geführt wurde, so viel wirtschaftliche Macht erlangte. US-Präsident Richard Nixon setzte sogar eine Untersuchungskommission ein, um der merkwürdigen Branche auf den Zahn zu fühlen. Er wusste wohl aus eigener Anschauung nur zu gut, dass Menschen mit einer Mission auch über das Ziel hinausschießen können. In Deutschland gab es nicht viele Menschen, die nach dem Krieg noch bereit waren, irgendeiner Mission zu folgen. Die meisten Impulsgeber und Innovatoren deutscher Kultur waren vor den Nazis geflüchtet oder von ihnen ermordet worden. Darüber hinaus war man nach diesem ungeheuren Verbrechen nicht in der Lage, auch nur ansatzweise über eine eigene popkulturelle Identität nachzudenken. Die braucht es aber, wenn man glaubwürdig agieren will. Zutiefst verunsichert und zugleich überrollt vom amerikanischen Nachkriegs-Entertainment machten die Deutschen stattdessen zweierlei: Sie suchten Unterhaltung und Trost in der Tradition des deutschen Schlagers, eines der wenigen authentischen Elemente unserer Kultur, das die Katastrophe überlebte, oder sie hörten importierten Besatzer-Pop aus den USA oder England. Und die großen, internationalen Plattenfirmen gaben ihnen, was sie wollten.
In Siggi Loch fanden die Brüder Ertegun einen der wenigen Macher mit anderen Zielen. Auch Loch liebte den Jazz. Als 15-Jähriger hatte er in Hannover ein Sidney-Bechet-Konzert besucht, war hingerissen und für die Banalitäten des Schlagers fortan verloren. Er brachte den Mut auf, nach einem eigenen Sound zu suchen. Er sollte seine Erfahrungen als Jugendlicher in Deutschland mit den musikalischen Einflüssen aus den USA verbinden.
Als Verkäufer für den Importdienst der EMI Electrola kam er in die Industrie und sammelte ab 1962 erste Erfahrungen als Produzent und Jazzlabel-Manager bei Philips. Mitte der Sechziger war er dann als Deutschlands jüngster Plattenfirmen-Chef in der Position, an der Entwicklung eigener, lokaler Musik und Künstler arbeiten zu können. Er entdeckte und förderte Amon Düül und CAN, produzierte die Debüt-Alben von Katja Ebstein, Sigi Schwaab und Jean-Luc Ponty. Immer an der Schwelle vom Jazz zum Pop, immer auf der Suche nach etwas Eigenem.
1970 entschied er sich nach vier Jahren an der Spitze von Liberty/United Artists zur Kündigung. Siggi Loch wollte sein eigenes Jazz-Label gründen. Doch dann sprach ihn Nesuhi Ertegun an, der internationale WEA-Chef: Er solle die Filiale in Deutschland aufbauen. Siggi Loch bewunderte die Erteguns schon lange für ihre Jazzproduktionen und die kluge Label-Politik mit Atlantic. »Es war eine Entscheidung für die Persönlichkeit Ertegun«, sagt Siggi Loch.2
Und er nutzte die Chance. WEA Deutschland entwickelte sich prächtig – nicht nur wegen des starken internationalen Repertoires, sondern gerade aufgrund der lokalen Erfolge: Mit Klaus Doldingers Passport, mit dem er zuvor schon als Produzent gearbeitet hatte, entstand die erfolgreichste deutsche Jazzband, mit Marius Müller-Westernhagen der erste deutsche Stadionstar, mit Alphaville wurde deutscher Synthie-Pop weltweit zum Begriff. 1980 wurde Siggi Loch zum Präsidenten von WEA Europe ernannt, um die europäische Ausdehnung des Konzerns zu steuern. Ein Deutscher in dieser Position war damals eine Sensation.
Siggi Loch ist von Kunst besessen, und wie jeder Besessene hat er sich auch Feinde geschaffen. Sein Verständnis für Menschen, die seine Leidenschaft nicht teilten, war als WEA-Chef durchaus begrenzt. In seiner Funktion war er auch für die Computerspiel-Tochter Atari zuständig und musste selbstverständlich deren Präsidenten Ray Kassar zum Essen ausführen, als dieser in Deutschland weilte. Nach der Vorspeise teilte Loch seinem amerikanischen Gast unverblümt mit, dass Computerspiele doch von erheblich geringerem Wert seien als gute Musik. Es fehle den Games der künstlerische Ausdruck. Kassar schäumte. Atari trennte sich im Jahr darauf von der Mutterfirma, um bereits zwölf Monate später die WEA an Umsatz und Rendite deutlich hinter sich zu lassen.
Dass Kunst sein Motiv, sein Antrieb ist, war nicht zu übersehen. Auch bei meinem ersten Besuch bei ihm zu Hause in Hamburg-Uhlenhorst. Das war 1988. Bevor ich die Marketingkampagne für den damaligen Pop-Sänger Wigald Boning präsentieren konnte, den Siggi Loch auf seinem Label ACT unter Vertrag genommen hatte, wurde ich mit den Bildern vertraut gemacht. Die Wände waren tapeziert mit geschmackvoll ausgewählter Kunst, die Erklärungen zu den Bildern auch für mich, der ich wenig beschlagen war in der Materie, einleuchtend und spannend.
Ich war nicht unvorbereitet gekommen. Mein Chef hatte einige Zeit unter Loch gearbeitet. Die Geschichten über die Industrielegende hatten bei mir eine Mischung aus Respekt und Angst erzeugt. Gefürchtet war Loch, wenn er wütend wurde. Wütend wurde er, wenn man mit Kunst in seinen Augen nicht richtig umging. Einige seiner Bilder hatte er der WEA geliehen. Sie waren nicht zufällig auf die Räume verteilt worden, sondern den jeweiligen Mitarbeitern bewusst zugeordnet. Leider hatte das mein damaliger Chef erst gemerkt, als Loch mit hochrotem Kopf in seinem Büro nach »der Blume« suchte. Auf diese reichlich abstrakte Blume hatte mein Boss einen Monat lang geguckt. Er hatte begonnen, sie zu hassen, und deshalb mit dem Bild seiner Assistentin getauscht. Loch fand das gar nicht komisch ...