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Lachen konnte er hingegen über das Konzept, das ich mit Freunden für Wigald Boning ersonnen hatte. Auf Fotos sollte dieser einen aufgeschlitzten Lachs auf dem Kopf tragen, das Video seine zärtliche Beziehung zu dem Fisch thematisieren und Hunderte von Modellen dieses Tieres wollten wir in Schallplattenläden von den Decken hängen. Flankiert wurde diese Ode an den Meeresbewohner mit großen Textanzeigen wie »Wigald zeigt Madonna, wo der Fisch hängt«. Geld spielte keine Rolle. Den Vertrag für Lochs Label ACT hatte der damalige PolyGram-Präsident, ein früherer Mitarbeiter Lochs, etwas selbstherrlich und zu wahnsinnigen Konditionen ausgehandelt. Das ACT-Label schwamm in Marketingetats und Lizenzvorschüssen, doch das Management bei PolyGram schüttelte den Kopf und ließ Loch mitsamt seinen Künstlern gegen die Wand fahren. Der Präsident musste wegen des Vertrages gehen, der ungeliebte Deal wurde aufgelöst und Siggi Loch machte alleine weiter. Heute ist ACT ein kleines, feines, hoch geachtetes Jazz-Label.
Siggi Loch hatte sich über die Jahre einen »executive flair« zugelegt, der ihn zum Anführer der deutschen Musikmanager werden ließ. Als Gründer der Phonoakademie und Vorstand des Phonoverbandes war er der Chef eines Käfigs voller Narren: Die Geschäftsführer der großen Plattenfirmen waren damals noch keine Betriebswirte oder Anwälte, sondern Rocker, die zur Verhandlung eines Vertrags auch mal mit der Harley vorfuhren und, um ihre Künstler zu motivieren, auch mal spontan eine goldene Rolex auf den Deal drauflegten. Es gab Society-Löwen, die eigene Tennisturniere veranstalteten, um die Bussi-Bussi-Gesellschaft mit Rock und Pop vertraut zu machen, und es gab ehemalige Sänger an der Spitze der Konzerne, über deren hautenge Beziehungen zu ihren Künstlerinnen ausgiebig getratscht wurde. Alle hatten sie ihre Spleens und begründeten so den Mythos der Musikindustrie als halbseidene Glamour-Branche – aber sie waren echte Charaktere, die neben dem Wunsch, viel Geld zu verdienen, auch den festen Willen hatten, das zu verbreiten, was sie für gute Musik und spannende Künstler hielten. Später war das keine Selbstverständlichkeit mehr.
Das Paradies – beseelt von Chris Blackwell und Alfred Hilsberg
Während der globale Markt für Popkultur auf rasante Weise wuchs, entstand ein weiterer Typus des Musikunternehmers: der klassische Independent-Entrepreneur, der sich nicht jahrelang mühsam bis in den Chefsessel eines Major-Konzerns durchgeboxt hatte, sondern auf seiner Vision das eigene Unternehmen gründete.
Chris Blackwell, klassischer Tunichtgut aus einer wohlsituierten Commonwealth-Familie, die auf Jamaika größere Besitzungen ihr Eigen nannte, hatte im Jahr 1962 seine kleine Firma namens Island Records nach London verlegt. Bereits auf Jamaika trieb er sich – zum Leidwesen seiner Eltern – im Ghetto von Kingston herum. Er hatte dort begonnen, mit lokalen Musikern erste Platten zu produzieren, aber nach einiger Zeit festgestellt, dass er mehr Platten nach England verkaufte als auf Jamaika selbst. Die Zahl der jamaikanischen Immigranten wuchs Anfang der sechziger Jahre dramatisch – und sie liebten die Musik von Island Records, denn sie erinnerte an die Heimat.
Blackwell fuhr anfangs mit seinem Mini Cooper durch England, um den wichtigsten Plattenläden seine Produktionen eigenhändig zu verkaufen. Doch bald entwickelte sich das Geschäft sprunghaft: 1964 ließ er die 15-jährige jamaikanische Sängerin Millie Small den Rhythm & Blues-Song My Boy Lollipop covern. Der erste Ska-Welthit verkaufte sich 7 Millionen Mal und erreichte Platz 2 in den englischen und amerikanischen Charts. Erstmals hatte Musik aus der Dritten Welt einen Platz im Mainstream beansprucht und erhalten. Blackwell liebte es, mit seinen Künstlern auf Tour zu gehen, zog im Bandbus mit durchs Land und flog mit ihnen Economy, während sich auf seinem Konto bereits Millionen stapelten. Island fuhr mit Bands wie Traffic oder dem Singer/Songwriter Cat Stevens, mit Robert Palmer und Roxy Music seit den sechziger Jahren riesige Erfolge ein.
Anfang 1970 marschierte ein junger Musiker aus dem jamaikanischen Ghetto Trenchtown in Blackwells Büro. Er war mit seiner Tour-Band in England gestrandet, heiß auf einen guten Plattendeal und ein Rückflugticket. Blackwell kannte und mochte seine zornigen ersten Aufnahmen und sah im Rebellenimage eine Chance. Der Name des Sängers: Bob Marley. Blackwell schickte ihn samt Band und 7.000 Pfund zurück nach Jamaika, wo das erste Album Catch A Fire entstand. »Wir haben die fertigen Songs genommen und intensiv an ihnen gearbeitet«, erinnert sich Blackwell im Gespräch. »Wir kürzten sie hier, verlängerten dort, nahmen Gesang heraus, fügten Gitarren hinzu. Ich wusste, dass wir die Musik nur ein bisschen massieren mussten, um am Ende ein viel größeres Publikum zu erreichen.« Bob Marley verkaufte Millionen Platten, wurde zum Sprachrohr der Dritten Welt, seine Songs besangen das Ende des Kolonialismus.
Blackwell gab seinen Künstlern stets das Gefühl künstlerischer Freiheit, er schaffte es dennoch mit Beharrlichkeit und Fingerspitzengefühl, sie in die richtige Richtung zu lenken. Er übernahm Verantwortung, indem er sie nicht einfach gewähren ließ, sondern sie auf dem Weg zum Publikum an die Hand nahm und an seiner erfolgreichen Vision teilhaben ließ: erst Jamaika, dann die ganze Welt – aus der Szene in den Mainstream.
Der zweite britische Independent-Unternehmer begann 1966. Ausgestattet mit nichts als einer guten Idee, akquirierte Richard Branson von einem Schultelefon aus 6.000 Pfund und gründete das Magazin Student. Schon damals wusste Branson, dass man Künstler vor allem durch Enthusiasmus überzeugt; es gelingt ihm, Stars wie James Baldwin, Vanessa Redgrave, Alice Walker und Jean-Paul Sartre als Autoren oder für Interviews zu gewinnen. Zu diesem Zeitpunkt war Branson 16 Jahre alt. Der extrem kurzsichtige Legastheniker kämpfte gegen den Frust an der provinziellen Schule und im konservativen Elternhaus an.
Virgin Records entstand zunächst als Schallplatten-Mailorder innerhalb des Studentenmagazins. Branson sorgte penibel für die angesagte Repertoire-Auswahl: Zappa statt Cliff Richard. Dem naseweisen Entrepreneur wurde seine Welt rasch zu klein, er verließ Schule und Elternhaus, um in das aufregendere Londoner Leben einzutauchen. Branson war überaus geschäftstüchtig – er verstand die Regeln des Kapitalismus und hatte keine Probleme damit, sie auf seine jeweiligen Inhalte anzuwenden. 1971 gründete er seinen ersten Plattenladen in der Oxford Street. »Zwei langweilige, steife Anbieter, W.H. Smith und John Menzies, dominierten das Geschäft«, erinnert sich Branson.3 »Die Schallplattenabteilungen waren generell im Keller, und die Verkäufer Gestalten in traurigen braunen oder blauen Uniformen, die sich für Musik nicht wirklich interessierten.« 1972 baute er ein Aufnahmestudio in Oxfordshire, hauptsächlich um endlich Kontakt zu Künstlern aufzunehmen und um seinem Freund Mike Oldfield die Aufnahmen zum ersten Album zu ermöglichen. 1973 erschien schließlich Tubular Bells auf Virgin und verkaufte mehr als 5 Millionen Stück. Branson war 22 Jahre alt und endlich im Geschäft.
1978 nahm er die Sex Pistols unter Vertrag. EMI hatte sie bereits nach einer Single und diversen »Fuck Offs« in einer Fernsehsendung fallen lassen. Bei A&M Records erbrach sich der Schlagzeuger unmittelbar nach Vertragsunterzeichnung über dem Tisch des Präsidenten. Branson ließ sich nicht abschrecken. Er ahnte, dass sich etwas Neues zusammenbraute, und brauchte dringend einen Imagewechsel für Virgin, denn als Hippie-Label würde er auf Dauer nicht mitspielen können. »Wissen Sie überhaupt, auf was Sie sich da einlassen?«, fragte ihn Sex-Pistols-Manager Malcolm McLaren. »Ich glaube, ich weiß es schon«, sagte Branson und unterschrieb den Vertrag, »aber wissen Sie es?«.
McLarens Strategie, die Vorauszahlung einzustecken und dann die jeweilige Firma so zu beleidigen oder in solche Verlegenheiten zu bringen, dass er und die Band entlassen würden, ging bei Virgin nicht auf. »Ich war mein eigener Chef, hatte keine Shareholder, musste mich für nichts rechtfertigen«, erklärt Branson seine Geduld. Sie zahlte sich aus. Durch das Album Never Mind The Bollocks von den Sex Pistols war Virgin über Nacht repositioniert. Mit Bands wie Human League, XTC, Orchestral Manoeuvres in The Dark, Japan, Simple Minds, Heaven 17 und vielen anderen mehr wurde Virgin das Label der Stunde für die englische New Wave. Der Marke konnte man vertrauen.
1982 betrat ich erstmals den Vernon Yard hinter der Portobello Road in London. In einem Gebäude, das aussah wie eine Doppelgarage, befand sich Virgin. Im ersten Stock arbeitete Sue, die Pressefrau, die mir Karten für ein Konzert geben sollte. Der Raum hatte vielleicht 50 Quadratmeter, beherbergte aber mindestens 14 Schreibtische. An allen wurde telefoniert, Musik abgehört, gelacht, geschwatzt. Die Luft brannte. Ich rief gegen den Lärm an: »Sue!!« Ganz hinten rechts winkte jemand. Ich machte mich über Stapel von Plattenkartons hinweg auf den Weg. Virgin zog wenig später in eine Villa um, und auch das Programm wurde deutlich breiter. Durch Verträge mit Genesis, Bryan Ferry, Rolling Stones und Janet Jackson gab Branson seiner Firma langsam das Gesicht eines ganz normalen, erfolgreichen Labels. Seinen Hang zum Abenteuer lebte er nun anders aus. Er nahm mit seiner Fluggesellschaft Virgin Atlantic den Kampf gegen den gigantischen Konkurrenten British Airways auf.
Auch in Deutschland dachte man unabhängig – independent. Im zweiten Stock links im Hinterhof in der Hamburger Glashüttenstraße wurde der Aufstand gegen die Plattenindustrie geplant und begonnen. Hier wohnte der Journalist Alfred Hilsberg. In seinem Spiegel-Artikel »Rodenkirchen is burning« war 1978 das erste Mal die deutsche Punkbewegung für die breite Öffentlichkeit thematisiert worden. Die Zwischenüberschrift »Neue Deutsche Welle – Die Revolution ist vorbei – Wir haben gesiegt« in seiner dreiteiligen Serie »Aus grauer Städte Mauern« in der Musikzeitschrift Sounds verlieh der Bewegung einen Namen: Neue Deutsche Welle. Alfred wurde ihre Stimme, zumindest für mich während so mancher Mittagessen bei meinen Eltern zu Hause. Denn der mutige NDR-Redakteur Klaus Wellershaus lud sich Hilsberg häufig als Gast in seine Sendung Musik für junge Leute nach der Schule.
Mit ruhiger Stimme erzählte er von Bands wie Mittagspause, Deutsch Amerikanische Freundschaft, S.Y.P.H., Geisterfahrer, Vorsprung oder Abwärts. Ich ließ die Spaghetti mit Tomatensoße kalt werden und stürzte ins Kinderzimmer zu meinem Kassettenrecorder, um die Aufnahmetaste zu drücken. Früh hatte ich Gefallen an elektronischer Musik gefunden, Kraftwerks Trans Europa Express war mein erstes Album gewesen (natürlich ist das unerträglich politisch korrekt, aber leider wahr). Doch auch als abgeklärter 15-jähriger Bubi staunte ich über das, was ich von der Neuen Deutschen Welle hörte.
Der Punk war für meine neuen Helden eine Inspiration. Nicht mehr – aber auch nicht weniger. Deutliche, deutsche Texte trafen auf minimalistische Kompositionen, deren Refrains nicht selten leichte Schlageranleihen hatten. Lustig war das überhaupt nicht, lustig fand das nur die Musikindustrie, die wieder mal rein gar nichts verstanden hatte. Und darum machte man es einfach selbst. Allen voran Alfred Hilsberg, der mit Zick Zack das wohl wichtigste Independent-Label der Bewegung gründete. Das Büro war seine Wohnung, und vor der stand ich im Frühsommer 1980 mit schlotternden Knien. Gleich würde mir der Punk-Papst öffnen.
Der Mann an der Tür war alt, ungefähr Anfang dreißig, hatte schwarze, schulterlange Haare, die leicht ölig glänzten. Sein weit geschnittener Anzug war aus einem samtartigen Stoff und sah ein wenig abgewetzt aus. Zwei Wellensittiche flogen aufgeregt durch die beiden kleinen Räume, die sich hinter seinem Rücken auftaten. Alfred schloss deshalb schnell die Tür hinter mir und schlurfte zu seinem mit schwarzem Cord bezogenen Bett, auf das er sich sogleich fallen ließ. Außer dem Bett und dem darauf befindlichen roten Tastentelefon sah ich nur Plattenregale aus Sperrholz, die alle Wände und sogar noch den Platz über dem Bett bedeckten. Teilweise waren sie unter ihrer Last zusammengebrochen. Ich hatte weiß getünchte, spärlich eingerichtete Räume, Neonröhren, Punk-Graffitis und einen Mittzwanziger mit Irokesenschnitt erwartet. An diesem Nachmittag lernte ich, dass man nicht cool sein muss, um die coolste Bewegung aus der Taufe zu heben.
Ich nahm auf dem Bett Platz, wo vor mir schon die Einstürzenden Neubauten, Abwärts, Palais Schaumburg und viele andere gesessen hatten, um ihre Verträge zu verhandeln oder mit Alfred die nächste Produktion zu diskutieren. Immer wieder unterbrochen vom Telefonklingeln und den Sturzflugattacken der neurotischen Wellensittiche, diktierte mir Hilsberg seine Weltsicht für meine Sozialkunde-Arbeitsgruppe »Freizeit in unserer Stadt« aufs Band. Wer etwas verändern wolle, könne sich unmöglich etablierter Strukturen bedienen, sondern müsse selbst neue erschaffen. Der Gang durch die Institutionen sei ein tragischer Irrtum der 68er, der nur dazu führen würde, dass man am Ende selbst wie diese strukturiert sei.
Hilsbergs Konsequenz hieß Zick Zack, und dieses Ein-Mann-Label schien der Beweis dafür zu sein, wie viel besser es mit Independent-Idealismus statt innerhalb der etablierten Musikindustrie ging. Bereits die ersten Veröffentlichungen gerieten zur kleinen Sensation. Auch ohne Marketingapparat und großen Vertrieb wurden Platten wie Amok Koma von der Hamburger Gruppe Abwärts, von Palais Schaumburg oder Die Radierer aus Limburg zu Hits. Bereits 1981 machte Zick Zack 1,5 Millionen Mark Umsatz. Alfred Hilsberg rotierte auf seinem schwarzen Bettbezug und entdeckte eine aufregende, neue Gruppe nach der anderen. Doch wenn er den erfolgreichen Künstlern dann beim allabendlichen Wodka in der Punk-Kneipe Marktstube mit leuchtenden Augen von neuen Veröffentlichungen wie Knusperkeks erzählte, ihnen jedoch nicht so recht beantworten konnte, wann sie ihre Tantiemen für die verkauften Platten bekämen, hörte für viele der Spaß auf. Keiner hat jemals geglaubt, dass sich der Asket Hilsberg selbst bereichert hätte, aber auch kaum ein Künstler war bereit, mit seinen Einnahmen die vielen anderen Gruppen bei Zick Zack zu subventionieren.
Getreu des Zick-Zack-Firmenmottos »Lieber zu viel als zu wenig« veröffentlichte Hilsberg mehr als 100 verschiedene Platten in fünf Jahren. Anders als die internationalen Independent-Macher Branson oder Blackwell versuchte der ehemalige Linksaktivist, innerhalb des Kapitalismus ein Unternehmen jenseits jeglicher Regeln des Kapitals zu führen. Die Konsequenz war, dass seine erfolgreichsten Bands wie Wirtschaftswunder, Abwärts oder Palais Schaumburg nach und nach bei großen Firmen landeten, weil sie es nicht mehr einsahen, dauerhaft ein zuzahlender Bestandteil der Solidargemeinschaft Zick Zack zu sein. Doch auch in der Welt der sogenannten Majors, zu denen sie dann wechselten, sahen sie kaum mehr Geld – vor allem, nachdem ihre sicherlich beachtlichen ersten Vorschüsse auf Lizenzeinnahmen überwiesen waren. Sie litten unter ständig wechselnden Ansprechpartnern und dadurch unter Erfolglosigkeit, mit dem großen, fremden System schwand oft auch die Bandchemie. Alfred jedoch macht, verfolgt von Gläubigern, weiter bis zum heutigen Tag. Nur das Bett mit dem schwarzem Cordbezug gibt es nicht mehr.
Die Geschichte Zick Zacks wiederholte sich damals vielfach, die Labels hießen Pure Freude (S.Y.P.H.), Rondo (Mittagspause), Ata Tak (Der Plan, Andreas Dorau) oder No Fun (Hans-a-plast) und hatten alle eines gemein: den absoluten Willen zur Selbstausbeutung, einen guten, innovativen Geschmack, wenig Kapital und meist noch weniger Neigung zu einer funktionierenden Administration. Independent Labels, die von ehemaligen Banklehrlingen gegründet wurden, wie L’Age D’Or (Tocotronic) blieben bis heute die große Ausnahme.
Das Paradies – ermöglicht durch Fehlfarben und John Cale
Obwohl viele der Neue-Deutsche-Welle-Bands veritable Erfolge feierten, fanden sie damals in den etablierten Medien kaum Unterstützung. Denn am Drücker saß dort, wie auch in den großen Plattenfirmen, die Generation der Eltern und Lehrer. Sie verstanden gar nicht, was es mit der komischen neuen Welle auf sich hatte, die da unvermeidbar auf sie zuschwappte. Instinktiv griff man auf das zurück, was man kannte, was man verstand: Deutschrocker wie Extrabreit wurden in Streifenhosen gesteckt und als Punk verkauft, potenzielle Schlagersternchen wie Markus und Hubert Kah mit lustigen Textchen und Inszenierungen aus dem Kasperletheater versehen und als Neue Deutsche Welle unter die Leute gebracht. Der Minimalismus der Bewegung wurde als Chance zur Billigproduktion missverstanden, der Markt mit schlechten Kopien der Originale überschwemmt.
Kurzfristig verdienten die Konzerne damit viel Geld. Doch langfristig wurde die Chance vertan, die erste deutschsprachige Jugendbewegung als Aggregator vieler dauerhaft erfolgreicher, lokaler Stars und eines starken Katalogs zu nutzen. Stattdessen trieb man die Bewegung in den Kollaps. Meine Einstellung bei PolyGram war der freundliche, aber zaghafte Versuch, die Szene endlich innerhalb des eigenen Systems zu verankern. Doch dafür war es 1986 schon zu spät, der Patient Neue Deutsche Welle bereits tot.
Die Organisation, die ich vorfand, war auf dergleichen auch gar nicht eingestellt. Der Herkunftsort, nicht die Inhalte waren entscheidend. Gemäß der altbackenen Logik, der Deutsche macht Schlager, der Brite und der Amerikaner rocken, war die Firma in eine nationale und eine internationale Abteilung aufgeteilt. Doch diese Logik griff seit langem schon nicht mehr. Die nationale Fernseh-Promoterin, die begnadet auf der Klaviatur des Mainstreams spielte, durfte den britischen Schmalzgott Chris de Burgh oder die von ihr verehrten Bee Gees nicht bearbeiten und musste sich stattdessen am Independent-Neurotiker Phillip Boa die Zähne ausbeißen. Dessen sperriges Wesen und Inhalte waren ihr völlig fremd, und in die ZDF-Hitparade mit Dieter Thomas Heck, die sie mit ihrem Charme spielend besetzte, passte er partout nicht rein. Die internationale Presse-Promoterin hätte hingegen liebend gerne Chris de Burgh zum Teufel geschickt und Boa in die Underground-Presse gebracht, durfte aber nicht.
Meine neuen Kollegen hatten fast alle eine Leidenschaft und eine klare musikalische Identität, doch die Organisationsstruktur sah diese nicht vor. Hier führte keiner etwas Böses im Schilde, war kein Masterplan des Konzerns erkennbar. Man hatte lediglich nicht gemerkt, dass die Zeiten sich gewandelt hatten, dass Musiker ungeachtet ihrer nationalen Herkunft aus unterschiedlichen Szenen kamen. Vieles machte man wieder wett, weil alle sich darin einig waren, Musik zu lieben. Man freute sich sogar an den Erfolgen der anderen Plattenfirmen. Wenn dienstagabends die Charts über den Ticker kamen, saß der harte Kern nicht selten im großzügigen Zimmer des nationalen Abteilungsleiters (meines Chefs, der an meinem ersten Tag seinen Letzten hatte und für den einen Nachfolger zu finden eine Ewigkeit dauerte) zusammen und hörte sich in Ermangelung eigener Neueinsteiger die Hitlisten der Konkurrenz an. Auf Platten, die gefielen, wurde getrunken, und wenn es viele gute waren, floss Mumm-Sekt, bis der Morgen graute.
Die Musiker, die ich zu betreuen hatte, wirkten alle nicht glücklich. Viele waren mit Unsummen von der Konkurrenz weggekauft worden und nun in einer Welt gelandet, die sie nicht wirklich verstand. Das wurde durch mich auch nicht gerade besser. Ich hatte die so genannten progressiven Künstler zu vertreten, und das hieß, im Sinne der damaligen Polydor, Popper aus Hamburg, die wie Amerikaner klingen wollten, Buren aus Südafrika, die vorgaben, Briten zu sein, und viele Spätausläufer der Neuen Deutschen Welle. Nett fand ich sie eigentlich alle, die Südafrikaner halfen mir sogar beim Umzug, aber nach meiner Meinung zu ihrer Musik gefragt, konnte ich leider nicht lügen.
Überholt, nicht eigen, also eigentlich überflüssig. Ich hoffe, ich drückte das damals freundlicher aus, aber aus ihren Verträgen wollten sie trotzdem fast alle raus. Und das nicht erst, seitdem ich auf den Plan getreten war. Ich ließ es meist zu, und keiner stoppte mich dabei ...
Einen Musiker unter Vertrag zu nehmen, das versuchte ich später meinen Mitarbeitern immer einzubläuen, hat ein bisschen etwas von einem Adoptionsakt. Das darf man nicht leichtfertig machen, das hat Konsequenzen und bringt Verpflichtungen mit sich. Ein Kind würde man ja auch nicht aus einer Laune heraus unter seine Fittiche nehmen. Ähnlich hilflos steht der unerfahrene Künstler anfangs mit großen Kulleraugen der Maschine Musikindustrie gegenüber. Er braucht jemanden, der ihn und seine Mission versteht, sich damit in der Tiefe auseinandergesetzt hat, seine Anliegen und sein Werk in das System hinein übersetzt und dort auch der Anwalt seiner Interessen ist. Häufig bricht er für die vermeintliche Karriere, die durch den Vertrag am Horizont zu winken scheint, Studium oder Lehre ab. Manchmal schmeißt er deshalb sogar seinen Beruf hin. Der Vertrag ist für den Musiker Chance und Gefahr zugleich. Der Artist & Repertoire Manager muss sich dieser Verantwortung bewusst sein. Der Künstler braucht Kontinuität. Für ihn ist es fatal, wenn sein Ansprechpartner geht. Es ist keinesfalls gewährleistet, dass ihn der Nachfolger, welchem automatisch die Rolle der Stiefmutter zukommt, überhaupt versteht. Besonders nicht in Firmen, die sich nicht nach Genres, sondern nach Herkunftsregion organisieren. Die unterschiedlichen musikalischen Szenen und Gruppen haben eigene Codes, eigene Sprachen. Die mir übertragenen Künstler und ich redeten häufig aneinander vorbei, kamen künstlerisch aus zu unterschiedlichen Welten. Sie waren zudem zermürbt und misstrauisch wegen des ständigen Wechsels der Ansprechpartner. Viele meiner Vorgänger hatten sich schnell wieder aus dem Staub gemacht, als sie merkten, dass dieser Teil der Firma scheinbar den Misserfolg gepachtet hatte. Schützen kann man sich als Künstler vor diesem Problem nicht.
Die Festschreibung der Betreuung durch einzelne Mitarbeiter, die so genannte »Keyman Clause«, lässt keine große Plattenfirma mehr zu. Whitney Houston war wohl eine der Letzten, der es gelang, eine solche Klausel in ihren Vertrag hineinzuverhandeln. Nutznießer war Clive Davis, auf dessen Dienste die Diva bestand. Auf dem Höhepunkt ihres Erfolgs – sie spielte damals fast die Hälfte des Jahresumsatzes der Arista ein – wies er seinen Arbeitgeber freundlich darauf hin, was passieren würde, sollte er den Wunsch verspüren, die Firma zu verlassen: Der Vertrag mit Whitney wäre ebenfalls sofort Geschichte. Seiner als Bitte getarnten Forderung, ab sofort an der Firma beteiligt zu sein und 15 Prozent seiner Arbeitszeit jenseits von Arista verbringen zu dürfen, konnte keiner mehr widersprechen. Gleichzeitig war dies das Ende einer jeden Chance auf die »Keyman Clause« in Künstlerverträgen, und das nicht nur bei Arista, der späteren BMG.
Bei den Indies war auch das anders. Zumeist nahm ja der Besitzer selbst den Künstler unter Vertrag und nicht einer dieser Konzern-Talentsucher auf ihren wackligen Stühlen. Dafür hatte man hier natürlich die Gefahr der Ablösung durch Konkurs oder Verkauf, die damals bei den Majors noch vergleichsweise gering war. Ein anderes schlagendes Independent-Argument war die künstlerische Freiheit.
Bei den Major-Labels hatte diese in der Tat keine große Tradition. Ihr Künstlerbild war in Deutschland noch häufig von den goldenen Jahren des Schlagers geprägt. Da wurde meist gesungen, was einem der Produzent im Studio vorlegte, und das eigene Album-Cover sah man oft erst nach Veröffentlichung der Platte. Spätestens seit dem Punk wollten die Künstler aber mitreden, ihre eigenen Songs schreiben, den Sound mitbestimmen, das Image und das Marketing mitsteuern. Und gerne strichen sie auch die Silbe »mit« aus dem vorigen Satz.
Bei der ersten Band, die ich unter Vertrag nehmen durfte, würde alles anders sein. Das war mit mir selbst abgemachte Sache. Wenn sich das System mit aller Macht dagegenstemmen würde – umso besser. Der Verleger meines Enthüllungsbuches würde sich sicher freuen. Aber welchen Künstler wollte ich eigentlich »signen«, wie sie es hier nannten, wen wollte ich verpflichten? Ich tastete mich ran, hatte aber selbst die Schere im Kopf. Ich wollte einerseits die coolsten Bands, die man damals nur finden konnte, aber andererseits irgendwie inhaltlich auch die Erwartungen des konservativen Systems erfüllen. Das Ergebnis ist immer halb-cool. Und halb-cool ist schlimmer als uncool. Das, was ich in die Meetings mitschleppte, war gewagt für die Polydor, aber immer auch ein wenig zu altbacken für die Welt, aus der ich kam. Meine Kollegen merkten zum Glück, dass ich nie wirklich selbst begeistert war, und vermieden durch geschicktes Nachfragen, dass ich den typischen Fehler eines jungen A&R-Managers machte: das zu signen, von dem ich glaubte, dass das System es will, und nicht das zu machen, von dem ich weiß, dass es richtig ist. Das System hat nämlich keine Ideologie. Es will nur Erfolg. Und der kommt am ehesten dann, wenn du weißt, dass du Recht hast. Dann bist du bereit zu kämpfen, dann leuchten deine Augen, dann reißt du andere mit.