- -
- 100%
- +
Der Geschäftsführer der Polydor kam aus Berlin zurück und stürzte in mein winziges Zimmer, das er ob seiner Körperfülle fast komplett einnahm. Seine Augen leuchteten. Während des Fluges hatte er im Tagesspiegel eine begeisterte Konzertkritik gelesen. Vielleicht lag es nur daran, dass er die Fehlfarben mochte, eine Band, die mit ihrer Platte Monarchie und Alltag tatsächlich sechs Jahre zuvor einen echten Meilenstein deutscher Popmusik hingelegt hatte. »Keine Atempause, Geschichte wird gemacht, es geht voran«, diese Zeile aus einem ihrer Songs war quasi die Zwischenunterschrift der Neuen Deutschen Welle geworden. Und einer von diesen Jungs spielte bei der Band, die der Tagesspiegel-Journalist frenetisch gefeiert hatte. Den Bandnamen hatte mein Chef vergessen, und die Zeitung lag im Flugzeug. Nur eins, das wusste er noch, der Name war wahnsinnig negativ, eigentlich lebenverachtend.
Komisch, dass man vergisst, was einen begeistert, dachte ich, wollte den guten Mann aber auch nicht enttäuschen und recherchierte, wie ich es als Journalist gelernt hatte. Eine kleine Kieler Band namens No More hatte gerade einen Underground-Hit namens Suicide Commando, das passte perfekt ins Bild. Ich kontaktierte sie, weckte Hoffnungen, aber leider spielte keiner von den Fehlfarben mit. Deren neue Bands gaben an Negativem im Bandnamen nicht viel her, hießen Family 5, der Plan oder eben Element of Crime. Letztere hatten eine sehr passable Debut-LP herausgebracht und spielten demnächst wieder in Berlin an der Hochschule der bildenden Künste. Einen Versuch war es wert, schließlich arbeitete meine Freundin zu der Zeit auch in Berlin beim Radio, und eine Dienstreise zu ihr hatte ich auch noch nicht gehabt.
Element of Crime waren ein Treffer, die hatte der Geschäftsführer gemeint. Zumindest glaubte er sich daran zu erinnern. Mittlerweile bin ich fast sicher, dass er gar nicht so sehr von der Rezension begeistert war. Ich glaube, er freute sich, etwas über einen Musiker von Fehlfarben zu lesen, eine der wenigen Bands, von denen er wusste, dass ich sie auch mochte. Sie gaben ihm Anlass, mir einen Schubs zu geben, damit der unorthodoxe junge Mann, den er eingestellt hatte, endlich auf die Szene zuging, aus der er kam. Nun hatte ich also einen Freifahrtschein in der Hand. Und der führte mich nicht nur nach Berlin zu meiner Freundin, sondern auch auf Geheiß meines obersten Chefs zu Vertragsverhandlungen mit einer Band aus dem Underground. Ich wollte die Möglichkeit unbedingt nutzen. Ein Zufall und ein besorgter Chef gaben mir die Klarheit, die ich selbst zuvor nicht hatte.
Das Konzert von Element of Crime in der Aula war ein Fiasko. Ein Lichtmast stürzte ins Publikum. Zum Glück war er so klein wie damals die Band und erschlug deshalb keinen Zuschauer. Die Stimmung stieg dadurch aber auch nicht gerade ins Unermessliche. Genauso wenig wie durch den Hörsturz des Schlagzeugers, dem das Publikum und ich beiwohnen konnten. Er war ausgerechnet der Einzige in der Band, der von Fehlfarben kam. Auch das Klingelbrett in dem Kreuzberger Haus, wo man mich am nächsten Tag erwartete, wirkte nicht gerade einladend. Es war über und über mit Hundekot beschmiert. Ich überwand den Ekel mithilfe von Tempotaschentüchern. In der Wohnung des Bassisten angekommen, musste ich feststellen, dass die ARD-Sportschau bedeutend interessanter war als ich und dass der prominente Schlagzeuger eh mit dem Gedanken spielte auszusteigen.
Auf dem gemeinsamen Weg zur U-Bahn erwähnte ich wenigstens John Cale, den ich ein paar Monate zuvor interviewt hatte. Die Aussicht, die Legende Cale zu treffen, und der Sänger der Band, Sven Regener, dem man von dem Treffen mit mir erst gar nichts erzählt hatte, gaben den Ausschlag und führten dazu, dass Elemente of Crime als erste Band bei mir unterschrieben.
Bald darauf begannen die Plattenaufnahmen von Element of Crime in London mit John Cale als Produzent – und es wurde plötzlich ernst. Natürlich war jeder Schritt mit der Band genauestens abgestimmt. Keine leichte Sache, denn die Jungs waren sich oft selbst nicht einig. Der Sänger preschte in der Regel nach vorn, der Bassist stand auf der Bremse. Das Cover sollte ein befreundeter Stempelkünstler namens »Der Prinz von Kreuzberg« machen. Das schwarze Stück Pappe mit den vielen weißen Abdrücken war weder künstlerisch hochwertig, noch hatte es viel mit Element of Crime zu tun. Meine Polydor-Kollegen erkannten in den Stempeln kopulierende Heuschrecken. Die Band war zwar zufrieden – ich aber die Diskussion leid.
Handschriftlich wand ich mich an den »Prinzen« und erklärte ihm, dass sein Cover ganz klasse sei, aber die Polydor eine dieser üblen Major-Firmen aus der Musikbranche, von denen er sicher schon mal gehört habe, bei der man solche Kunstwerke unmöglich durchsetzen könne. Danach war Ruhe. Ich hatte ein schlechtes Gewissen und die Musikindustrie einen noch schlechteren Ruf.
Auch der nächste Anlauf ging schief. Diesmal war es der Gitarrist, der in einem Kalender ein passendes Motiv gefunden zu haben meinte. Zwei resolute Putzfrauen einer sozialistischen Reinigungsbrigade hatten ein riesiges Kruzifix auf die Stufen vor einer Dresdner Kirche gezerrt, um es dort mit einem Wasserschlauch abzuspritzen.
Das gefiel auch mir, passte zu Bandnamen und Albumtitel. Die Präsentation vor dem Vertrieb war ein Desaster. Wie man das denn in Oberammergau oder anderen erzkatholischen Gegenden platzieren solle, zeterte es mir entgegen. Doch statt festzustellen, dass Element of Crime dann vielleicht erst nach Oberammergau oder in andere erzkatholische Gegenden kommen sollten, wenn sie sich mit klaren Aussagen wie diesem Cover durchgesetzt hatten, zog ich den Schwanz ein, verbannte das Bild ins Innere der Verpackung und holte ein Bandfoto nach vorn.
Wem gegenüber war ich verantwortlich? Der Band, die provozieren wollte, dem Vertreter, der verkaufen musste? Die Antwort lautet natürlich: beiden. Damit der Vertreter verkaufen kann, muss die Ware eine Relevanz haben. Die bekommt sie aber nur, wenn ich als Co-Produzent darauf achte, dass ich sie in dem, was sie ausmacht, stärke. In diesem Sinne hätte ich beiden Seiten mit dem Kruzifix einen Gefallen getan, auch wenn es der Vertrieb vielleicht erst später gemerkt hätte. So ging die Platte umhüllt von einem schnell gestrickten Cover raus, das aussah wie eine schlechte Kopie von Dexy’s Midnight Runners Searching for the Young Soul Rebels. Es hatte etwas Billiges, Improvisiertes, aber das passte zu Try To Be Mensch immer noch besser als die vermeintlichen Heuschrecken des Kreuzberger Prinzen.
Zu Beginn war ich mit meiner Historie und Haltung noch ein ziemlicher Exot in dieser Industrie. Man ließ mich gewähren, denn was man suchte, waren Leute, die für das einstanden, was sie taten. Was das nun genau war, schien dem System ziemlich egal zu sein. »Machen Sie, was sie wollen, Herr Renner«, sagte mir später der Polydor-Geschäftsführer, als er mich zum Chef meiner eigenen Abteilung ernannte, »solange ich es weiterhin furchtbar finde, ist alles in Ordnung.« Man schaute sich meine Aktivitäten in Ruhe an, weil die Wege und die Inhalte ungewöhnlich, aber die Ziele verständlich waren. Das galt selbst für die Controller. Der holländische Kollege unterstützte mich und meine Bands, ohne dass ich es merkte. Er legte die Accounting-Richtlinien des Konzerns so flexibel aus, dass alle meine Künstler als »proven« galten. Die Tatsache, dass ich sie unter Vertrag genommen hatte, schien für ihn Begründung genug, das Investment als gesichert zu sehen. Der Vorschuss eines »Proven Artist« musste nicht als Kosten in die Bilanz, umgekehrt gehört er sofort abgeschrieben. Ich bemerkte seine Form der Unterstützung erst dann, als sein Nachfolger kam ...
Ungewöhnliche Wege wurden damals akzeptiert, das hatte aber nichts mit unverantwortbaren Wegen zu tun. Es ist kein Glaubensbekenntnis und auch kein mutiger Akt, wenn man gleich bei der ersten Produktion eines Künstlers Hunderttausende von Euros in die Aufnahme, das Marketing und in Videos investiert oder die Künstler mit Vorauszahlungen beglückt, von denen man im Grunde weiß, dass sie diese noch viele, viele Jahre abbezahlen werden. Je länger der Künstler oder die Band für ihre Entwicklung brauchen, desto unverantwortlicher und feiger ist es, so zu agieren. Feige, weil die meisten Künstler wirtschaftliche Zusammenhänge nicht wirklich durchschauen, aber das Maximum an Aufmerksamkeit wollen. Sie fordern nicht nur Zeit, sondern auch Geld als Zeichen der Wertschätzung. Und je weniger Zeit sie bekommen, desto größer wird der Ruf nach teuren Videos oder Budgetgräbern. Unverantwortbar ist es, weil eine Schallplattenfirma natürlich ein Wirtschaftsunternehmen ist und ergebnisorientiert arbeitet. Wer seine Künstler überschuldet, raubt ihnen die Zukunft.
Über die Jahre kamen rein generationsbedingt mehr und mehr Menschen in die Musikindustrie, die mit den Ideen von Punk und Independent-Labels groß geworden waren. Sie hatten in der Regel auch den Anspruch, eine andere Beziehung zwischen Künstler und Label zu etablieren. Häufig hieß dies aber, dass einfach nur der Konflikt vermieden und dadurch beiden Seiten kein Gefallen getan wurde. In den schlimmsten Fällen bekamen die Bands jeden Wunsch von den Lippen abgelesen, und der A&R-Manager genoss es, ihr Held zu sein, der dem System riesige Summen abgerungen hatte. Aber es war gar nicht schwer, die Summen zu bekommen. Man musste nur den entsprechenden Erfolg prognostizieren. Trat dieser nicht sofort ein, kam die Rechnung. Die Konsequenz hatte erst mal der Künstler zu tragen, sein Vertrag wurde angesichts der tiefroten Zahlen nicht verlängert. Der A&R beschwerte sich dann, dass heutzutage die Plattenfirmen den Musikern keine Zeit mehr für ihre Entwicklung geben würden.
Umgekehrt ist es richtig. Wer seine Künstler überschuldet, nimmt ihnen Zeit und Zukunft. Die Aufgabe eines A&R ist auch die Moderation. Er darf weder die Befindlichkeiten der einen noch der anderen Seite komplett zu seiner eigenen machen. Seine Verantwortung gegenüber dem Künstler bedeutet gerade, häufig auch Nein zu sagen. Nur weil die Kosten von Element of Crime so eisern kontrolliert wurden, war es möglich, mit ihnen fünf Platten aufzunehmen, bis der Durchbruch kam. Alle Veröffentlichungen davor hatten bereits mit geringen Verkaufszahlen eine schwarze Null oder nur einen winzigen Verlust generiert. Natürlich macht man sich mit einer solchen Politik nicht immer beliebt bei seinen Klienten, aber das ist auch nicht der Job. Man darf niemals die Mutter sein, die versucht, die beste Freundin ihrer Tochter zu werden. Irgendwann wird sie dich dafür hassen, und das mit Recht.
Das Paradies – beschallt von Klaus Wellershaus und mit Karol Wojtyla
»Der Bericht zur Lage der Nation« hallte es über den Äther. Aber das war nicht die Stimme des Bundestagspräsidenten, sondern meine, und sogleich würde auch nicht der Kanzler hinters Mikrofon treten, denn da saß ja schon ich. Der NDR-Redakteur Klaus Wellershaus hatte sich Festival der guten Taten besorgt, angehört und mir daraufhin meine erste Sendung gegeben. Auf der ersten Ausgabe dieser als Zeitung erscheinenden Musikkassette waren meine Interviews für das Sozialkundeprojekt zusammen mit einigen Rezensionen von Independent-Platten zu hören. Der einzige Redakteur war ich, die Tapedecks zum Kopieren der vielen MCs hatten mir meine Klassenkameraden geliehen. Vertrieben wurden sie bundesweit über einen Laden namens Rip Off. Die Auflage lag knapp unter 1.000, immer wieder hatte Rip Off angerufen und nachbestellt. Alle drei Monate gab es eine neue Ausgabe. Jedes Kassetten-Cover war mit der Hand ausgeschnitten, jede Kassette in realer Laufzeit überspielt. Wie viel leichter war es da, eine Radiosendung zu machen.
Es waren nur noch wenige Sekunden bis zur Sendung. »Ruhig bleiben«, empfahl der erfahrene Redakteur, »wir sind gleich live drauf. Da draußen warten jetzt 1,2 Millionen Menschen darauf, dass du ihnen etwas sagst, konzentrier dich auf sie.« Damals gab es im Norden ja nur drei Programme, und ein Schnitt von über einer Million Hörer war deshalb auf der Frequenz vom NDR die Regel. Gerade mal 16 Jahre alt geworden, hatte ich nie mehr Menschen gesehen als bei einem ausverkauften Heimspiel des HSV. Vor meinem geistigen Auge stapelte sich deshalb das vollbesetzte Hamburger Volksparkstadion zwanzigmal übereinander. Ich stand vor diesem merkwürdigen Gebilde aus wahnsinnig vielen Menschen auf einem kleinen Podium. Mein Hals schnürte sich zu, aber endlich krächzte ich »Guten Abend« ins Mikrofon.
Danach präsentierte ich eine Stunde lang die englischen Independent Charts, schaltete zu meinen Außenreportern Burkhard Seiler in Berlin und Christoph Schlingensief in München, um zu hören, was sich in den anderen Metropolen Neues tat. Dazwischen gab es Musik zu hören, die ich gerade wichtig und spannend fand. Von acht bis neun Uhr abends, einmal im Monat, immer am ersten Montag. Was ich spielte, war komplett mir überlassen. Wenn man mir sagen müsste, was ich auflegen sollte, meinte damals Wellershaus, bräuchte man mir keine Sendung zu geben.
»Nur was mich selbst überrascht, mute ich auch anderen zu«, lautete das Credo von Klaus Wellershaus. Auf diese Weise hat er damals eine ganze Generation von Pop- und Rockmusikkonsumenten von Flensburg bis nach Hildesheim und in der ganzen nördlichen DDR geprägt. Der ausgebildete Dirigent Wellershaus hatte mit wenigen Mitstreitern beim NDR ab 1965 ein Jugendprogramm durchgedrückt. »Es gab damals so genannte Abhörkonferenzen beim NDR«, erzählte er, »bei denen die neuen Platten daraufhin abgehört wurden, ob sie archiviert oder aussortiert werden sollten. Immer, wenn es ›schräg‹ wurde, guckten alle mich an – etwa bei den Beatles oder den Kinks. Die Platten bekamen dann den Vermerk: Nur für junge Leute!‹«4
Konsequenterweise entstand daraus die Sendung Musik für junge Leute nach der Schule, später kam im Abendprogramm des NDR 2 noch Der Club dazu. Als ich das erste Mal am Mikrofon saß, hatte Wellershaus bereits ein anderes Rollenverständnis. Er ermöglichte es nun den Nachwuchskräften, das zu machen, woran sie glaubten; er fungierte als Gastgeber und Mentor.
Das Vertrauen wurde mit spannenden Sendungen hoch engagierter Mitarbeiter belohnt. Das Programm war unberechenbar, aber gerade das machte es so aufregend und sorgte bei mir und vielen anderen für einen Grundstock musikalischer Bildung. Mal gab es Blues und Jazz – ein freundlicher Herr verkündete mit Grabesstimme, wer diese Woche wieder das Zeitliche gesegnet hatte und spielte dann deren Werke. Man merkte schnell, dass Jazz und Blues viel mehr zu bieten hatten als eine überaus hohe Letalitätsquote. Einmal kam eine Sendung für frisch erweckte Christen: Ein Mann mit schwerem, englischem Akzent namens Baskerville spielte mir so das erste Mal die damals noch bibelfesten U2 vor. Tags drauf öffnete Werner Voss sein Rock ’n’ Roll Museum, und auch Alfred Hilsberg bekam die Chance, Zuhörer wie mich mit seiner Neuen Deutschen Welle bekannt zu machen.
Immer wieder führte das Vertrauen und die Loyalität von Klaus Wellershaus zu seinem jungen Team aber auch zu Rüffeln des Rundfunkrats. Ich dachte mir nicht viel dabei, als ich fast auf den Tag genau ein Jahr nach dem Papst-Attentat eine Single von Der Favorit auflegte. Unterlegt von Gitarren und einem technoiden Beat war auf diesem Projekt des Abwärts-Bassisten Axel Dill der Papst zu hören. Auf Deutsch sprach Karol Wojtyla salbungsvolle Worte – nur unterbrochen von der einen oder anderen hineingemischten Maschinengewehr-Salve. Ich dachte an freie Meinungsäußerung und die Freiheit der Kunst, der Rundfunkrat nach einigen Anrufen an die Verletzung religiöser Gefühle. Klaus Wellershaus steckte diese Rüge, die eigentlich mir galt (aber ich war ja noch minderjährig und zudem nur freier Mitarbeiter), mannhaft ein und ließ mich unbehelligt weitermachen. Ich durfte auch zukünftig unter dem Kopfschütteln von verbeamteten Cutterinnen meine Sendungen vorbereiten, in denen Jugendliche zum Geräusch aufeinander krachender Einkaufswagen Lyrik sangen oder Punks aus Eisenhüttenstadt auf Tapes, die in Seife herübergeschmuggelt wurden, das Ende der DDR herbeischrieen. Der Taxifahrer, der mich nach der Sendung nach Hause brachte, meinte einmal, ich hätte heute wieder ziemlich laute Musik gespielt ...
Einen Monat, bevor ich bei der Polydor meine Arbeit aufnahm, begann der NDR, leise zu werden. Seit dem Regierungswechsel 1982 hatte Helmut Kohl die Einführung des so genannten dualen Systems vorangetrieben. In seiner Heimat Ludwigshafen begann am 1. Januar 1984 der Testbetrieb, am 1. Juli 1986 um 11:55 Uhr startete vor den Toren Hamburgs mit Radio Schleswig-Holstein der erste Privatsender, der landesweit sendete. Der Programmdirektor von RSH, Hermann Stümpert, versprach in den ersten Sendeminuten »ein Programm, das den Machern und den Hörern Spaß macht«. Beim NDR war man darüber nicht sehr vergnügt. Im Vorfeld war schon Musik für junge Leute auf die bedeutend kleinere NDR 1 Hamburg Welle verschoben worden, der Einfluss der Redaktion Wellershaus auf Der Club schwand zusehends. Stattdessen wurden für ihn, fast jenseits der Wahrnehmbarkeit, Nischen im Programmumfeld des später gegründeten NDR 4 gesucht und gefunden. Mit dem Radiokonzert konnte Wellershaus schließlich noch eine echte Musiksendung im Abendprogramm der Servicewelle NDR 2 verankern, in der »eine Band länger als eine Single spielt«. Am 31. Januar 2002 ließ sich Klaus Wellershaus in den Vorruhestand versetzen.
Helmut Kohl träumte davon, dass die neuen Radiostationen den Bürgern abseits der öffentlich-rechtlichen Sender, die von seiner Partei gern als »Rotfunk« beschimpft wurden, »geistige Orientierung« bieten könnten. Ein Irrtum, wie auch bald seine Parteifreunde eingestehen mussten. Der von Stümpert und Kollegen angekündigte Spaß hatte mit geistiger Orientierung wenig gemein. Er bedeutete »die Hits der Sechziger und Siebziger und das Beste von heute« und führte bei Radio Schleswig Holstein dazu, dass schließlich nur noch 7,7 Prozent des Programms aus Neuheiten bestand, also aus Songs, die das Publikum nicht schon in- und auswendig kannte. Radio, das war plötzlich die Kunst, keinen mehr zu stören. Das Geschäftsmodell der privaten Sender war darauf abgestellt, mit einer homogenen Mischung aus mindestens 80 Prozent Musik und ein bisschen Moderation möglichst viel Werbung zu akquirieren.
Die öffentlich-rechtlichen Kanäle steckten in einer Zwickmühle. Auf der einen Seite saß ihnen ein Verfassungsauftrag im Nacken, der sie zur Pluralität verpflichtete. Auf der anderen Seite gab es Druck von der Politik, die ihren Wählern nicht erklären wollte, wozu man einen gebührenfinanzierten Rundfunk braucht, wenn dieser deutlich weniger Hörer hat als der private. Man löste das Dilemma, indem man sich bei den populären öffentlich-rechtlichen Servicewellen bedingungslos dem Format und den Methoden der Privatradios anpasste und alles, was diesem eingeschränkten Schema nicht entsprach, zu nachtschlafender Zeit oder im Umfeld von Klassik- oder Infowellen sendete. Das Ergebnis: Aus der Wahrnehmung der breiten Öffentlichkeit verschwanden Hörfunk-Helden wie Klaus Wellershaus und die mutigen Töne dieser Welt.
Kohls Vorgänger, Bundeskanzler Helmut Schmidt, hatte im Zusammenhang mit der Diskussion um Verkabelung und mögliche private Anbietern bereits 1979 gewarnt: »Wir dürfen nicht in Gefahren hineintaumeln, die akuter und gefährlicher sind als die Kernenergie.« Aus der Sicht eines klassischen Radioredakteurs wahre Worte. Denn mit dem privaten Rundfunk kam auch die Musikplanungssoftware aus den USA, allen voran der Marktführer Selector. Sie veränderte das Berufsbild eines Radio-DJs radikal. Früher war er so gut, wie er die Dramaturgie seiner Sendung aufbauen konnte, mit Musik auf Situation und Stimmung spontan einging, durch die richtigen Übergänge einen einzigartigen Fluss schuf und zugleich durch die Auswahl sein Wissen und seinen Geschmack dokumentierte. In der neuen Zeit wurde die optimale Einstellung der Software und die Aufarbeitung von Daten zu seiner Kernkompetenz. Der Computer komponiert die tägliche Playlist, holt sich die Songs aus dem digitalen Archiv, wo sie vom Redakteur aufwändig kategorisiert wurden: nach Länge, Tempo, Künstlerbekanntheit, Genre, Sprache, bisheriger Rotation und verschiedenen weiteren Punkten.
Neben dem Computer samt Selector-Programm bekam der menschliche Programmmacher eine weitere Hilfe zur Verfügung gestellt: den Research-Spezialisten. Kein Ton geht über den Sender, den er nicht mit aufwändigen Tests überprüft und für gut befunden hat. Zunächst wird ein Sender musikstrategisch positioniert. Der Researcher stellt unterschiedliche Genreblöcke zusammen, die aus jeweils drei Hooks bestehen, das sind etwa 12 Sekunden lange Refrainmelodien alter wie neuer Hits. Diese Genreblöcke werden per Telefon einer repräsentativen Gruppe von 800 bis 1.000 Hörern vorgespielt. Das Ergebnis wird nach musikalischen Kompatibilitäten ausgewertet – welche Genres passen laut Hörergeschmack am besten zueinander: Modern Pop und achtziger Hits oder doch besser R&B und Techno? Dann wird das Klangbild eines Senders festgelegt. Anhand dieses ständig wechselnden Formates, das sich den Trendwünschen seines Publikums flexi- bel anpasst, werden sämtliche Musiktitel hinterfragt. Der Redakteur kontrolliert die Daten, vergleicht seine Playlist mit der des Wettbewerbers und stellt die »Musikuhr« ein. Sie schreibt fest, welches Profil der Sender zu welcher Tageszeit haben soll. Darf es also eher ein langsamer Oldie, oder ein internationaler Hit im Mid-Tempo sein, der die Mittagszeit einläutet? Es obliegt der Entscheidung des Redakteurs, in welche Rotation der jeweilige Titel kommt, wie häufig am Tag er also im Programm auftauchen darf. Aber auch diese Freiheit ist im Vergleich zu früheren Zeiten sehr begrenzt. Alle Songs, neue wie alte, werden vom Research etwa alle zwei Wochen auf ihre Beliebtheit beim Publikum getestet. In so genannten Callouts und Auditions werden Hörern die Titel vorgespielt. Je nach Finanzkraft des Senders sind das Gruppen von 70 bis 150 Personen, denen entweder am Telefon oder in einem großen Saal die Hooks jener Titel präsentiert werden, die auf dem Sender laufen. Ihre Reaktion auf die Musik wird in Abstufungen nach Begeisterung, Ablehnung, Burn Out, also dem Zustand zu hoher Rotation eines Titels, und Zuordnung zur Senderfarbe gemessen. Die Daten werden mit aufwändigen Algorithmen und Tabellenkalkulationen ausgewertet und der Redaktion samt programmlicher Empfehlungen präsentiert. Die Ergebnisse mögen den Status quo des Hörergeschmacks in Bezug auf den jeweiligen Sender präzise erfassen, die emotionale Wirkung von Musik geben sie nicht wieder. Die Kategorisierung versucht, Musik zu objektivieren, die Befragung bringt zwangsläufig den kleinsten gemeinsamen Nenner hervor. Außerdem nivellieren diese Tests zwangsläufig alle Ecken und Kanten von Titeln, die sich nicht bereits als Hit durchgesetzt haben. Um dem System gerecht zu werden, kann der Redakteur also nur mit Titeln arbeiten, die entweder so klingen, als würde man sie kennen, oder die schon im eigenen Sender oder von anderen »warm gespielt« wurden. Mit den Interessen von Künstlern und ihren Labels hat das nur noch wenig zu tun. Das Geschäftsmodell ist ein grundsätzlich anderes. Die einen wollen über das Radio Neuheiten kommunizieren, die auch mal anecken. Die anderen brauchen Musik, die auch dezent im Hintergrund funktioniert und sich dem ermittelten Hörergeschmack perfekt anpasst.
Vorzuwerfen ist das keinem, denn die Privaten arbeiten nach einer klaren Logik: Sie sind ein Sender- und kein Sendungsmedium. Sie müssen als Station mit einem möglichst klaren Profil jederzeit erkennbar bleiben, denn finanziert werden sie ausschließlich durch Werbung. Und die wird gemäß der Hörermenge pro Stunde berechnet. Gemessen wird diese aber nicht wie beim Fernsehen über kleine Geräte, die das Radioverhalten der Testpersonen dokumentieren, sondern durch Anrufe bei mindestens 50.000 Haushalten zweimal im Jahr. Zwischen Januar und Mai und zwischen September und Dezember lässt die Arbeitsgemeinschaft Media Analyse (AG MA) die Telefone klingeln. Die Nummern ermittelt ein Zufallsgenerator, aber natürlich macht nicht jeder mit. Wer Lust und Zeit hat, lässt sich nun Sendernamen samt jeweiligem Claim vorlesen, gibt Auskunft, wie häufig er diesen Sender in den letzten vier Wochen gehört hat, an wie vielen Tagen und wie lange. Mehr als dreimal pro Woche weist ihn als Stammhörer aus. Danach erfragt der Interviewer den Tagesablauf, um eine Hörerfrequenz pro Stunde ermitteln zu können. Immer geht es aber um den Sender und seine Erkennbarkeit. Es werden keine herausragenden Moderatoren oder besondere Radio-Highlights ermittelt; es geht um die jeweilige Station und wie viele Hörer sich ihr zuordnen lassen.