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Wenn damals auch Differenzen zwischen Juden und Puritanern bestehen blieben,70 änderte dies aber nichts an der weitgehenden Übereinstimmung im Messianismus und Chiliasmus. Hier gab es auch von Seiten des Judentums eine Annäherung – mit bedeutsamen praktischen Folgen! So identifizierte der berühmte niederländische Toralehrer Menasse ben Israel das Kommen des Messias ohne weiteres mit der Wiederkunft Christi und behauptete kühn, dass dann beide, Juden wie Christen, erlöst würden. Mit dieser Überzeugung reiste er 1655 nach London, um bei Cromwell ein Wiederansiedlungsrecht für die Juden zu erwirken, die schon 1290 geschlossen aus England vertrieben worden waren. Auch darin war das Land Vorreiter in Europa! In der Tat ließ Cromwell die Einwanderung seit 1656 zu, auch weil der Staat Geld brauchte. Eine offizielle gesetzliche Entscheidung kam allerdings erst 1685 bzw. 1698 zustande.71 Seither unterschied sich die rechtliche Situation der Juden in England deutlich von der auf dem Kontinent, und das ist sicher zu loben. Dennoch muss auch auf die Kehrseite dieses Fortschritts aufmerksam gemacht werden. Dazu zählt erstens die fragwürdige Verbindung, die der westliche Protestantismus seitdem mit dem Judentum als Volksreligion eingegangen ist. Sie war ja so innig, dass das Christentum dabei fast selbst zu einer Volksreligion wurde! In diesem Sinn war die Besserstellung der Juden in England eigentlich keine Überraschung. Zweitens muss auf die Gefahr einer bedenkenlos expansiven Außenpolitik hingewiesen werden, die in der Übernahme des Erwählungs- und Sendungsgedankens lag. Denn nun konnten andere Völker und Kulturen nur noch als Objekt gelten und in ihrem Eigensinn gar nicht mehr wahrgenommen werden.
Man kann gegen die Herleitung des nationalen Erwählungs- und Sendungsbewusstseins der Neuzeit aus der jüdischen Tradition den Einwand erheben, dass das Judentum selbst doch erst mit dem Zionismus zu einer solchen säkularen Auffassung gekommen sei. Zuvor seien diese Motive immer streng religiös verstanden worden, d.h. die Erwählung blieb immer abhängig vom Willen Gottes, und die Sendung bestand darin, die Menschen für Gott zu gewinnen. Der Zionismus sei daher eine – und zwar relativ späte – Folge des nationalen Erwachens der Neuzeit.72 Das Verhältnis von Ursache und Wirkung in Bezug auf das Judentum und die Nation sei somit in gewisser Hinsicht genau umgekehrt! Meine Antwort lautet zunächst, doch die enge Verbindung von Religion und Volk im Judentum nicht zu vergessen. Beide lassen sich nicht so trennen wie im Christentum. Außerdem haben wir doch gesehen, dass schon zwischen Puritanern und Juden des 17. Jahrhunderts eine weitgehende Übereinstimmung im Messianismus und Chiliasmus bestand, die streng religiöse Deutung der Heilsgeschichte also verlassen worden war. Richtig ist hingegen, dass der Zionismus die Säkularisierung noch weitergetrieben hat und in den Zusammenhang des sich bereits entwickelnden Nationalismus gehört. Aber das schließt ja nicht aus, wiederum nach dessen Wurzeln zu fragen.
Man kann die beiden Positionen, die hier skizziert wurden, widersprüchlich vereint studieren an Izchak Baer (1888–1980), einem bedeutenden Historiker an der Hebräischen Universität in Jerusalem. 1936 veröffentlichte er in Berlin, und wohlgemerkt auf Deutsch, ein Buch mit dem Titel Galut (Exil), in dem es heißt: »Da die Juden eine nationale Einheit bilden, und zwar in weit höherem Grade als die anderen Völker, ist es nötig, dass sie wieder zu einer faktischen Einheit werden. (…) Die jüdische Erneuerung der Gegenwart ist ihrem tiefsten Wesen nach nicht von der nationalen Bewegungen Europas bedingt, sondern sie kehrt zurück zu dem uralten jüdischen Nationalbewusstsein, das vor aller europäischen Geschichte da war und ohne dessen geheiligtes, geschichtsgesättigtes Vorbild kein nationaler Gedanke in Europa vorstellbar ist.«73 Zwar übernimmt Baer den objektiven und sehr ausgeweiteten Begriff der Nation aus der deutschen Tradition des 19. Jahrhunderts und ist insofern gerade ein Kind seiner Zeit. Dennoch ist seiner These abzugewinnen, in welchem Maß das jüdische Religionsvolk mit seiner unverwüstlichen Erinnerung und Hoffnung den modernen Nationen als Vorbild gedient hat. Das gilt für England und die USA unmittelbar und inhaltlich. Für andere Nationen gilt es freilich nur mittelbar, sofern sie ihre Nationalität jedenfalls formal nach dem gleichen Muster entwerfen.74
Wenn wir das noch kurz an Deutschland, der »verspäteten Nation«, illustrieren wollen, so müssen wir einen Sprung ins 19. Jahrhundert machen. Hier ist die Herausbildung des Nationalbewusstseins nicht nur mit der schrittweisen Emanzipation der Juden verbunden, sondern auch mit einer sehr weitgehenden jüdischen Identifizierung mit der deutschen Kultur. Die Juden entdecken eine tiefe Verwandtschaft zwischen ihrer Sehnsucht und der Sehnsucht der Deutschen, und es beginnt die einzigartige jüdisch-deutsche Symbiose, die man sehr ernst nehmen muss, gerade weil sie 1933 so brutal beendet wurde. Oft wird betont, dass die Liebe der Juden zur deutschen Kultur recht einseitig gewesen und von den Deutschen kaum erwidert worden sei. Dabei wird aber der tiefere Einfluss verkannt, den die jüdische Tradition in diesem Prozess immer schon ausgeübt hat, die heimliche Liebe sozusagen, die die Deutschen dem Judentum entgegenbrachten. Sie könnte etwa daran abgelesen werden, dass die Deutschen bereits in der Kindheit mit den Geschichten des Alten Testaments vertraut gemacht wurden. Es war wirklich ein Verhältnis der Gegenseitigkeit. Man kann die Symbiose vielleicht am besten an Johann Gottlieb Fichte studieren, dessen Reden an die deutsche Nation (1807/08) als eine Art Programmschrift des deutschen Nationalismus gelten und heute oft verdammt werden. Wie aber reimt es sich damit, dass Fichte zugleich ein Jahrhundert lang »der bevorzugte Philosoph des Judentums« war, »und zwar in allen seinen Schattierungen«?75 Dass Fichte die Deutschen zum auserwählten Volk erklärte, gleichsam zum neuen Israel, störte dabei durchaus nicht, sondern wurde von den deutschen Juden oft sogar freudig aufgegriffen, weil sie darin eine ihrem eigenen Messianismus verwandte Denkweise entdeckten, selbst keine orthodoxen Juden mehr waren oder tatsächlich gute Patrioten sein wollten (wie etwa Ferdinand Lassalle, über den Fichte auf die deutsche Sozialdemokratie einwirkte). Die Fichte-Rezeption konnte freilich auch dazu führen, dass die eigene Tradition neu entdeckt und erschlossen wurde: »Nur weil wir Fichte hatten, fanden wir die entsprechenden Strömungen der jüdischen Kultur (…), verstanden wir erst das Judentum.«76
Bevor ich auf diesen Punkt zurückkomme, sei noch an Heinrich Heine erinnert, der ja, als er an Deutschland dachte, »um den Schlaf gebracht« war, weil er in dieses Land die größten Hoffnungen setzte und an die Herrschaft seines Geistes über die ganze Welt glaubte. Er erkannte eine »innige Wahlverwandtschaft zwischen den beiden Völkern der Sittlichkeit, den Juden und Germanen«, und hielt beide für »auserwählt«. Denn die Sendung Israels sei noch nicht erfüllt, sie könne aber in Deutschland zur Erfüllung kommen. »Auch Letzteres erwartet einen Befreier, einen irdischen Messias (…), und dieser deutsche Befreier ist vielleicht derselbe, dessen auch Israel harret. (…) O teurer, sehnsüchtig erwarteter Messias. (…) O verzage nicht, schöner Messias, der du nicht bloß Israel erlösen willst (…), sondern die ganze leidende Menschheit!«77
Neben dieser Verbindung beider Kulturen, gab die eine aber auch bisweilen den Anstoß zum Wechsel in die andere. Diesen zunächst schwer begreiflichen, ja prinzipienlos erscheinenden Wechsel vom Glauben an das eine Volk zum Glauben an das andere finden wir in extremer Weise bei Arnold Schönberg. Noch 1919 schreibt er an Richard Dehmel: »Wenn ich an Musik denke, so fällt mir nur die deutsche ein.«78 Dabei müssen wir uns die außerordentliche Bedeutung vergegenwärtigen, die die deutsche Musik in der Welt und folglich für das Selbstbewusstsein der Deutschen erlangt hatte. Von daher ist auch Schönbergs berühmte Äußerung aus dem Jahr 1921 nach der Entwicklung der Zwölftonmusik zu verstehen: »Ich habe eine Entdeckung gemacht, durch welche die Vorherrschaft der deutschen Musik für die nächsten hundert Jahre gesichert ist.«79 Auch seine Schüler Alban Berg und Anton Webern waren beseelt vom Glauben an die Vormachtstellung der deutschen Musik in der Welt. In den 1920er Jahren jedoch beginnt Schönbergs Rückkehr zur jüdischen Tradition und entsprechend überträgt er den Erwählungsgedanken auf das Judentum, was sich z.B. an seinem Drama Der biblische Weg von 1926/27 zeigt. Im Juli 1933 tritt er dann förmlich zum Judentum über, was man als verständliche Reaktion auf die Machtergreifung der Nationalsozialisten deuten kann.
Doch Schönberg beschreibt das Verhältnis zwischen Judentum und Nationalsozialismus genau umgekehrt! In gewisser Hinsicht erklärt er, die Juden seien geradezu selbst schuld an dem, was ihnen widerfährt. So heißt es 1933 in einer Rede: Das Judentum habe »bis zu dieser Stunde nicht begriffen, dass der Antisemitismus nicht die Ursache für die Verfolgung der Juden ist, sondern nur die Auswirkung der jüdischen Existenz als ganzer, das Resultat unseres Glaubens, unserer Auserwählung, die Folge all der Eigenschaften, die wir dank unserem Schicksal und unserem Auftrag besitzen, die verständliche Reaktion auf all die Eigenschaften, die überall und immer in Erscheinung treten, wo Juden leben«.80 Der Kampf gegen den Antisemitismus sei daher so sinnlos wie der »Versuch, Regen und Schnee zu bekämpfen, Blitz und Schneesturm, Wirbelsturm und Erdbeben; ein Versuch, Tod und Schicksal zu bekämpfen. (…) Antisemitismus ist natürlich (…)«81, denn die anderen Völker werden das Volk, das sich erwählt weiß, immer hassen. Oder sie werden es imitieren wollen, sich selber eine solche Erwählung zusprechen, wie zurzeit die Nationalsozialisten, deren Rassenlehre nichts als eine Nachahmung der jüdischen Erwählungsidee sei.82 Die Verschärfung des deutschen Antisemitismus wird somit als Herausforderung zu radikaler Selbstbesinnung des Judentums verstanden. Schönberg wechselt nicht von einem Volksglauben zum anderen, sondern wendet sich zurück zum Ursprung des Erwählungsbewusstseins der Völker schlechthin.
Die praktische Schlussfolgerung, die er aus seiner Erkenntnis zieht, ist allerdings nicht zwingend und zeigt sogar, dass er sich von der Fixierung auf Deutschland doch nicht lösen konnte. Sie läuft auf einen höchst militanten und diktatorischen Zionismus hinaus: Gründung einer jüdischen Einheitspartei mit diktatorischer Führung und militärische Rückeroberung Palästinas nach dem Muster der Landnahme der Israeliten, von der oben die Rede war.83 Denn das Zeitalter der Demokratie sei vorüber und die Ideale des Humanismuswidersprächen der mosaischen Religion.84 Das entsprechende Programm hat Schönberg 1938 in den USA formuliert und für seine Publikation die Unterstützung Thomas Manns erbeten. Dieser hat jedoch in freundlich-diplomatischem Ton abgelehnt, wobei in seiner Antwort immerhin der Faschismusvorwurf anklingt. Jedenfalls betont Mann, »dass insbesondere der bedingungslos machtpolitische Standpunkt der besonderen Geistigkeit des Judentums« nicht gut zu Gesichte steht.85
Die ausführlichen Bemerkungen zu Schönberg waren erforderlich, weil sich hier das vertrackte Wechselverhältnis zwischen Judentum und Nationalsozialismus zeigt. Das Dritte Reich ist in der Tat eine späte Nachahmung des erwählten Volkes, aber kann dieses, wie Schönberg zeigt, nicht auch zu einer Nachahmung des Nationalsozialismus werden?
7. Privilegierte Hofjuden im Absolutismus
Schon im Mittelalter waren die Juden nicht nur Verfolgte, sie standen auch unter dem besonderen Schutz des Kaisers bzw. der Könige. Die Verfolgung ging sowohl von kirchlichen Bewegungen, etwa im Kontext der Kreuzzüge, und von der Gesellschaft aus, nicht aber von der Obrigkeit. Diese profitierte vielmehr in beträchtlichem Maße von den Judensteuern und hatte auch ein Interesse daran, eine Gruppierung auf ihrer Seite zu haben, die ihr mehr Gewicht verschaffte, weil sie außerhalb der feudalen Ordnung stand. Das ist nun auch der Hauptgrund, weshalb sich im 17. Jahrhundert das sogenannte Hofjudentum etablieren konnte – ein Phänomen, das angesichts seiner Bedeutung für die Herausbildung des modernen Staats viel zu wenig beachtet wird.
Den Ausgangspunkt für den Wiederaufstieg der Juden in Deutschland bildete der Dreißigjährige Krieg, in dem sie ihre überregionalen Beziehungen nutzten und den Fürsten bei der Versorgung ihrer Söldnerheere halfen.86 In England war es, wie wir sahen, der Bürgerkrieg, der Cromwell dazu brachte, sich für die Wiedereinwanderung der Juden einzusetzen, nicht zuletzt, um seine Armee zu finanzieren!87 Es war also die konfessionelle Spaltung der Christenheit und der Zerfall der alten Ordnung Europas, die dem Judentum eine neue Chance eröffnete.
Diese Chance nahm mit der neuen Wirtschaftspolitik des absoluten Staates, dem Merkantilismus, eine konkrete Gestalt an. Der Merkantilismus sah im Handel, nicht in der Arbeit, die Quelle des Reichtums und verstand unter Reichtum nicht eine Fülle von Gütern, sondern abrechenbares Geld bzw. öffentliche Einnahmen. Diese Annahme passte ausgezeichnet zu den Vorstellungen und Fähigkeiten, die die jüdische Elite entwickelt hatte. Und so besaßen schon Ende des 17. Jahrhunderts fast alle Fürsten einen oder gleich mehrere sogenannte »Hofjuden«, die sich um ihre finanziellen Angelegenheiten kümmerten und dafür reichlich belohnt wurden. »Der Name Hofjude war allgemein, nur in Preußen hießen sie charakteristischerweise ›generalprivilegierte Juden‹. Der Name war keine Übertreibung. Hofjuden genossen alle Privilegien: sie konnten Wohnsitz nehmen, wo es ihnen beliebte, reisen, soweit der Machtbereich ihrer Fürsten reichte, Waffen tragen und speziellen Schutz der lokalen Behörden fordern. Ihr Lebensstil pflegte sehr viel höher zu sein als der des Mittelstandes der Zeit.«88 Die Wiener Familien Wertheimer und Oppenheimer z.B. verfügten über mehrere Paläste und Gärten nicht nur in Wien, sondern zugleich in Worms, Frankfurt und Mannheim.89 Sie übten auch öffentlichen Einfluss aus. So erreichten sie, dass ein bekanntes Sammelwerk aller Argumente des Antijudaismus, Eisenmengers Entdecktes Judentum von 1703, im Habsburger Reich verboten wurde.90 Um noch einige prominente Fälle zu nennen: August der Starke wäre ohne die Kredite seines Hofjuden Behrend Lehmann nicht König von Polen geworden. Er beschäftigte darüber hinaus noch Hoffaktoren aus 35 Frankfurter Familien. Ebenso brauchte Ernst August von Hannover die finanzielle Unterstützung von Lettmann Behrens, um Kurfürst zu werden.91 Friedrich der Große gab seinen Berliner Hofjuden den Auftrag, zur Kriegsfinanzierung Münzmanipulationen vorzunehmen und ließ sie auf diese Weise zu Reichtum kommen.92
Wen wundert es da, dass diese Privilegierten, die aus ihrer ertragreichen Sonderstellung überhaupt kein Geheimnis machten, als Repräsentanten des Judentums genommen wurden und viel Unmut, ja Hass auf sich zogen? Zumal dann, wenn das Volk nicht den Mut hatte, die Fürstenherrschaft selbst in Frage zu stellen! Exemplarisch steht dafür der – im öffentlichen Bewusstsein noch durch den nationalsozialistischen Film Jud Süß verankerte – Stuttgarter Joseph Süß Oppenheimer, der von 1733 bis 1737 eine Art Finanzminister des Herzogs von Württemberg war. Wegen seiner in der Tat rigorosen Methoden der Geldbeschaffung wurde er nach dem plötzlichen Tod des Herzogs verhaftet, angeklagt und schließlich hingerichtet.
8. Das einflussreichste Finanzhaus Europas
Dieses Schicksal wäre ohne den Tod des Herzogs nicht denkbar gewesen, ein Umstand, der noch einmal die politische Abhängigkeit der Hofjuden von den Fürsten offenbart, die wiederum ökonomisch von jenen abhängig waren! Das Verhältnis änderte sich jedoch grundlegend nach der Französischen Revolution und den Napoleonischen Kriegen, und diese Veränderung zeigte sich exemplarisch am sagenhaften Aufstieg der Familie Rothschild zum reichsten und einflussreichsten Finanzhaus Europas. Dessen Staatsnähe bestand nun in einer bemerkenswerten Nähe zu mehreren, ja sogar zu den wichtigsten europäischen Staaten zugleich, und in der Öffentlichkeit entstand der Eindruck, dass deren Oberhäupter vor den Rothschilds fast auf den Knien lagen.
Der Gründer des Familienunternehmens Mayer Amschel Rothschild stammte aus der Frankfurter Judengasse, war dann zunächst Hofjude beim hessischen Kurfürsten, bis er sich selbstständig machte und sein Geschäft mit Hilfe seiner fünf Söhne bewusst international ausbaute, indem er sie in Frankfurt, Paris, London, Neapel und Wien gleichzeitig platzierte. Den entscheidenden Durchbruch erzielte die Firma schließlich dank britischer Staatsaufträge im Krieg gegen Napoleon: wesentlich war die finanzielle Versorgung der Armee Wellingtons auf dem Kontinent und der Transfer der Hilfsgelder für Preußen und Österreich.93 Nach dem Krieg war der Finanzbedarf der Staaten gewaltig und wurde durch die Ausgabe von Staatsanleihen gedeckt. Diese Aufgabe musste wieder Rothschild übernehmen, denn die Anleihen wurden von den Leuten nur gezeichnet, wenn eine kapitalstarke Bank sie garantierte.94
Was war nun charakteristisch für die Rothschilds?
Erstens natürlich der irrsinnige und offen zur Schau gestellte Reichtum, den man in Beziehung setzen muss zum furchtbaren proletarischen Elend, das sich gerade in dieser Phase des Kapitalismus ausbreitete. »Reich wie Rothschild« wurde zum geflügelten Wort. Viele Sozialisten, besonders in Frankreich, waren daher zugleich antijüdisch eingestellt, weil sie dieses in der Tat dominierende jüdische Kapital als repräsentativ für das Kapital überhaupt ansahen.
Zweitens waren die Rothschilds aber ein Phänomen der Restauration und insofern gerade nicht repräsentativ für den aufsteigenden Kapitalismus. Das wird schon deutlich an ihrer Nähe zu den Herrschern der Restaurationszeit, besonders zu den Habsburgern, während sie mit den aufstrebenden Industrien eher wenig zu tun hatten – immerhin war die österreichische Eisenbahn in ihrer Hand. Sie galten als die »Großschatzmeister der Heiligen Allianz«95 und wurden schließlich geadelt. Den erste, ihnen gewidmete Eintrag im Brockhaus von 1827 hat kein Geringerer als Friedrich von Gentz, der Berater Metternichs, im Auftrag der Familie verfasst.96 Mit ihrer Nähe zu den Königshäusern provozierten sie letztlich auch den liberalen Antisemitismus, der aber erst im späten 19. Jahrhundert zu einer wichtigen Kraft wurde, was man an Georg Schönerer, dem Führer der Liberalen in Österreich, gut studieren kann.97 Dass Schönerer dann Hitler stark beeinflusst hat, ist bekannt.
Die Verbindung der Rothschilds mit der Politik der Restauration wird auch daran deutlich, dass sie gegen die allgemeine Judenemanzipation waren, weil sie um ihre Privilegien fürchteten.98 Das scheint zunächst paradox, wird aber sofort verständlich, wenn wir uns an das erinnern, was wir oben über die Klassenspaltung innerhalb des Judentums festgestellt haben. Insofern ist es natürlich missverständlich, von »den Juden« zu sprechen – wie bei allen anderen Völkern auch.
Nun war bei der rechtlichen Gleichstellung der Juden die Konversion zum Christentum oder die Reduktion des Judentums auf ein privates Bekenntnis erforderlich. Daher war es nur konsequent, dass die Rothschilds es auch selbst ablehnten, zum Christentum überzutreten, vielmehr auf ihrem Judesein beharrten, und zwar nicht nur im religiösen, sondern auch im »völkischen« Sinne. So wurde Lionel Rothschild mehrmals ins britische Parlament gewählt, konnte jedoch seinen Sitz nicht einnehmen, weil er es ablehnte, den traditionellen Eid auf »den wahren christlichen Glauben« zu schwören – bis er es 1858 erreichte, dass die Eidesformel geändert wurde.99 Dass sie ihr Judentum auch als Volkszugehörigkeit begriffen, wurde an ihrer entschiedenen Aversion gegen die Mischehe sichtbar, selbst wenn sie gesellschaftlichen Aufstieg versprach.100 Erst im späteren 19. Jahrhundert änderten die Rothschilds ihre Heiratspolitik, indem nun die Töchter nichtjüdische Adlige heiraten durften und nur die Söhne rein jüdisch bleiben mussten.101
Dass die Rothschilds so kompromisslos auf ihrem Judentum bestanden, lässt sich am besten aus dem Geist der Restauration erklären. Nach den Wirren, die die Aufklärung und die Französische Revolution mit sich gebracht hatten, sollten endlich alte, »echte« Religiosität, Frömmigkeit und Ordnung wiederhergestellt werden. Und war nicht gerade das Judentum eine bewundernswerte und außerordentlich stabile Gestalt einer solchen Frömmigkeit? Während die inhaltlichen Unterschiede der Konfessionen und Religionen an Bedeutung verloren, gab es demnach nicht nur eine Restauration des Christentums, sondern auch eine des Judentums.
Über die Nähe der jüdischen Eliten zur Geldwirtschaft braucht nach dem, was wir gesehen haben, wohl kein Streit mehr zu herrschen. Um aber noch einige glanzvolle Namen der Zeit nach den Rothschilds zu erwähnen: Bleichröder, der Bankier Bismarcks, vom Kaiser geadelt; Warburg, der Mitgründer der Commerz- und Disconto-Bank, mit wichtigen Beziehungen in die USA; oder Gutmann, Vorstandsvorsitzender der Dresdner Bank, einer der ersten Aktienbanken; in den USA wäre Seligman zu nennen, der die Nordstaaten im Bürgerkrieg finanzierte; auch Goldman-Sachs und Lehman Brothers, die ja in der letzten Finanzkrise wieder unser Interesse weckten.102 Nicht die Tatsache der Nähe zum Geldhandel kann strittig sein, nur ihre Bewertung. So heißt es in einem etwas übereifrigen Buch aus der Zeit der »New Economy«: »Wer dem Klischeebild vom Geldjuden das Gegenbild des gottesfürchtig-gütigen Rabbiners oder des anthroposophischen jüdischen Aufklärers entgegenstellt; wer krampfhaft versucht zu beweisen, dass auch die Juden »Kultur« haben, kapituliert vor der Logik der Antisemiten. Dem Judenhass kann man nur die Stirn bieten, wenn man sich entschieden zum ›Geldjuden‹ und zu seinen für Europa wegweisenden Leistungen bekennt.« Als »die lapidarste und zugleich genaueste Definition Europas« wird dann bekanntgegeben: »Europa ist Rothschild«.103 Wie so oft bleibt dabei im Eifer des Gefechts die Logik auf der Strecke: Dem Klischeebild kann man also nur begegnen, indem man sich zu ihm als zutreffend bekennt? Dem Judenhass kann man also nur die Stirn bieten, indem man ihn bestätigt? Bei weniger eifernden Autoren geht es zunächst um die Frage, wie viele Banken denn in jüdischem Besitz waren, so dass der Beweis der Nähe erst dann erbracht wäre, wenn es sich um eine deutliche Mehrheit handelt. Das war aber in Deutschland und Österreich vor dem Ersten Weltkrieg tatsächlich der Fall. 79 % der Privatbankiers in Deutschland waren Juden, und die Wiener Banken wurden zu 80 % von jüdischen Direktoren geleitet.104 In Frankreich und England war der Anteil weit geringer, er lag bei 20 % bzw. 7 %, was man als einen Grund für den schwächer ausgeprägten Antisemitismus ansehen kann.105 Noch überzeugender wird der Beweis, wenn wir die deutschen 79 % ins Verhältnis zum Bevölkerungsanteil der Juden setzen, der um die Jahrhundertwende nur rund 1 % betrug. Selbst wenn der Bevölkerungsanteil z.B. 10 % oder der Anteil der jüdischen Banker nur 37 % betragen hätte, wäre deren Zahl immer noch überproportional hoch. Ein weiterer Vergleich: Rund 50 % der jüdischen Beschäftigten waren im Handel und Bankwesen tätig, aber nur knapp 11 % der Gesamtzahl der Beschäftigten in Deutschland.106
Aber diese statistischen Erörterungen führen erst hin zum entscheidenden Punkt. Denn es ging in den damaligen Debatten z.B. zwischen Werner Sombart und Max Weber nicht um diese quantitativen Fragen, sondern um die Frage nach einer Wesensverwandtschaft zwischen dem Geist des Finanzkapitalismus und der jüdischen Ethik bzw. um die Frage nach dem ideellen Ursprung des Finanzkapitalismus. Wenn es aber zutraf, dass jüdische Verhaltensmuster von anderen Nationen längst übernommen worden waren und weiter Schule machten, dann war gar nicht mehr zu erwarten, dass eine Mehrheit der Finanzhäuser in jüdischer Hand sein würde. Deswegen ist das auch heute nicht mehr der springende Punkt.
9. Einer der ersten Rassentheoretiker wird zum mächtigsten Mann der Welt
Als wir vom Geist der Restauration sprachen, befanden wir uns auch schon ganz nah am Rassegedanken! Lassen wir seine spätere pseudowissenschaftliche Ausgestaltung beiseite, so erscheint er zuerst als ein Produkt der Restaurationszeit, und zwar noch vor Gobineau bei Benjamin Disraeli (1804–81), dem beliebten Schriftsteller und späteren britischen Premierminister.107 Er war mit den Rothschilds nicht nur eng befreundet, sondern sah genau in ihnen das Symbol der jüdischen Rasse, die aufgrund ihrer Reinheit und Überlegenheit nicht untergehen könne.






