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Die Zionisten gründeten schon im August 1914 ein Komitee für den Osten, weil sie davon ausgingen, dass ein Sieg über das Zarenreich endlich die Befreiung der osteuropäischen Juden ermöglichen würde. »Es war die Absicht, die Kenntnisse und Beziehungen der Begründer zu den Ostjuden und den Juden in Amerika der deutschen Regierung zur Verfügung zu stellen, so zur Niederringung des zaristischen Russland beizutragen und den Juden im Osten die Bürgerrechte und die nationale Autonomie sicherzustellen. Zur Aufklärung der Bevölkerung im besetzten Gebiete wurde die Zeitschrift Kol Mevasser (Die Stimme des Verkünders) herausgegeben. Ein Vertreter des Comité wurde nach Amerika entsandt, wo er bis zum Ausbruch des deutschamerikanischen Krieges gewirkt hat.«144 Das Komitee arbeitete also eng mit den deutschen Behörden zusammen und sorgte z.B. für die Verbreitung deutscher Propaganda in den besetzten Gebieten. Von den Russen wurden die Juden daher als fünfte Kolonne der Deutschen betrachtet und behandelt. Umgekehrt beseitigte die deutsche Besatzungsmacht tatsächlich die diskriminierenden Gesetze des Zarenreichs und setzte sich auch gegenüber dem Osmanischen Reich für das zionistische Anliegen ein.
Es waren hauptsächlich zwei Ereignisse, die das gute Verhältnis zwischen Juden und Deutschen schließlich zerstören sollten: die sogenannte »Judenzählung« in Deutschland (1916) und die Balfour-Deklaration der Alliierten (1917). Da es sich einerseits um ein innerpolitisches, andererseits ein außenpolitisches Ereignis handelt, ist schwer zu entscheiden, was letztlich den Ausschlag gab.
Das Jahr 1916 war ein schlechtes Kriegsjahr für die Mittelmächte. Vor Verdun waren sie mit ungeheuren Opfern gescheitert, die britische Offensive an der Somme hatte zu weiteren schweren Verlusten geführt und eine russische Großoffensive hätte beinahe den Zusammenbruch des österreichisch-ungarischen Heeres gebracht. Die Kampfmoral und Disziplin der Soldaten sank, weil das Ausharren im Stellungskrieg zunehmend als sinnlos empfunden wurde. So kam statt des »Helden« der »Drückeberger« in den Blick, und hier setzte die antisemitische Hetze ein, die besonders die Juden der Drückebergerei verdächtigte. Daraufhin wurde im November 1916 eine statistische Erhebung über deren Beteiligung am Militärdienst angeordnet. Die Ergebnisse bestätigten den Verdacht keineswegs145 und wurden auch nicht veröffentlicht, aber der Vorgang der »Judenzählung« als solcher hat gerade die integrationsbereiten Juden, wie könnte es anders sein, zutiefst beleidigt.
In der Balfour-Deklaration vom 2. November 1917 versprach der britische Außenminister bekanntlich den Juden eine »Heimstatt« in Palästina. Die militärische Ausgangslage war aber in gewisser Hinsicht umgekehrt, denn jetzt befanden sich die Alliierten im Nachteil. Im Osten zeichnete sich ab, dass die Russen nach der letzten gescheiterten Offensive den Krieg nicht mehr weiterführen konnten und wollten. Im Fall eines Waffenstillstands, der im Dezember 1917 dann auch von der neuen russischen Revolutionsregierung abgeschlossen wurde, würden aber deutsche Armeen für die Westfront frei werden! Und da die Amerikaner zwar in den Krieg eingetreten, aber noch nicht präsent waren, konnte das die endgültige Niederlage der Alliierten bedeuten. Abgesehen von strategischen Überlegungen in Bezug auf den Suezkanal ging es angesichts dieser dramatischen Situation jetzt darum, die Juden in aller Welt für die eigene Sache zu gewinnen. Da viele mittel- und osteuropäische Juden bisher den Mittelmächten zugeneigt waren, war man von der Bedeutung des deklarierten Angebots überzeugt. »Ich glaube«, so der britische Diplomat Robert Cecil, »dass man die internationale Macht der Juden schwerlich übertreiben kann.«146 Seit dem Frühjahr 1918 nahm die jüdische Presse dann in der Tat nicht mehr Partei für Deutschland, sondern für die Alliierten.147 Dieser »Frontenwechsel« war offenbar so weitgehend gelungen, dass die Antisemiten in Deutschland die Umorientierung der Juden auch nach dem Krieg als Bestätigung ihrer Ansichten verstehen konnten (»Die Juden haben uns verraten«). Dieses Umschwenken war aber nichts anderes als die schon von Herzl betriebene Realpolitik. Um als Schwächerer Erfolg zu haben, musste man herausfinden, wer der Stärkste war und dessen Unterstützung gewinnen. Das Verhältnis von Stärke und Schwäche war zwar im Frühjahr 1918 noch nicht leicht zu bestimmen und insofern war der jüdische Wechsel zu den Alliierten kluge Voraussicht. Er wurde aber zweifellos »erleichtert« durch eben jene unsinnige »Judenzählung«. Auch die Juden konnten jedenfalls behaupten, Recht zu haben mit ihrer Entscheidung, obwohl sie eigentlich machtpolitisch motiviert war. Bedenkt man schließlich, dass die Engländer ihr Versprechen gar nicht gehalten haben, so zeigt sich, dass »Realpolitik« vielleicht doch nicht so klug ist, wie sie erscheint. Den letzten Anstoß zur jüdischen Umorientierung gab dann wohl die deutsche Niederlage, denn sie setzte der so enthusiastisch gepriesenen deutschen Menschheitsmission ein Ende. Auf der ideellen Ebene kann man das etwa an dem schon erwähnten Franz Rosenzweig beobachten, der ein Schüler Hermann Cohens war, sich aber 1918 deutlich von den Ansichten seines Lehrers abwandte. Cohens Ansatz von 1915, nach überstandenem Krieg müsse Deutschland mit seiner Philosophie und Kultur der »Erziehungsgeist der Völker« sein, fehlte mit dem Ausgang des Krieges jede Substanz. Umgekehrt fand Rosenzweig jetzt, dass die Assimilation die Juden in beschämender Weise ihrer eigenen Tradition entfremdet habe und das Ziel einer spezifisch jüdischen Erziehung darin bestehen müsse, gerade das Trennende, Besondere gegenüber der deutschen Kultur hervorzuheben.148 Das Eigenartige ist allerdings, dass diese Abgrenzung auf jüdischer Seite nun wieder in Kategorien erfolgt, die damals auch im Denken der Deutschen zu dominieren beginnen: Volk, Blut, Rasse. Die Frage an unsere Fachhistoriker lautet daher: Besteht denn nicht eine Parallele bzw. Wechselwirkung zwischen dieser Rückbesinnung der Juden auf ihre Tradition, dieser »jüdischen Renaissance« und dem erstarkenden Antisemitismus in Deutschland?
13. Zweierlei Boykott und das Haavara-Abkommen
Wir nähern uns jetzt der Phase der deutsch-jüdischen Geschichte, die uns am meisten zu schaffen macht. Schon beim letzten Punkt hatten wir das Problem, das streitende Kinder immer haben, wenn sie sich wieder versöhnen sollen: Wer hat denn »angefangen«? Erfahrene Eltern werden sich auf diese Frage gar nicht einlassen, sondern stillschweigend davon ausgehen, dass nicht bloß beide ihren Anteil an Schuld haben, sondern dass zwischen beiden etwas nicht stimmt. So werden sie den Zerstrittenen am besten eine neue gemeinsame Aufgabe stellen, die sie fasziniert. In ähnlicher Weise müssten auch die Historiker verfahren, aber der Holocaust verleitet sie dazu, uns die Juden immer als Märtyrer, Heilige oder Schafe vorzustellen, die sich brav zur Schlachtbank führen lassen; und die Nazi-Deutschen als Herrenmenschen, die ohne Gründe, aus Verblendung oder reiner Willkür darauf aus sind, Juden umzubringen. Eine solche Geschichtsbetrachtung geht jedoch an der wirklichen Geschichte vorbei. Es gab sehr wohl einen organisierten jüdischen Kampf und einen entsprechenden Druck auf die Nationalsozialisten.
Auch historisch Informierte wissen meist nur, dass es am 1. April 1933 auf Geheiß der Nationalsozialisten einen Boykott jüdischer Geschäfte gab, verbunden mit üblen Ausschreitungen. Sie wissen aber meist nicht, dass diese Aktion eine Reaktion darstellte und zwar auf den weltweiten Boykott deutscher Exportgüter, den der »American Jewish Congress« im März 1933 propagiert hatte und der auf den ökonomischen Zusammenbruch des Nationalsozialismus zielte! »Lasst uns Deutschland diesen Winter in die Unterwerfung hungern!«, lautete die Losung.149 Der Boykott wurde zwar nur teilweise befolgt, etwa in Osteuropa, und so das Ziel nicht erreicht; immerhin aber sank der deutsche Export in die USA bis 1937 noch unter den Tiefstand, den schon die Weltwirtschafskrise bewirkt hatte.150 Natürlich kann man diesen Boykott aufgrund der antisemitischen Gesetze der Nationalsozialisten als berechtigt ansehen. Doch selbst andere jüdische Organisationen wie das »American Jewish Committee«, das vom oben genannten »Congress« zu unterscheiden ist, waren durchaus nicht von der Sinnhaftigkeit des Boykotts überzeugt, sondern setzten auf Deeskalation.151 Wir wissen aus unserer Erfahrung, so in Bezug auf den Irak, dass solche Sanktionen meist gerade nicht diejenigen treffen, die sie treffen sollen, sondern nur die ohnehin unterdrückte und ärmere Bevölkerung. Im Irak trafen die Sanktionen bekanntlich eine halbe Million Kinder, die wegen fehlender Medikamente sterben mussten. In Deutschland kamen nun die Sanktionen zu den Folgen der Wirtschaftskrise noch verschärfend hinzu!
Von Seiten der nationalsozialistischen Regierung gab es noch eine weitere Reaktion auf den Handelsboykott, die allerdings wieder kaum bekannt ist. Die Rede ist vom sogenannten Haavara-Transfer-Abkommen, das am 7. August 1933 zwischen Vertretern der »Jewish Agency«, der Zionistischen Vereinigung für Deutschland und dem Reichswirtschaftsministerium abgeschlossen wurde.152 »Das Abkommen erleichterte deutschen Juden die Ausreise nach Palästina, indem es ihnen ermöglichte, Teile ihres Vermögens zu transferieren. Das Vermögen war auf ein Treuhandkonto einzuzahlen, um in Form deutscher Waren nach Palästina exportiert und dort in lokaler Währung wieder an die Emigranten ausgezahlt zu werden.«153 Das war eine gegenüber den bis dahin geltenden Bestimmungen für Auswanderer großzügige Regelung. Bis 1939 konnten auf diese Weise 52 000 Juden154 aus Deutschland nach Palästina übersiedeln, es wurden gleichzeitig Werte im Umfang von 140 Millionen Reichsmark transferiert. Eine spätere Untersuchung kommt zu dem Schluss, dass es ohne diesen Zuzug kluger Menschen und den beträchtlichen Strom von Kapital wohl niemals einen Staat Israel hätte geben können.155 Somit hat die nationalsozialistische Politik paradoxerweise dazu beigetragen, das Versprechen der Balfour-Deklaration von 1917 gegen den britischen Willen einzulösen. Und so verläuft die wirkliche Geschichte!
Das Hauptinteresse der deutschen Regierung bestand jedoch darin, den weltweiten jüdischen Boykott zu unterlaufen, und zwar nicht bloß durch die Erweiterung des Exports ausgerechnet nach Palästina, sondern auch durch die ideelle Wirkung des Abkommens auf die Juden in aller Welt.156 Dieser Effekt wurde in gewissem Sinne auch erreicht, denn es kam zu leidenschaftlichen Auseinandersetzungen zwischen Befürwortern und Gegnern des Abkommens – bis hin zum Mord an Chaim Arlosoroff, einem Vertreter der »Jewish Agency«, der das Abkommen mit vorbereitet hatte.157 Die einen sahen keinen besseren Weg, um den deutschen Juden zu helfen, und erkannten den wirtschaftlichen Gewinn für den Aufbau in Palästina. Die anderen bestanden auf Einhaltung des Boykotts und sprachen von einem »Pakt mit dem Teufel«. Auf dem Zionistenkongress in Luzern 1935 stimmte die Mehrheit jedoch der Vereinbarung zu. Als ihre Durchführung 1938 aus verschiedenen Gründen schwierig wurde, war es Hitler persönlich, der ihre Fortsetzung verlangte. Im Januar 1939, also nach dem Novemberpogrom von 1938, kam es auch zu einer neuen Übereinkunft, die aber nicht umgesetzt wurde, weil »Detailfragen« nicht geklärt werden konnten.158 Die Rettung von Menschenleben ist demnach an Detailfragen gescheitert! Wer trägt die Schuld?
Ergänzend sei daran erinnert, dass es natürlich unzulässig ist, die deutsche Politik gegenüber den Juden vor dem Krieg gleichsam als bloße Vorgeschichte des Holocaust zu deuten. Ihr Ziel war eindeutig die Auswanderung, nicht die Vernichtung. Es gab sogar starke Sympathie für die zionistische Bewegung! 1933 schrieb der nationalsozialistische Publizist, Jurist und spätere Professor für Geschichte Johann von Leers, der Grundgedanke der Zionisten sei »gesund und berechtigt«. Würden die Juden unter Aufgabe ihrer Weltherrschaftspläne wirklich in Palästina und anderen Kolonien zu »Pflug, Hacke und Sense« greifen, dann würden die schärfsten Antisemiten ihre Kampfschriften »im Freudenfeuer verbrennen«. Und weiter: »Wir haben – bei allem Radikalismus – niemals den Kampf gegen das Judentum geführt, um das jüdische Volk zu vernichten.«159 Fast spiegelbildlich wollten die Zionisten den Antisemitismus durchaus nicht bekämpfen, sondern begriffen ihn – wie wir oben sahen – als Herausforderung für die Juden, endlich auch zu politischer Selbstständigkeit zu kommen. Im außenpolitischen Realismus stimmten beide Seiten also zunächst durchaus überein und zum Teil sogar in dessen rassistischer Fundierung. Das Problem, das in dieser Übereinstimmung steckte, war freilich die geringe Reichweite und Tragfähigkeit eines solchen »Internationalismus der Nationalisten«. So wäre die »Sympathie« der Nationalsozialisten sicherlich geringer gewesen, hätte es sich nicht um ein kleines, weit entferntes Land gehandelt, sondern um einen gerüsteten Staat mit eigenen, womöglich entgegengesetzten Interessen.
14. Wie der Holocaust instrumentalisiert wird
Über den Holocaust selbst werde ich schweigen, denn das scheint schon bezogen auf die Möglichkeiten, die uns die Sprache bietet, das Beste. Zum Streit der Historiker über die unmittelbaren Ursachen und die historische Einordnung des Geschehens werde ich in den »Notizen« weiter unten noch etwas sagen. Allerdings trägt schon die Debatte der Historiker und noch mehr die öffentliche Behandlung des Themas bestimmte Züge, die einem zu denken geben müssen. Hat das, was da gesagt oder dargestellt wird, überhaupt etwas mit dem, was geschehen ist, zu tun?
Zwei Tatsachen fallen besonders auf: Die »Aufarbeitung« dieser bedrückenden Vergangenheit setzt erst rund 30 Jahre später ein und sie geht hauptsächlich von den Vereinigten Staaten aus, weniger von den Deutschen selbst. Nun fallen uns sicher gleich einige Gründe dafür ein, auf die wir auch noch eingehen werden. Zunächst ist der Sachverhalt aber durchaus ungewöhnlich, weil historische Erschütterungen im Allgemeinen gleich nach ihrem Ende die Menschen am stärksten beschäftigen, um dann im öffentlichen Bewusstsein eine geringere Rolle zu spielen und schließlich aus ihm zu verschwinden. Der amerikanische Historiker Peter Novick hat sich mit diesem paradoxen Sachverhalt befasst und kommt zu dem Ergebnis, dass es in der deutschen Nachkriegsgeschichte und in den USA offenbar ähnlich gewesen ist: Zwar wurde z.B. über die Konzentrationslager berichtet, aber dabei wurden die Juden keineswegs besonders hervorgehoben, sondern galten als Opfer unter anderen. »Nichts also verknüpfte sie mit dem, was heute als ›der Holocaust‹ bezeichnet wird.«160 Novick hat sogar festgestellt, dass dieses »Beschweigen« in jenen Jahren auch von den Juden selbst praktiziert wurde und oft gar nicht so tiefe Ursachen hatte, wie wir vielleicht vermuten. So habe David Ben Gurion versucht, die Bedeutung des Völkermords herunterzuspielen, weil er sich Sorgen machte, dass für die Besiedelung Israels nicht mehr genug Leute vorhanden sein würden. Und die wichtigsten jüdischen Organisationen in den USA stimmten nach dem Krieg dreimal gegen den Vorschlag, in New York ein Denkmal für die ermordeten Juden zu errichten, weil sie befürchteten, von ihren Mitbürgern dann nur noch als Opfer angesehen zu werden. Ein »ewiges Denkmal der Schwäche und Wehrlosigkeit des jüdischen Volkes« sei nicht in ihrem Interesse.161
Diese Haltung änderte sich erst mit dem Sechstagekrieg (1967) und zumal mit dem Jom-Kippur-Krieg (1973) – allerdings, wie wir gleich hinzufügen müssen, keineswegs grundlegend. Denn in diesen Kriegen zeigte sich zwar einerseits die anhaltende Gefährdung Israels, andererseits aber auch seine beeindruckende Stärke und Wehrhaftigkeit. Nach den militärischen Siegen konnte man die bisherige Verlegenheit und Scham hinter sich lassen und zu einem neuen nationalen Selbstbewusstsein kommen. So entstand kurz nach dem Krieg 1973 die Bewegung der »Gusch-Emunim« (Block der Gläubigen), die an die Stelle des Rechtsbegriffs »Staat Israel« den biblischen Begriff »Eretz Israel«, also »Land Israel« setzte, die militärische Gebietseroberung auf den Alten Bund zwischen Gott und dem erwählten Volk zurückführte und mit der illegalen Besiedlung dieser Gebiete begann.162 1977 wurde dann die seit der Staatsgründung regierende Arbeiterpartei erstmals durch den konservativen Likud-Block abgelöst.
Das jüdische Volk war gleichsam wieder auferstanden, und nun war es möglich, mit dem Holocaust »etwas anzufangen«, ihn nämlich als negative Folie und Voraussetzung dieser nationalen »Auferstehung« zu interpretieren, als »Kreuzigung«, die der Auferstehung vorausgegangen war.163 Mit anderen Worten: Dem Holocaust wurde jetzt ein »Sinn« zugesprochen im Rahmen einer Heilsgeschichte, die von der säkularen Geschichte des Staates gar nicht mehr zu unterscheiden war. Zu dieser geschichtlich-übergeschichtlichen Logik passte es auch, dass der Holocaust nicht bloß als Ereignis der Vergangenheit, sondern als immer noch gegenwärtige Bedrohung gedeutet werden konnte. So hat Menachem Begin, israelischer Ministerpräsident von 1977 bis 1983, die Palästinensische Befreiungsbewegung (PLO) als »neonazistische Organisation« bezeichnet,164 später galt Saddam Hussein als neuer Hitler und nahm andererseits der iranische Ministerpräsident den Ball auf, indem er den Holocaust glatt leugnete.
Wenn aber der Nationalsozialismus eine noch gegenwärtige, lebendige Bedrohung ist, dann – so könnte man schließen – müsste es eigentlich auch die jüdische Rasse noch geben, sonst liefe der Nationalsozialismus ja ins Leere, weil ihm sein spezifischer Feind fehlt. Wir vermeiden diese Schlussfolgerung, weil wir von der Rassenlehre schlicht nichts halten und der Meinung sind, dass sie spätestens seit 1945 bzw. seit der UNESCO-Erklärung von 1950 wissenschaftlich erledigt ist. Das sieht jedoch ein beachtlicher Teil der Wissenschaft in Israel anders!
Zahlreiche israelische Wissenschaftler halten diese Fiktion weiterhin aufrecht – in den 1960er Jahren eher noch unauffällig, seit den 1970er Jahren jedoch ganz offen. Eine Professorin der Universität Tel Aviv hat 1980 geschrieben: »In den Siebzigerjahren wurden viele neue Arbeiten auf dem Gebiet der anthropologischen Genetik der Juden veröffentlicht, Arbeiten, die vor allem Fragen stellen wie ›Was ist die Herkunft des jüdischen Volkes?‹ und ›Existiert eine jüdische Rasse?‹ (…) Eines der klaren Ergebnisse ist die genetische Nähe von nordafrikanischen, irakischen und aschkenasischen Juden. In den meisten Vergleichsstudien stellen sie eine Einheit dar, während die Nichtjuden (Araber, Armenier, Samaritaner und Europäer) ihnen fernstehen.«165 An den Hochschulen kam es zur Gründung einer neuen Disziplin, der »Genetik der Juden«, und Israel wurde führend in der biologischen Erforschung der Herkunft von Bevölkerungsgruppen. Die Suche nach dem »jüdischen Gen« wurde forciert und das öffentliche Interesse daran nahm ständig zu. »Zum Ende des 20. Jahrhunderts hin wusste jeder Durchschnittsisraeli, dass er zu einer einheitlichen Blutsgemeinschaft gehörte, die einen mehr oder weniger homogenen, tief in der Vergangenheit liegenden Ursprung hat.«166 Warum entlarvt die israelische Wissenschaft, jedenfalls ein dominierender Teil von ihr, nicht mit Entschiedenheit diese »Idee«, die ja in der arabischen Umwelt tatsächlich eine gewisse Rolle spielt, sondern pflegt sie selber? Folgt die Wissenschaft damit dem zionistischen Schema, das wir schon kennengelernt haben und demzufolge der Antisemitismus nicht bekämpft, sondern als Herausforderung angenommen wird? Braucht Israel eine echte Bedrohung, um daraus seine Helden-Identität zu gewinnen? Oder glaubt man umgekehrt tatsächlich daran, derart biologisch »auserwählt« zu sein und fühlt sich von den Nichterwählten bedroht? Wir wissen es nicht. Wir wissen nur, dass Frieden so nicht zustande kommt.
Auch in den USA führte die Begeisterung für das heldenhafte Israel zu einer Verschmelzung von Solidaritätsbekundung und religiösem Bekenntnis.167 Aufgrund der puritanischen Tradition und des wachsenden Fundamentalismus konnten sich auch die Christen dieser Koppelung leicht anschließen. So wurde »der Holocaust« zum festen Bestandteil der amerikanischen Zivilreligion und bald ausgeweitet zum Symbol für das Böse schlechthin, dem die guten USA mit Israel an ihrer Seite bekanntlich immer entgegentreten.168 Seitdem muss jeder in der Welt aufpassen, dass er nicht als Neonazi oder Antisemit entlarvt wird. Nach einer Umfrage aus dem Jahre 1995 scheinen die US-Amerikaner auch weit besser über den Holocaust Bescheid zu wissen als über Pearl Harbour oder die Atombombenabwürfe auf Japan.169 Man spricht inzwischen sogar von einer ganzen Holocaust-»Kultur« und Holocaust-»Industrie«, so Norman Finkelstein in einem Interview aus dem Jahr 2002, denn mit der Präsentation dieses »sensationellen« Verbrechens lässt sich natürlich – wie mit harten Krimis – auch viel Geld verdienen.
In Deutschland schließlich hatte es zwar schon die Auschwitz-Prozesse von 1963–65 und das darauf bezogene Theaterstück Die Ermittlung von Peter Weiss gegeben (1965), aber im Gegensatz zu derart anspruchsvollen oder wissenschaftlichen Veröffentlichungen zum Thema170 erreichte erst die in Deutschland 1979 ausgestrahlte Fernsehserie Holocaust eine breite Wirkung in der Bevölkerung. 1968 besuchten nur 471 Schulgruppen die Gedenkstätte des KZ Dachau, Ende der 1970er Jahre waren es dagegen mehr als 5 000.171 Die Serie war allerdings ein typisches Produkt des kommerziellen US-Fernsehens bzw. eben jener »Holocaust-Kultur«. Namhafte deutsche Regisseure wie Hans-Jürgen Syberberg und Edgar Reitz erhoben daher Einspruch gegen diese Art der Beeinflussung der Deutschen. Hier würden sie ihrer Geschichte beraubt, anstatt sich mit ihr auseinandersetzen zu können.172 Der Vorgang wiederholte sich in gewisser Hinsicht in den 1990er Jahren mit Daniel Goldhagens Buch Hitlers willige Vollstrecker (1996). Es wurde schnell zum Bestseller, aber die Fachhistoriker distanzierten sich weithin. Gegen Ende der Debatte um das Buch stellte Hans Mommsen zugespitzt fest: »Mir ist jetzt klarer, warum die Deutschen Hitler gewählt haben«, die Zustimmung zu Goldhagen sei als »Zeichen eines neuen Irrationalismus« zu werten, als »verdrehtes Nationalgefühl, das sich über Schuldbekenntnisse artikuliert«.173
15. Funktionen des Symbols »Holocaust« seit dem Umbruch der 1970er Jahre
Was sind nun die Gründe dafür, dass der Holocaust erst nach etwa 30 Jahren zum öffentlichen Thema wurde und seine Thematisierung hauptsächlich von den USA ausging? Eine naheliegende Erklärung ist, dass die Deutschen ihre Schuld zunächst gar nicht erkannt, sie bagatellisiert oder geleugnet haben, weil sie noch in der nationalsozialistischen Ideologie befangen waren oder weil sie sich so verhielten, wie die meisten Menschen, denen es ja auch nicht leichtfällt, eine Schuld einzugestehen. Diese Erklärung trifft sicher zu, sie reicht jedoch nicht aus! Denn wir sahen ja, dass die Amerikaner ebenfalls kein Interesse zeigten, die besondere Bedeutung der Judenvernichtung zu betonen, und dass die Juden selbst den Holocaust als peinliche Niederlage empfanden. Etwas abgewandelt lautet die Erklärung, dass die Schuld zunächst »verdrängt« wurde, weil sie zu groß und ungeheuerlich war. Demnach müsste sie aber im Unbewussten weitergewirkt haben, sich in psychischen Erkrankungen gewaltsam Ausdruck verschafft haben, bis schließlich die USA gleichsam als Psychiater sich der geplagten Deutschen annahmen und eine analytische Behandlung einleiteten! Doch dies nur als wenig überzeugende Karikatur.
Eine weitere These besagt, dass es sich in der Nachkriegszeit um ein sozusagen normales, gesundes Vergessen der Schuld handelte, weil man nach dieser Katastrophe ja zunächst ganz andere Probleme hatte, ums Überleben kämpfen und die Wirtschaft wieder aufbauen musste. Das klingt zwar plausibel, aber ist die US-amerikanische Politik wirklich so weise gewesen, diesen Umstand zu berücksichtigen und ist erst dann, als die deutsche Wirtschaft wieder in Schwung war, mit ihrem moralischen Anliegen an die Deutschen herangetreten? Interessanter wird die Debatte, wenn wir gleich von der westlichen Führungsmacht ausgehen. Denn sie bekam ja bald nach dem Krieg einen neuen Gegner, der sie voll in Anspruch nahm und gegen den sie das deutsche Potential sogar benötigte. Da wäre es nicht klug gewesen, von den Verbrechen der Deutschen zu viel Aufhebens zu machen. Beide, Nationalsozialismus und Sowjetkommunismus wurden ja damals unter dem Namen »Totalitarismus« zusammengefasst, was aber praktisch darauf hinauslief, den Kommunismus als lebendigen, gegenwärtigen Nationalsozialismus zu betrachten! In der Tat war diese Überlegung ein Grund, weshalb die Amerikaner den Holocaust lange nicht besonders hervorhoben. Es kann aber nicht der Grund sein, weshalb sie es in den 1970er Jahren dann doch taten! Denn zu dieser Zeit war der Gegner Sowjetunion ja noch vorhanden und sogar auf dem Gipfel seiner Macht! Die Entspannungspolitik ging zu Ende und der Kalte Krieg lebte allmählich wieder auf. Gerade jetzt hätte es daher nahegelegen, beim schonenden Umgang mit der Vergangenheit des Bündnispartners zu bleiben.






