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Eifrig beugte Charly sich zu ihr. Sie schien erleichtert, dass Hannah nicht mehr sauer auf sie war. »Stimmt es, dass du es mit drei Verbannten zu tun hattest? Wie hast du überlebt und wie konntest du danach so mutig sein, einen von ihnen bei dir aufzunehmen? Ich wäre vor Angst gestorben.«
Hannah runzelte die Stirn, während sie versuchte, die richtigen Worte zu finden. »Hralfor ist keiner von ihnen. Ich meine, er ist kein Verbannter. Er hat mir das Leben gerettet. Er hat die drei getötet, bevor sie mir etwas antun konnten. Dann wollte er wieder zurückwechseln, doch sein Übergang war blockiert. Was hätte ich denn tun sollen? Ich konnte ihn, nachdem er mir geholfen hatte, doch nicht einfach ohne Unterschlupf in einer fremden Welt allein stehen lassen. Ich war es ihm schuldig. Natürlich hatte ich anfangs etwas Angst vor ihm, aber das hat sich innerhalb kürzester Zeit gelegt. Niemand, der ihn kennenlernt, könnte danach noch Angst vor ihm haben. Er ist der beste Freund, den man sich nur vorstellen kann.«
Charly hörte ihr aufmerksam zu. »Du vermisst ihn ziemlich, nicht wahr? Deshalb hast du dich auch entschlossen, bei uns mitzumachen. Ich bin total froh darüber. Wir werden das nächste Schuljahr gemeinsam unterrichtet werden. Es gibt nicht viele Schüler in unserem Alter, unsere Klasse ist daher recht klein, aber es sind alles echt interessante Leute. Es wird dir gefallen. Und mir auch. Dann bin ich nicht mehr das einzige Menschenmädchen dort.«
Hannah sah sie groß an. »Du meinst, wir werden mit anderen Parallelweltlern unterrichtet?«
»Ja klar, was denkst du denn? Bei der OCIA werden alle Kinder der Beschäftigten gemeinsam unterrichtet, egal, aus welcher Welt sie kommen. Und der Unterricht ist super. Du lernst nicht nur den Stoff aus unserer Welt, sondern auch noch alles Mögliche aus den Parallelwelten, mit denen wir bisher zu tun hatten. Das ist zwar ziemlich viel, aber unsere Lehrer haben es echt drauf. Ich bin mal für ein Jahr auf eine andere Schule gegangen, weil ich andere Mädchen in meinem Alter kennenlernen wollte. Ich hatte die Nase voll davon, so ein exotischer Freak zu sein. Aber nach dem Schuljahr bin ich ganz schnell wieder zur PAIX zurückgegangen, das kannst du mir glauben. Ich hatte das Gefühl, noch einen Tag länger und ich würde verblöden oder vor Langeweile sterben.«
Hannah versuchte verwirrt, Charlys Wortschwall richtig zu verstehen. »Das heißt, du warst von Anfang an bei der OCIA? Und was bedeutet PAIX?«
Charly grinste sie breit an. »Du hast überhaupt keine Ahnung, wovon ich die ganze Zeit quatsche, oder? Ich vergesse einfach immer, dass du erst seit ein paar Tagen von uns weißt. Ich kenne die OCIA nämlich schon mein ganzes Leben lang. Meine Eltern sind schon vor meiner Geburt dabei gewesen. Sie kommen auch aus Deutschland und haben die ersten Jahre nach meiner Geburt hier gelebt, damit ich meine Wurzeln kennenlerne.«
Charly verdrehte genervt die Augen. »Ich bin am Anfang auf eine ganz normale Grundschule gegangen, aber da haben mich alle bald angeguckt, als ob ich nicht ganz richtig im Oberstübchen wäre, weil ich immer so komisches Zeug von anderen Welten erzählt habe. Später sind wir dann nach Neuseeland gezogen. Dort hat die OCIA ihren Hauptsitz und dort sind auch die ganzen Schulen und Unis für die Beschäftigten. Das war dann richtig klasse für mich. Ich hab die coolsten Typen kennengelernt und keiner hat mehr gelacht, wenn ich von anderen Welten gesprochen habe. Aber wie gesagt, in meinem Alter gibt es keine anderen Mädchen, und ich wollte mal etwas anderes, Normaleres kennenlernen. Also hab ich mich vor drei Jahren für ein Schuljahr in einer anderen Schule anmelden lassen. Was daraus geworden ist, hab ich dir ja schon erzählt. Also bin ich wieder zurück zur PAIX. So heißt unser Ausbildungszentrum. Es ist die Abkürzung für Pupils’ Academy of Intercultural Exchange. Das ist der Name, den die OCIA in der Öffentlichkeit für ihr Ausbildungszentrum verwendet. Sie tun so, als ob es um so eine Art internationalen Schüler- und Studentenaustausch geht. Und irgendwie ist es ja auch so. Nur dass der Austausch nicht zwischen den Nationen, sondern zwischen den Universen stattfindet.«
Charly kicherte vergnügt vor sich hin. »Das ist übrigens eine der ersten Richtlinien, die du bei der OCIA lernst. Wenn du schon lügst, halte dich so eng wie möglich an die Wahrheit.« Sie sah auffordernd auf den Umschlag, den Hannah noch immer ungeöffnet in der Hand hielt. »Willst du den nicht mal aufmachen? Jacob hat mich extra instruiert, dass ich dir beim Ausfüllen helfen soll, wenn du was nicht verstehst. Es war echt Glück, dass ich in diesen Ferien meine Oma besucht habe, sonst hätten sie jemand anderen geschickt, der sich hier in der Nähe aufhält. Das hätte mich ganz schön geärgert!«
»Wohnt deine Oma etwa auch hier in der Nähe?«, erkundigte sich Hannah ziemlich überwältigt.
»Nicht ganz.« Charly grinste. »Ungefähr fünfhundert Kilometer entfernt.«
Hannah sah sie fassungslos an. »Dann bist du fünfhundert Kilometer gefahren, um mir diesen Umschlag zu bringen?«
»Ja klar!« Charly lachte jetzt übers ganze Gesicht. »Ich wär auch tausend Kilometer gefahren, um dich kennenzulernen. Ich wollte dich unbedingt sehen. Mann, und ich bin jetzt echt froh, dass ich dich mag. Du hättest ja auch irgend so eine Zicke sein können, mit der man keine drei Worte wechseln kann. Obwohl«, sie schüttelte den Kopf, »so jemandem hätte Jacob kein Angebot gemacht. Er weiß immer ziemlich genau, was man von den Leuten so zu halten hat. Und von dir war er gleich total begeistert.«
Sie bemerkte Hannahs zweifelnden Blick und lachte auf. »Du kannst ihn nicht leiden, stimmt’s? Aber wart nur ab, bis du ihn besser kennenlernst. Er ist wirklich gar nicht so übel, glaub mir. Und er mag dich wirklich. Das ist bei einem Herimandi nicht selbstverständlich. Die brauchen normalerweise ziemlich lange, bis sie jemanden mögen.«
»Dann hatte Hralfor also recht. Jacob ist kein Mensch«, murmelte Hannah.
Charly sah sie interessiert an. »Wie hat er das denn herausgefunden? Jacob ist schon so lange hier, dass er normalerweise überall gut als Mensch durchgeht. Deshalb schickt der Alte ihn ja überhaupt auf verdeckte Missionen. Bisher ist er noch nie aufgeflogen.«
»Er hatte es wohl auch noch nie mit dem Geruchssinn eines Vargéris zu tun.« Hannah lächelte wehmütig. »Hralfor hat an seinem Geruch erkannt, dass Jacob nicht von hier ist.«
Charly, die sie aufmerksam beobachtete, lief spontan zu ihr und nahm Hannah in den Arm. »Du musst ihn wirklich sehr mögen. Vielleicht kommt er ja doch einmal wieder. Ich würde ihn jedenfalls unheimlich gern kennenlernen.«
Und Hannah, die Fremden gegenüber normalerweise zunächst etwas zurückhaltend war, lehnte sich mit geschlossenen Augen an Charly und ließ sich dankbar trösten. Es tat unendlich gut, nicht mehr ganz allein mit ihrer Trauer zu sein. Dann richtete sie sich auf und lächelte Charly an. »Jetzt schauen wir mal, was Jacob mir da geschickt hat.« Sie riss den Umschlag auf und wurde blass. »Himmel, das ist ja eine halbe Doktorarbeit! Was wollen die denn alles wissen?«
Charly lachte auf. »Das sieht nur auf den ersten Blick so schlimm aus. Komm, wir gehen alles in Ruhe durch.«
Und ehe sie sichs versah, saß Hannah mit Charly am kleinen Tisch und füllte Unmengen von Fragebögen aus. Es war, als ob die beiden Mädchen schon seit ewigen Zeiten befreundet waren, und die Zeit verging wie im Flug.
Als auch die letzte Spalte ausgefüllt war, war es bereits nach Mittag und Charly verkündete, dass sie vor Hunger starb.
Bereitwillig sprang Hannah hoch und schlug schnell zwei Omeletts in die Pfanne. Es war das erste Mal seit Hralfors Weggang, dass sie wieder einmal kochte. Und wie damals saß sie nun gemeinsam mit Charly an der kleinen Theke und war seit Tagen zum ersten Mal froh darüber, Gesellschaft zu haben. Sie bombardierte das Mädchen mit Fragen über die OCIA und das kommende Schuljahr und Charly gab gut gelaunt Auskunft.
»Weißt du, bei uns fängt das Schuljahr immer erst im Oktober an. Wenn du also am 15. August kommst, hast du noch jede Menge Zeit, dich etwas einzugewöhnen. Ich werde jetzt, wo du da bist, auch versuchen, sobald wie möglich zu kommen. Eigentlich sollte ich ja bis Ende September bei Oma bleiben, weil meine Eltern bei einer Fortbildung in der Antarktis sind, aber das lässt sich sicher ändern. Du wärst doch froh, wenn ich bei dir bin, oder?«
Besorgt sah sie Hannah an, die sich beeilte, ihr zuzunicken.
»Na klar wäre ich froh. Ich hatte schon Angst davor, was da so alles auf mich zukommt, und das, wo ich außer Jacob niemanden dort kenne. Du könntest mich ein wenig herumführen und mit allem vertraut machen. Ich hab sowieso keine Ahnung, was ihr im Unterricht für fremde Fächer durchnehmt. Bestimmt verstehe ich kein Wort. Vielleicht kann ich mir ja mal deine Unterlagen aus den vergangenen Schuljahren anschauen.«
Charly grinste breit. »Sag bloß nicht, dass du so ein Streber bist, der schon in den Ferien den Stoff fürs nächste Schuljahr durchkaut!«
Als sie Hannahs empörtes Gesicht sah, boxte sie ihr freundschaftlich gegen die Schulter. »Komm, lass Dampf ab. Ich hab doch nur Spaß gemacht. Klar, versteh ich dich, und natürlich können wir den alten Stoff durchsehen. Aber du brauchst keine Angst zu haben, dass du nicht mitkommst. Sie werden dir jede Menge Brainprints zukommen lassen, die du dir nachts einspielen kannst. Dann hast du den Stoff drin, bevor das neue Schuljahr beginnt. Schwieriger wird es mit dem Physiotraining werden. Das musst du tatsächlich eigenständig nachtrainieren. Da werden sie dich am Anfang zu den Kleinen stecken, oder du bekommst Einzelstunden, bis du den Anschluss hast.«
Hannah hob warnend die Augenbrauen. »Charly, du redest schon wieder Ägyptisch! Was sind Brainprints und Physiotraining?«
Charly kicherte verschmitzt. »Brainprints sind Datenträger, die man sich im Ruhezustand ins Ohr stöpselt. Sie gehen dann eine synaptische Verbindung mit deinem Gehirn ein und du lernst sozusagen im Schlaf. Das macht man vor allem, wenn man ganz schnell eine fremde Sprache lernen muss. Es geht aber auch mit allen anderen Informationen. Allerdings sitzen die Infos dann nicht ganz so sicher, wie wenn man sie auf herkömmliche Weise gelernt hat. Man muss also nacharbeiten. Aber wenn du auf diese Weise das Grundwissen der dir fremden Fächer aufgenommen hast, arbeitest du im kommenden Schuljahr sowieso alles gründlich nach, sodass du mit uns dann auf dem gleichen Wissensstand bist. Soweit kapiert?«
Hannah nickte benommen. »Und das Physiotraining?«
Jetzt funkelten Charlys Augen begeistert. »Also das mag ich besonders! Es ist eine Zusammenstellung der verschiedensten Kampftechniken, die wir bisher kennengelernt haben. Es geht vor allem um Körperbeherrschung und Reflexschulung. Das brauchen wir später, wenn wir auf Außeneinsätze gehen dürfen. Dabei kommt es immer wieder vor, dass man in einen Kampf verwickelt wird. Es ist dann gut, wenn man die entsprechende Kampftechnik kennt.«
Hannah nickte. Das klang ziemlich einleuchtend. Sie musste nur an den seltsam tänzerischen Kampfstil der Vargéris denken. Dagegen hatte man nur eine Chance, wenn man ein beinhartes Training hinter sich hatte.
Unglücklich sah sie zu Charly. »Ich habe in meinem ganzen Leben noch nie irgendeinen Kampfsport gemacht. Und bei meinem einzigen Selbstverteidigungskurs habe ich hoffnungslos versagt. Wenn die mich kämpfen sehen, ziehen sie ihr Angebot glatt zurück.«
Charly zwinkerte ihr tröstend zu. »Keine Angst. Unsere Trainer kriegen auch dich hin. Die haben es bisher noch mit jedem geschafft. Bestimmt bekommst du schon Einzelunterricht, noch bevor das Schuljahr überhaupt beginnt. Vor allem dauert es sowieso eine Ewigkeit, bis die dich zu einem Außeneinsatz zulassen. Das ist das einzig Ärgerliche an dem Laden. Da sind die eisern. Bevor du nicht mindestens zwanzig bist, läuft da nichts.« Sie sah dabei so brummig und unzufrieden aus, dass Hannah lachen musste.
»Du kannst es wohl kaum erwarten, dich mit irgendwelchen schauderhaften Parallelweltlern herumzuschlagen. Aber glaub mir, das ist wirklich nicht lustig. Das habe ich in dieser Nacht gelernt. Selbst, wenn du dich verteidigst und deinen Angreifer verletzt, fühlst du dich dabei wie ein Monster.« Bei der Erinnerung an den hass- und schmerzerfüllten Blick des Verbannten, den sie schwer verletzt hatte, fühlte Hannah sich wieder genauso elend wie in der Nacht des Überfalls.
Charly dagegen wurde bei Hannahs Worten ganz aufgeregt. »Sag bloß, du hast tatsächlich mit einem der Vargéris gekämpft! Davon hat Jacob gar nichts gesagt. Mensch, Hannah, erzähl! Was genau ist passiert?«
Hannah sah das Mädchen eine Weile nachdenklich an. Es mochte ja sein, dass Charly schon so viel mehr über fremde Welten wusste als sie, dennoch fühlte sie sich im Moment viel älter und erfahrener als das Mädchen. Für Charly klang es, als sei es ein großer Spaß, mit einer fremden Kreatur um sein Leben zu kämpfen. Sie hatte nie das lähmende Entsetzen kennengelernt, das einen befiel, wenn man wirklich um sein Leben fürchtete. Und noch schlimmer, die quälenden Selbstvorwürfe, die man unweigerlich hatte, wenn man für den Tod eines anderen Lebewesens verantwortlich war. Egal, wie sehr es ihn verdient zu haben schien. Wie konnte sie diese Gefühle einem Mädchen wie Charly erklären?
Bedrückt seufzte sie auf. »Ich weiß nicht, ob ich dir das ganze Grauen, das ich in dieser Nacht gespürt habe, auch nur annähernd schildern kann. Es war einfach furchtbar. Es gab dabei nichts, wirklich gar nichts, was in irgendeiner Weise heldenhaft oder dramatisch war, so wie man das in Filmen immer sieht. Dort kommt dann immer bedrohliche Musik und die Hauptdarsteller werden in Großaufnahme gezeigt, damit man das Entsetzen auf ihren Gesichtern besser sehen kann. Aber die Wirklichkeit ist dann völlig anders. Du fühlst dich wie gelähmt und irgendwie hast du das Gefühl, als ob das alles gar nicht echt ist, als ob du jeden Augenblick aufwachen würdest. Und während du darauf wartest, bemerkst du den entsetzlichen Geruch, der von den An-greifern ausgeht. Du riechst deinen eigenen Angstschweiß und hast das Gefühl, als ob du jeden Moment vor Entsetzen in die Hose machst. Als der Angreifer mich dann gepackt hat, da habe ich an überhaupt nichts mehr gedacht. Mein Kopf war völlig leer. Ich habe einfach instinktiv reagiert und zugestochen. Und erst danach habe ich wieder angefangen, etwas mitzubekommen. Und das, was ich mitbekommen habe, war dann fast das Allerschlimmste. Ich habe gesehen, dass ich den Mann schwer verletzt habe. Er muss wahnsinnige Schmerzen gehabt haben und ich kam mir so schlecht und unmenschlich und völlig hilflos vor. Das war schlimmer als die Todesangst, die ich davor gespürt habe. Glaub mir, es ist nichts Tolles dabei, einen anderen zu verletzen und zu töten. Du kommst dir danach nur unsäglich schmutzig und besudelt vor. Und das ist es auch, was ich diesem Vargéri nie verzeihen werde, nämlich dass er mich durch sein Verhalten gezwungen hat, etwas so Entsetzliches zu tun. Ich werde es nie vergessen können, solange ich lebe.«
Nach ihren Worten herrschte lange Zeit Stille. Charly war ganz blass geworden und hatte die Lippen fest zusammengepresst. Schließlich nickte sie. »Ich glaube, jetzt verstehe ich, warum sie uns nicht früher auf Außeneinsätzen zulassen. Nach dem, was du gerade erzählt hast, ist das immer noch früh genug. Ich denke, ich werde unser Physiotraining von jetzt an in einem ganz anderen Licht sehen.«
Erleichtert seufzte Hannah auf. Charly hatte offensichtlich verstanden.
Mittlerweile war es draußen dunkel geworden, und Hannah sah Charly besorgt an. »Es ist ziemlich spät. Wie kommst du eigentlich wieder nach Hause? Du gehst doch zurück zu deiner Oma, oder?«
»Klar.« Charly hielt fröhlich ein kleines Gerät in die Höhe. »Ich habe einen Chauffeur, der nur darauf wartet, dass er mich hier abholen kann. Ich muss nur auf diesen Knopf drücken.« Sie grinste Hannah breit an. »Es hat schon was, im Auftrag der OCIA unterwegs zu sein. Du kommst dir richtig wichtig vor. Und eigentlich war das heute ja schon mein erster Außeneinsatz, oder?«
Hannah erwiderte das Grinsen. »Auf jeden Fall, wenn auch nicht mit Kontakt zu Parallelweltlern.« Dann wurde sie wieder ernst. »Es war schön, dich kennenzulernen. Jetzt kann ich mich wirklich auf die neue Schule freuen. Ich kann es kaum erwarten, nur noch zwei Wochen! Ich muss mir überlegen, was ich meinen Eltern erzählen soll.«
Charly blinzelte ihr verschwörerisch zu. »Erzähl ihnen einfach, dass du ein total nettes Mädchen kennengelernt hast, das dich auf die Idee mit dem Austauschjahr gebracht hat. Und dass du dich daraufhin bei PAIX beworben hast und gleich genommen wurdest, weil du so talentiert bist.« Sie lachte verschmitzt. »Du weißt doch noch, Regel Nummer eins: Bleib immer so nah wie möglich an der Wahrheit. Ich gebe dir meine Handynummer. Wenn sie wollen, können deine Eltern bei mir anrufen und sich über die Schule erkundigen. Ich könnte sie sogar mit meinen Eltern verbinden. Die würden dann bestätigen, was es für ein Glückstreffer ist, bei PAIX angenommen zu werden.«
»Du, das ist gar keine so schlechte Idee«, überlegte Hannah. »Wenn ich die Geschichte noch ein bisschen anpasse, dann könnte sie als Erklärung durchgehen. Vielen Dank.«
»Keine Ursache, war mir ein Vergnügen.« Charly lachte frech. »Ich stehe dir immer zur Verfügung, wenn du mal wieder eine Ausrede benötigst. Darin bin ich richtig gut. So, und jetzt werde ich meinen Piepser aktivieren, damit ich heimkomme, sonst macht Oma sich noch Sorgen.«
Charly drückte den Knopf an dem kleinen Gerät und lief dann zu Hannah, um sie schnell zu umarmen. »Ich freu mich schon so auf das kommende Schuljahr, du glaubst es nicht. Wir werden jede Menge Spaß miteinander haben und richtig gute Freundinnen werden, da bin ich mir ganz sicher. Also, pass auf dich auf und bis bald.«
Hannah erwiderte die Umarmung herzlich. »Ich glaube, wir sind schon Freundinnen. Ich bin so froh, dass du mir den Umschlag gebracht hast.«
Die beiden Mädchen lachten sich noch einmal zu, dann stürmte Charly aus dem Haus und war bald darauf in der Dunkelheit verschwunden.
8
Er hatte tatsächlich vergessen, wie kalt und dunkel es hier war. Ein eisiger Wind fegte über die unwirtliche Kältewüste, die unter einer dicken Schneedecke lag. Es würde noch einige Monate dauern, bevor sich der lange, extrem kalte Winter ganz langsam dem Ende zuneigte. Wenn dann der kurze, kühle Sommer begann, würde es für knapp zwei Monate ein wenig heller werden, doch die lebensfeindlichen Umweltbedingungen würden sich kaum ändern. Beinahe der gesamte Kontinent der Verbannten war durch Permafrost gekennzeichnet und bot nichts als zerklüftete Gebirgszüge, Vulkane, Tundren und sturmgepeitschte Küstenregionen.
Hralfor zog schaudernd die Schultern hoch. Er hatte gehofft, nie wieder einen Fuß auf dieses verhasste Land setzen zu müssen. Dennoch war er nun hier, aus freien Stücken, und die mühsam verdrängten Erinnerungen an die qualvollste Zeit seines Lebens überrollten ihn mit unerwarteter Heftigkeit.
Doch er bereute seinen Entschluss nicht eine Sekunde lang. Er hatte ihn im selben Augenblick gefasst, in dem er den entsetzten Ausdruck in Hannahs Augen gesehen hatte – in jener Nacht, in der sie beinahe in diese Welt entführt worden war.
Schon da hatte er sich geschworen, alles in seinen Kräften Stehende zu tun, damit nie wieder eine Frau einer so grauenhaften Gefahr ausgesetzt war. Er würde die Quelle ausfindig machen, mit deren Hilfe die Verbannten ihre Welt verlassen konnten, um andere in Angst und Schrecken zu versetzen. Er würde sie finden und mit aller Macht versuchen, sie endgültig zu zerstören. Und wenn es das Letzte war, was er in seinem Leben vollbrachte.
Aus diesem Grund war er gleich nach seiner Ankunft auf Vargor zu den obersten Vertreterinnen der Vargéris, den Weiserinnen, gegangen und hatte sie von seinen Absichten in Kenntnis gesetzt. Er benötigte ihre Erlaubnis, um den Kontinent der Verbannten zu betreten, da ein Verstoß gegen das absolute Isolationsgebot dieses Kontinents mit der Todesstrafe geahndet wurde.
Sein Anliegen hatte zu einigem Aufruhr geführt, doch schließlich war ihm die Genehmigung erteilt worden. Die Übergriffe der Verbannten auf andere Welten hatten sich in den letzten Jahren so gehäuft, dass es durchaus im Interesse der Weiserinnen lag, diesem Treiben ein Ende zu setzen.
Zum Glück besaß er noch den Übergangsstein seines Vaters, sodass er keinen der Verbanntentransporte abwarten musste, um auf den Kontinent zu gelangen.
Da die Verbannung nur bei schwersten Verbrechen ausgesprochen wurde, dauerte es manchmal Jahre, bis wieder ein Verbanntentransport zusammengestellt wurde. Er war jedes Mal mit hohen Risiken verbunden, da der Ozean, der den Kontinent umgab, von heftigen Stürmen gepeitscht wurde und nur mit einem ganz besonders ausgestatteten Schiff in den Sommermonaten befahren werden konnte.
Doch der Übergangsstein ermöglichte es Hralfor, wie bei einem Weltenwechsel direkt auf den Kontinent zu gelangen. Und so war er nun hierher gewechselt und versuchte, sich nach den langen Jahren seiner Abwesenheit neu zu orientieren.
Er hatte eine ungefähre Ahnung, wo sich der Ort befinden musste, an dem die Übergänge stattfanden. Schließlich hatte man ihn als Kind einmal dorthin gebracht, um in eine andere Welt zu wechseln – und laut Hannah hatte er ja ein Gedächtnis wie ein Elefant.
Bei diesem Gedanken trat ein zärtlicher Ausdruck in seine gegen den Wind fest zusammengekniffenen Augen. Was Hannah in diesem Moment wohl gerade tat?
Seit er sie verlassen hatte, fühlte er sich unvollständig und verloren. Sobald er die Augen schloss, sah er ihr Gesicht vor sich. Ihre ausdruckstarken, grauen Augen, die winzigen Punkte auf ihrer Nase und ihr spontanes Lächeln, das sein Herz automatisch heftiger schlagen ließ.
Nur wegen ihr war er hier. Wenn er sie schon nicht aus der Nähe beschützen konnte, wollte er zumindest sichergehen, dass sie nie wieder in eine so schreckliche Gefahr geriet wie in jener Nacht, in der er ihr das erste Mal begegnet war.
Entschlossen zog Hralfor den Umhang fester um sich und fiel in den kräftesparenden Vargéri-Trab, mit dem er ohne Pause tagelang gewaltige Strecken zurücklegen konnte.
Er hatte ausreichend Vorräte bei sich, sodass er sich nicht mit der Jagd aufhalten musste, und würde in diesem Tempo in ungefähr fünf Tagen sein Ziel erreichen. Vorausgesetzt natürlich, dass der eisige Wind sich nicht noch zu einem der gefährlichen Winterstürme auswuchs.
Das Ärgerlichste an dem Wind war, dass er seine Geruchswahrnehmung behinderte. Er war dadurch nicht in der Lage, genauer zu bestimmen, in welcher Entfernung sich andere Lebewesen aufhielten. Und das permanente Brausen machte es schwer, feinere Geräusche zu erkennen.
Er wusste, dass es ihn einige Zeit kosten würde, bis er sich wieder an diese Bedingungen gewöhnt hatte. Bis dahin waren seine Feinde ihm gegenüber entschieden im Vorteil.
Hralfor hatte keine Ahnung, wie viele Verbannte in den Revieren lebten, die er zwangsweise durchqueren musste. Er konnte nur darauf hoffen, dass er keinem Rudel in die Fänge lief, bis er sich wieder vollständig an die Gegebenheiten angepasst hatte.
In den ersten beiden Tagen hielt sein Glück an.
Er lief durch eine völlig ausgestorbene Schneelandschaft. Die wenigen Sträucher und Bäume, die hier mühsam um ihr Überleben kämpften, zeichneten sich durch eine niedrige Wuchsform aus und formten unter der isolierenden Schnee-decke bizarre Schatten in der allgegenwärtigen Dunkelheit.
Hralfors vargérische Augen konnten keinerlei Anzeichen von tierischem Leben entdecken, was wohl auch der Grund dafür war, dass dieses Revier so verlassen war. Wo es keine Nahrung gab, konnten sich auch die Verbannten nicht halten.
Am dritten Tag ging die Tundra ähnliche Landschaft allmählich in einen zerklüfteten Gebirgszug über.
Und da spürte Hralfor, dass er verfolgt wurde.
Er schärfte seine Sinne, während er unermüdlich über den felsigen Untergrund lief. Dabei nahm er den Geruch von mindestens drei Verbannten auf, die ihn verfolgten und dabei versuchten, ihn allmählich seitlich in die Zange zu nehmen. Diese Jagdweise war ihm nur zu vertraut.
Konzentriert suchte er die Landschaft vor sich nach einem geeigneten Ort ab. Er wusste, dass er sich seinen Gegnern früher oder später stellen musste, da war es besser, er bestimmte die Bedingungen des Kampfes. Nach einigen Minuten hatte er die passende Kampfarena gefunden.






