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»Bist du verletzt? Hat dich einer von ihnen erwischt?«
Langsam schüttelte Hannah den Kopf. Sie musste erst einmal schlucken, bevor sie sich ihrer Stimme sicher war. »Nein, nur mein Arm tut weh, dort, wo mich der eine gepackt hat.« Unwillkürlich strich sie mit der rechten Hand über den brennenden Arm.
Seine finstere Miene wurde noch düsterer. Vorsichtig nahm er ihren Arm und schob den zerrissenen Ärmel ihrer Jacke zurück. Seine Bewegungen waren so schnell, dass er die blutigen Kratzspuren bereits betrachtete, noch bevor Hannah entsetzt zusammenzuckte. Als er ihre panische Reaktion bemerkte, ließ er den Arm sofort los und trat einen Schritt zurück.
Schön blöd, schimpfte Hannah mit sich selbst. Ich benehme mich wirklich schön blöd. Vielleicht wäre ja eher ein wenig Dankbarkeit angesagt.
Entschuldigend sah sie zu ihm auf. Was auch immer er war, er hatte ihr das Leben gerettet. Wenn er ihr irgendetwas antun wollte, hätte er es schon längst tun können. Stattdessen sorgte er sich um ihre Verletzung und sie stieß ihn vor den Kopf.
Doch noch bevor sie den Mund aufmachen konnte, hatte er bereits einen kleinen Tiegel aus seinem Umhang geholt, den er ihr hinhielt. »Du musst diese Heilpaste unbedingt auf die Verletzungen auftragen. Sie sind mit einem Gift infiziert, das für euch Menschen üble Folgen hat, wenn es nicht entzogen wird. Trage die Paste morgens und abends auf, bis wirklich keine Spuren der Verletzung mehr zu sehen sind. Hast du das verstanden?«
Als er Hannahs verständnislosen Blick sah, seufzte er ungeduldig auf, öffnete den Tiegel und entnahm daraus eine klebrige, grüne Paste. Vorsichtig fasste er wieder nach Hannahs Arm, während er sie forschend betrachtete. Als er kein weiteres Zurückzucken bemerkte, verstrich er die Paste sorgfältig auf den Wunden, die von den scharfen Nägeln des Angreifers stammten. Fasziniert beobachtete Hannah die langen, schlanken Hände des Fremden, die sanft die Salbe auftrugen. Dieselben Hände, mit denen er vor wenigen Minuten, ohne zu zögern, drei Leben ausgelöscht hatte. Sie sahen absolut menschlich aus, allerdings fühlte sich ihre Berührung anders an als die Berührung einer Menschenhand. Es ging eine unglaubliche Wärme von ihnen aus, die sich wohltuend in ihrem erstarrten Körper ausbreitete. Hannah fühlte sich auf einmal unsäglich müde. Sie hätte alles dafür gegeben, jetzt einfach ihre Augen schließen und einschlafen zu können.
Abrupt schreckte sie hoch, als sie das Gleichgewicht verlor und gegen die Brust des Fremden taumelte. Verlegen blickte sie zu ihm hoch. Sie glaubte zu erkennen, dass sein dunkles, fremdartiges Gesicht jetzt weniger finster wirkte, sondern einen besorgten Ausdruck angenommen hatte.
»Du bist völlig am Ende, nicht wahr?« Die raue Stimme klang nun auch viel weicher. »Wie weit hast du es noch in dein Heim? Wirst du es schaffen?«
Zweifelnd sah er sie an, als Hannah entschlossen nickte. »Ich komme schon klar. Es ist wirklich nicht mehr weit.« Sie machte eine möglichst zuversichtliche Miene. »Ich nehme an, du musst auch wieder dorthin, woher du gekommen bist?«
Ein feines Lächeln erhellte sein Gesicht, als er den neugierigen Unterton in Hannahs Stimme hörte. Das Lächeln verwandelte seine ungewohnten Gesichtszüge auf unfassbare Weise und ließ ihn beinahe menschlich erscheinen. Mit einem Mal kam er ihr überhaupt nicht mehr beängstigend vor, nur sehr geheimnisvoll und ziemlich exotisch.
»Ja, für mich ist es höchste Zeit. Ich sollte so kurz wie möglich in deiner Welt verweilen, obwohl sie wirklich faszinierend ist. Pass in Zukunft besser auf dich auf und laufe nachts nicht mehr durch einsame Gegenden!« Mit diesen Worten glitt er etwas zurück in den Schatten und griff dabei in eine Tasche an seiner Hüfte.
Hannah sah, dass er einen faustgroßen Stein herauszog. Sie machte schnell einen Schritt auf ihn zu. »Halt, warte, du kannst jetzt doch nicht einfach so ohne Erklärung verschwinden! Wer bist du? Außerdem habe ich dir noch gar nicht gedankt.«
Sie hörte ein leises, heiseres Lachen. »Es gibt nichts zu danken. Ich habe lediglich das Gleichgewicht wiederhergestellt. Und es ist besser für dich, nichts zu wissen. Vergiss dieses Erlebnis. Vergiss, dass du mich je gesehen hast, dir würde sowieso niemand glauben. Also sprich zu deinem eigenen Schutz mit niemandem über dieses Ereignis! Bald wird dir alles nur noch wie ein böser Traum vorkommen. Aber vergiss nicht, die Heilpaste aufzutragen!«
Hannah sah, wie er nach seinen Worten die Hand, in der er den Stein hielt, an die Brust legte. Die Luft um ihn herum begann zu flimmern.
Das kann doch alles gar nicht wahr sein!
Gebannt starrte sie auf den Fremden, der sich in einer wabernden, dunklen Luftglocke zu befinden schien. Sie sah, wie sich sein Gesicht plötzlich verfinsterte und schließlich einen schmerzerfüllten Ausdruck annahm. Dann beruhigte sich der Luftwirbel, der ihn umgab. Der Fremde schwankte keuchend auf der Stelle. Besorgt lief Hannah zu ihm. Irgendetwas war hier ziemlich schiefgegangen, soviel war klar.
»Fjantalor!«, entfuhr es ihm. Sein Atem rasselte und gab seiner Stimme einen noch raueren Klang.
»Was ist passiert? Bist du verletzt?«, fragte Hannah besorgt.
Als sie seinem Blick begegnete, wurde Hannah unruhig. Er sah ziemlich fassungslos, wenn nicht sogar verstört aus. Fragend blickte sie zu ihm auf.
Der Fremde nahm einen tiefen Atemzug. »Ich weiß selbst nicht, was geschehen ist. Der Übergang in meine Welt scheint auf irgendeine Weise blockiert zu sein. So etwas ist mir noch nie passiert und ich kenne auch keinen Fall, bei dem sich Derartiges ereignet hätte.«
Hannah schluckte. »Du meinst, du kannst nicht mehr nach Hause zurück, du sitzt hier fest?«
Ein feines Lächeln ließ seinen Mundwinkel zucken, als er das echte Entsetzen in ihrer Stimme hörte. Hannah beobachtete fasziniert das schnell wechselnde Mienenspiel ihres ungewöhnlichen Retters.
»So in etwa könnte man es ausdrücken«, nickte er und hob dabei leicht die Schultern.
»Aber was wirst du denn jetzt machen?«, entfuhr es Hannah. »Ich meine, das ist ja nicht gerade so, als ob du einen Bus verpasst hast und auf den nächsten warten musst, oder?«
Er hatte ihrem Wortschwall mit gerunzelter Stirn zugehört und antwortete etwas zögernd. »Nein, ich glaube nicht, dass sich meine Situation damit vergleichen lässt, wenn ich auch nicht genau weiß, was ein Bus ist.«
»Ja, klar«, Hannah wurde etwas rot, »woher solltest du das auch wissen? Trotzdem, was wirst du jetzt tun?«
Es machte sie nahezu wahnsinnig, dass er so ruhig blieb. Sie wurde beinahe starr vor Angst, wenn sie daran dachte, dass er hier in dieser für ihn offensichtlich völlig fremden Welt gefangen war. Jeder, der ihn sah, würde schreiend davonlaufen und die Polizei rufen. Sie würden Jagd auf ihn machen, ihn fangen, einsperren und irgendwelche schrecklichen Versuche mit ihm anstellen. Ihr wurde ganz schlecht bei diesen Gedanken.
Anscheinend sah man ihr das auch an, denn der Fremde beugte sich besorgt zu ihr. »Geht es dir nicht gut?«
»Ob es mir nicht gut geht?«, fuhr Hannah ihn fassungslos an. »Ist dir eigentlich nicht klar, in welcher Gefahr du dich hier befindest? Wenn du nicht aufpasst, landest du in Nullkommanichts in irgendeiner Monstrositätenshow oder in einem geheimen Forschungslabor, wo sie dich total auseinandernehmen. Und ich bin schuld, weil du mir das Leben gerettet hast! Und da fragst du, ob es mir nicht gut geht.«
Hannah hatte sich so in Rage geredet, dass sie erst einmal tief Luft holen musste. Der Fremde sah sie verwirrt an. Bestimmt hatte er so gut wie kein Wort von dem verstanden, was da gerade aus ihr herausgesprudelt war.
Seine glühenden Augen verdunkelten sich. »Machst du dir wegen mir etwa Sorgen? Das ist sehr freundlich, aber keine Angst, ich kann auf mich aufpassen. Wenn ich nicht gefunden werden will, findet man mich auch nicht.«
»Und wie lange willst du dich verstecken?«, schnaubte sie unwillig. »Dein ganzes restliches Leben lang?«
Wieder erschien das feine Lächeln auf seinem fremdartigen Gesicht. »Ich werde einen Weg finden, zurückzukehren, glaube mir. Aber zunächst werde ich es noch einmal auf die übliche Art versuchen.«
Wieder trat der Fremde einige Schritte zurück, konzentrierte sich und hielt sich den seltsamen Stein an die Brust.
Wie schon davor erschien der Luftwirbel, der endlos lange um ihn herumzutanzen schien, ohne dass eine Änderung eintrat. Hannah verfolgte besorgt, wie sich sein Gesicht erneut voller Schmerz verzog und er schließlich taumelnd auf die Knie fiel. Seine raue Stimme klang abgehackt. »Nein, dieser Weg scheint fürs Erste versperrt zu sein.« Langsam kam er wieder auf die Beine.
Hannah zögerte kurz, dann holte sie tief Luft und sah zu ihm auf. Entschlossen unterdrückte sie ein Schaudern, als sie die unheimlichen Augen mit ihrem merkwürdig reflektierenden Leuchten auf sich fühlte. »Dann kommst du jetzt erst einmal mit mir. Dort bist du in Sicherheit und kannst in aller Ruhe über deine nächsten Schritte nachdenken.«
Das Herz schlug ihr bis zum Hals, während sie dieses Angebot machte. Es war schon unvorsichtig genug, einen fremden Menschen mit nach Hause zu nehmen. Dieses Angebot jedoch einem Wesen gegenüber zu machen, das nicht nur fremd, sondern völlig fremdartig war, war eigentlich der reine Wahnsinn. Sie hatte gesehen, wie effektiv dieser Fremde, ohne mit der Wimper zu zucken, drei der furchterregendsten Kreaturen, die sie sich nur vorstellen konnte, getötet hatte – mal ganz abgesehen davon, dass er selbst auch so eine zu sein schien. Und jetzt lieferte sie sich ihm einfach so aus.
Doch als sie zu ihm aufsah und seinem ruhigen, forschenden Blick begegnete, wusste Hannah einfach, dass sie vor ihm nichts zu befürchten hatte. Vorsichtig lächelte sie ihn an.
Der Fremde blickte ihr ernst in die Augen, legte leicht eine Hand an die Brust und neigte in einer fließenden Bewegung den Kopf. »Ich danke dir für dein großzügiges Angebot. Ich nehme es gern an.«
Wieder fanden seine Augen ihr Gesicht und ein weicher Ton schwang in der heiseren Stimme mit. »Mein Name ist Hralfor. Ich stamme aus der Welt Vargor.«
2
Verstohlen betrachtete Hannah den Fremden, der wie selbstverständlich an ihrer Seite durch die dunklen Straßen einer ihm unbekannten Welt lief.
Aber eigentlich konnte man das, was er tat, nicht richtig als Laufen bezeichnen. Es war eher ein Gleiten, völlig geräuschlos und von einer verstörenden, absolut nichtmenschlichen Geschmeidigkeit – wie eine Raubkatze, die sich lautlos an ihre Beute heranpirschte.
Bei diesem Gedanken fröstelte sie. Auch wenn man seine ungewöhnlichen Gesichtszüge im Dunkeln nicht erkennen konnte und seine enorme Größe außer Acht ließ, konnte man ihn aufgrund seiner Bewegungen selbst aus der Ferne einfach nicht für einen Menschen halten. Das gelegentliche Aufglühen seiner Augen im schwachen Schein der Straßenbeleuchtung sowie der weite, dunkle Umhang, der seinen sehnigen Körper fast vollständig verhüllte, verstärkte den unheimlichen und völlig andersartigen Eindruck noch um ein Vielfaches.
Hannah konnte nur inständig hoffen, dass niemand ihnen begegnete oder auf sie aufmerksam wurde. Entsetzt wurde ihr klar, dass das gequälte Quietschen ihres Fahrrads genau die Art von Aufmerksamkeit erregte, die sie so dringend vermeiden wollte. Schnell hob sie das Rad am Hinterreifen an, und das Geräusch verstummte.
Wenn sie nur nicht so entsetzlich müde und erschöpft wäre. Sie konnte kaum noch einen klaren Gedanken fassen. Und das unergründliche Schweigen, in das sich der Fremde hüllte, kostete sie noch die letzten Nerven.
Als hätte er ihre Gedanken erraten, wandte der Fremde, der sich Hralfor nannte, den Kopf und sah grübelnd auf sie hinab. Dann griff er wortlos nach dem Fahrrad und hob es sich auf die Schulter. Hannah schnappte nach Luft. Das alte Ding war tonnenschwer und er sah aus, als würde er lediglich einen Tennisschläger schultern! Als Hralfor ihren fassungslosen Blick bemerkte, schenkte er ihr ein fast entschuldigendes, kleines Lächeln, das Hannah die Absurdität dieser ganzen Situation erst so richtig zu Bewusstsein brachte. Und plötzlich musste sie einfach loskichern.
Das alles ist völlig verrückt! Das würde mir nie jemand glauben. Da laufe ich mit irgendeinem Superwesen von einem anderen Stern durch die Straßen und mache mir Sorgen wegen eines quietschenden Fahrrads.
Hannah gab sich die größte Mühe, nicht laut loszuprusten. Tief in ihrem Inneren wusste sie, dass sie kurz vor einem hysterischen Anfall stand, doch auch das konnte ihre Erheiterung nicht zügeln.
Hralfor beobachtete Hannah beunruhigt, zuckte aber schließlich mit den Achseln. Es war besser, sie lachte über diese Situation, als dass sie in Panik geriet. Sie hatte bisher sowieso schon erstaunliche Stärke darin bewiesen, wie sie mit den für sie unerklärlichen und lebensbedrohenden Erlebnissen zurechtgekommen war. Sie hatte sogar einen der Verbannten abgewehrt und sich damit vor einem schrecklichen Schicksal bewahrt.
Grimmig presste er die Lippen aufeinander, als er daran zurückdachte, wie knapp sie vorhin einer Entführung entgangen war. Ohne ihre Geistesgegenwart wäre er zu spät gekommen. Wenn er sich vorstellte, was sie auf dem Kontinent der Verbannten erwartet hätte, kam ihm seine eigene vertrackte Lage in dieser fremden Welt regelrecht harmlos vor. Irgendwie würde er schon einen Weg finden, der ihn hier wieder herausbrachte. Es war schließlich nicht das erste Mal, dass er gegen seinen Willen in einer fremden Welt festgehalten wurde. Allerdings war er dem Mädchen doch sehr dankbar dafür, dass sie ihm Unterschlupf gewährte, bis er sich ein wenig orientiert hatte. Er warf Hannah noch einen kurzen, prüfenden Blick zu. Es hatte sie eine Menge Mut gekostet, ihm, der auf sie wie eine furchterregende Bestie wirken musste, dieses Angebot zu machen. Aber dass sie über Mut verfügte, hatte er schon gewusst, als sie nicht die Flucht ergriffen hatte, sobald sich ihr die Gelegenheit dazu geboten hatte.
Sie waren mittlerweile im Wohngebiet angekommen und die Lichter der Straßenlampen beleuchteten die beiden Passanten erbarmungslos.
Hannah beschleunigte ihre Schritte, bis sie beinahe rannte. Der Fremde blieb weiterhin völlig lautlos an ihrer Seite. Die Gefahr, entdeckt zu werden, war jetzt am größten. Es war kurz vor Mitternacht und in den Fenstern einiger Häuser brannte Licht. Wenn nur einer der Bewohner zufällig hinausblickte, steckten sie in Schwierigkeiten. Hannah sprach ein Stoßgebet nach dem anderen. Sie erwartete, jeden Augenblick einen entsetzten Aufschrei zu hören. In der Ferne glaubte sie sogar, eine Polizeisirene zu vernehmen.
Alle Müdigkeit war plötzlich wie weggeblasen. Ihr Herz schlug hart gegen ihre Rippen und sie lief noch schneller. Nur noch wenige Häuser, dann kamen sie zu dem kleinen Weg, der zum Haus ihrer Cousine führte. Dort gab es nur eine einzige, recht trübe Straßenlampe und die Gärten der Nachbarn waren von hohen, dichten Hecken eingefasst.
Erleichtert seufzte Hannah auf, als sie schließlich in diesen Weg einbogen. Sie verlangsamte ihre Schritte und atmete erst einmal tief durch. Ganz allmählich beruhigte sich auch ihr rasender Puls.
Das ist völlig verrückt. Ich habe gerade fast genauso viel Angst gehabt wie während des Überfalls, bei dem ich doch in Lebensgefahr war. Verwirrt runzelte sie die Stirn. Es wird höchste Zeit, dass ich endlich ins Bett komme. Ich bin schon völlig überdreht. Unbehaglich zog sie die Schultern hoch, als sie daran dachte, dass sie in dieser Nacht nicht allein sein würde.
Sie waren nun vor dem Haus ihrer Verwandten angekommen und Hannah sah prüfend zu dem hochgewachsenen Fremden auf, der ihren Blick ruhig erwiderte. In seinen glühenden Augen glaubte sie, Verständnis für ihre Lage zu erkennen. Sofort fühlte sie sich ein wenig besser.
»Wir sind jetzt da«, murmelte sie.
Ungeschickt holte sie den Schlüssel aus der Jackentasche und fummelte eine Weile fluchend mit unsicheren Händen am Schloss herum. Als der Schlüssel endlich steckte und mit einem leisen Klicken das Schloss öffnete, seufzte sie erleichtert auf.
Hralfor hatte mittlerweile das Fahrrad von der Schulter gehoben und an die Hauswand gelehnt. Nach kurzem Zögern nahm er ihren Rucksack vom Gepäckträger, dann folgte er Hannah in den dunklen Hausflur. Ohne das Licht anzuschalten, lief sie zu der Tür, die in die kleine Einliegerwohnung führte und öffnete sie. Hier machte sie Licht und hielt Hralfor die Tür einladend auf.
Die Wohnung bestand aus einem größeren Wohnraum mit Küchenzeile, einem kleinen Bad und einem winzigen Schlafzimmer. Kurz spielte Hannah mit dem Gedanken, den Fremden in den oberen Räumen ihrer verreisten Cousine einzuquartieren, aber irgendwie erschien ihr das wie ein Vertrauensbruch ihren Verwandten gegenüber. Hannah seufzte auf. Sie musste eben einfach damit klarkommen, auf engstem Raum mit diesem Fremden zu wohnen. »Du kannst hier im Wohnraum schlafen. Allerdings fürchte ich, dass die Couch für dich zu kurz ist.«
Es handelte sich um einen Zweisitzer von höchstens einem Meter fünfzig Länge. Sie konnte ein nervöses Grinsen nicht unterdrücken, als sie sich vorstellte, wie Hralfor seine lange Gestalt darauf unterzubringen versuchte. »Ich habe aber irgendwo noch eine Isomatte herumliegen sehen. Zusammen mit ein paar Decken könnte es gehen.«
Hralfor hob beschwichtigend die Hand. »Mach dir keine Mühe, ich kann sehr gut auf dem Boden ruhen.«
»Quatsch!«, entfuhr es Hannah. »Ich hole dir die Sachen. Mach es dir in der Zwischenzeit gemütlich. Ach ja, hinter der Tür dort ist das Bad.«
Unsicher sah sie den Fremden an. Vielleicht konnte er ja überhaupt nichts mit einem Bad anfangen?
Hralfor deutete ihren Blick ganz offensichtlich richtig. Auf seinem Gesicht erschien ein amüsiertes Lächeln. »Keine Angst. Ich bin mit der Bedeutung eines Bades durchaus vertraut. Die Bewohner meiner Heimatwelt sind ein sehr reinliches Volk.«
Bei seinen Worten lief Hannah knallrot an. Verlegen stammelnd zog sie sich zurück, um die Isomatte und die Decken zu holen. Sie war froh, einen Grund zu haben, um aus seiner übermächtigen Präsenz zu fliehen.
Verdammt, Hannah, da hast du ja ein schönes Ei gelegt! Ein Glück nur, dass er Humor zu besitzen scheint. Er muss ja denken, ich glaube, er kommt aus der Steinzeit oder schlimmer noch, ich halte ihn für ein Tier. Bei diesem Gedanken stöhnte sie auf. Ich brauche dringend ein Lehrbuch darüber, wie man mit wild aussehenden Außerirdischen umgeht, ohne sie vor den Kopf zu stoßen.
Viel zu schnell hatte sie die Sachen im Keller gefunden und ging damit recht zögerlich wieder in ihre Wohnung. Der Fremde wandte ihr den Rücken zu und blickte durch einen Spalt des Vorhangs hinaus in den Garten. Er trug nach wie vor seinen Umhang und sah so aus, als wollte er das Haus jeden Moment wieder verlassen.
Eilig machte sie sich daran, die Isomatte in dem geräumigsten Winkel des Zimmers auszurollen. Als sie die Decken so darüber drapierte, dass seine lange Gestalt einigermaßen weich liegen konnte, wurde sie von Hralfors heiserer Stimme aufgeschreckt.
»Ich weiß, dass das alles schwierig für dich ist und bin dir sehr dankbar für deine Hilfe. Ich kann dich nur bitten, mir zu glauben, dass ich dir kein Leid zufügen werde.«
Langsam drehte er sich zu ihr um. Hannah stockte kurz der Atem, als das Licht der Zimmerlampe sich in seinen Augen fing und sie hell aufglühen ließ. Er betrachtete sie prüfend. »Wenn dich meine Anwesenheit zu sehr ängstigt, werde ich sofort gehen. Du bist todmüde und benötigst Schlaf. Da sollten dich keinerlei Ängste quälen.«
»Ich bin wirklich müde, und eigentlich habe ich keine richtige Angst vor dir. Ich glaube dir, dass du mir nichts tun wirst.« Hannah schluckte. »Aber ich habe Angst davor, dass ich dich auf irgendeine Weise beleidigen oder verletzen könnte. Deine Art ist mir einfach fremd, und das macht mich so unsicher. Wenn du mir erklärst, was das alles hier zu bedeuten hat … Ich bin sicher, dann wird es für mich einfacher zu verstehen.« Hannahs Stimme war zum Schluss nur noch ein Flüstern, doch der Fremde verstand sie genau.
Ein verständnisvoller, sehr freundlicher Blick traf sie. »Du wirst mich nicht beleidigen. Ich weiß, wie meine Art auf euch Menschen wirkt. Du warst sehr tapfer und nichts, was du gesagt hast, hat mich in irgendeiner Weise verletzt. Aber im Moment bist du zu erschöpft, um dir meine Erklärungen anzuhören. Du kannst ja kaum noch stehen und brauchst dringend etwas Schlaf. Also bitte ich dich, mir weiter zu vertrauen. Wenn du ausgeruht bist, werde ich versuchen, dir deine Fragen zu beantworten. Bis dahin schiebe ruhig ein schweres Möbelstück vor deine Tür und schließe sie ab. Das wird mich nicht verärgern, denn es ist eine ganz natürliche Reaktion auf diese Situation.«
Bei seinen Worten überkam Hannah ein Gefühl der Dankbarkeit. Er verstand sie wirklich und er war unglaublich mitfühlend.
Natürlich hätte sie ihn am liebsten sofort über sich ausgefragt, doch er hatte recht. Sie war mittlerweile so erschöpft, dass sie sich kaum noch auf den Beinen halten, geschweige denn einen zusammenhängenden Gedanken fassen konnte. Und für das, was er ihr zu erzählen hatte, benötigte sie sicher einen klaren Kopf.
Tatsächlich war sie so müde, dass sie nicht einmal wusste, ob das alles hier nicht einfach nur ein total verrückter Traum war. Nur eines wusste sie plötzlich ganz genau, nämlich dass sie wirklich keine Angst vor ihm haben musste. Im Gegenteil, mit ihm im Haus war sie sicherer, als sie es bisher alleine gewesen war. Sie konnte sich keinen Einbrecher vorstellen, der ihm gewachsen war.
Bei diesem Gedanken trat ein erleichtertes Lächeln auf ihr Gesicht. »Ich werde nichts dergleichen tun. Ich habe keine Lust, jedes Mal, wenn ich auf die Toilette muss, eine Kommode zur Seite zu rücken. Und überhaupt«, vielsagend sah sie ihn an, »glaube ich nicht, dass irgendein Möbelstück hier schwer genug ist, um dich daran zu hindern, in ein Zimmer zu kommen, wenn du das möchtest, stimmt’s?«
Prüfend sah er sich das Mobiliar an. Dann hob er die Schultern und grinste Hannah an. »Nein, ich glaube auch, dass es in diesem Fall sinnlos wäre.«
Hannah starrte Hralfor verblüfft an. Sein Gesichtsausdruck war nun geradezu übermütig und das verschwörerische Grinsen gab ihm etwas unwiderstehlich Jungenhaftes. Ihr Magen begann leicht zu flattern, aber diesmal nicht vor Angst. In diesem Moment hatte sie nur einen Wunsch, sie wollte diesen faszinierenden Fremden besser kennenlernen. Und vielleicht konnten sie ja sogar Freunde werden.
Mit einem Mal kam ihr die Vorstellung, dass Hralfor einige Zeit bei ihr verbringen würde, überhaupt nicht mehr beängstigend vor. Im Gegenteil, sie freute sich darauf. Außerhalb der Tierklinik hatte sie sich in der fremden Stadt doch manchmal etwas einsam gefühlt. Davon konnte jetzt keine Rede mehr sein. Sie war schon sehr gespannt auf den nächsten Tag, an dem sie zum Glück freihatte. Er würde bestimmt interessant werden.
»Also, dann mach ich mich mal fertig und gehe schlafen«, brachte sie lächelnd hervor. »Fühl dich wie zu Hause – und schlaf gut.« Sie wollte sich schon umdrehen, als ihr noch etwas einfiel. »Ach, übrigens, ich heiße Hannah.«
Schnell lief Hannah in das kleine Bad, das sie nach kurzem Zögern dann doch verriegelte.
Sie musste jetzt erst einmal unter die Dusche, egal, wie spät es war. Schon allein wegen der Arbeit in der Klinik hatte sie jeden Abend das Bedürfnis zu duschen. Durch die schrecklichen Erlebnisse heute Nacht fühlte sich Hannah noch schmutziger und regelrecht besudelt. Bei der Erinnerung an den stechenden Geruch ihrer Angreifer schauderte es sie. Hannah stellte den Strahl der Dusche noch heißer ein, bis sie das Gefühl hatte, der ganze Schmutz würde von ihrer Haut weggebrannt.
Seltsam, Hralfor riecht irgendwie anders als die drei anderen. Er sieht auch nicht genauso aus wie sie. Seine Augen sind dunkler und sein Gesicht ist nicht so hager und viel kantiger. Und Mund und Nase sind bei ihm auch irgendwie … menschlicher.
Hannah schloss die Augen, um sich die Unterschiede deutlicher vor Augen zu führen. Doch sie hatte ihn fast nur im Dunkeln gesehen, ebenso wie die drei anderen.





