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Es ist mehr so ein Gefühl, dass er anders ist. Er wirkt weniger wild, eher sanft, obwohl er sie im Kampf besiegt hat. Aber es hat ihm keinen Spaß gemacht, sie zu töten, da bin ich mir ganz sicher. Während die anderen so aussahen, als würden sie rein zum Vergnügen töten.
Wieder schauderte es sie, als sie an den hasserfüllten Blick des Fremden dachte, den sie verletzt hatte.
Entschlossen verdrängte Hannah die Erinnerung an ihr furchtbares Erlebnis und stellte die Dusche ab. Heftig rubbelte sie ihre Haare trocken und kämmte sie gründlich durch. Ihr langes, dunkelblondes Haar war ziemlich kraus. Wenn sie es jetzt nicht glatt föhnte, würde es morgen in alle Richtungen abstehen. Aber sie war viel zu müde dazu, also flocht sie es stattdessen zu einem dicken Zopf. Das musste genügen. Dann putzte Hannah noch schnell ihre Zähne und griff zu ihrem Nachthemd, als sie mitten in der Bewegung innehielt.
Ich glaube, in Trainingshose und T-Shirt fühle ich mich heute Nacht wohler.
Schnell streifte sie ihre alte, blaue Jogginghose über und schlüpfte in ein weites T-Shirt, das ihr ihre kleineren Geschwister zum Abschied bemalt hatten. Es war über und über mit den unterschiedlichsten Tieren in allen Regenbogenfarben versehen. Da saß ein knallgrünes Kaninchen – vielleicht sollte es aber doch eher ein kleines Krokodil sein? – neben einem quietschgelben Elefanten, ein blauer Affe kletterte auf einer Giraffe herum, die tatsächlich gelbbraun war, und ein scharlachroter Fuchs rannte hinter einem rosafarbenen Pferd her. Hannah hatte dieses Kleidungsstück sofort geliebt. Auch jetzt fühlte sie sich gleich besser, sobald sie es anhatte. Es gab ihr ein Gefühl der Normalität zurück, das sie im Moment so dringend benötigte.
Als Hannah endlich erleichtert in ihr Bett fiel, musste sie erkennen, dass sie, so müde sie auch war, dennoch nicht einschlafen konnte. Unruhig wälzte sie sich herum, während unaufhörlich die schrecklichen Bilder des Überfalls in ihrem Kopf erschienen. Außerdem bemerkte sie, dass sie ziemlich hungrig war. In ihrer knappen Mittagspause hatte es gerade einmal zu einem belegten Brötchen gereicht. Aber daran konnte sie jetzt nichts ändern. Sie würde den Teufel tun und noch einmal ihr Bett verlassen.
Ganz allmählich glitt Hannah in einen leichten Dämmerschlaf, in dem sich ihre Erlebnisse in Träume umwandelten, welche die Ereignisse verzerrt und fast noch grauenerregender abspulten. Sie war wieder alleine in einer dunklen Straße und die Silhouetten ihrer Angreifer ragten haushoch über ihr empor. Dann waren da plötzlich ein Rudel wilder Wölfe, das sie knurrend umzingelte, gelbe Augen, die aufblitzten und heißer Atem, der sie streifte. Ein riesiger Wolf sprang sie an. Sie konnte gerade noch den Arm hochreißen, als sich sein Fang tief darin vergrub. Der stechende Schmerz, den sie dabei verspürte, ließ Hannah wimmernd erwachen. Ihr Puls raste und der kalte Angstschweiß lief ihr über den Rücken. Zitternd lag sie in ihrem Bett, während sie versuchte, sich irgendwie zurechtzufinden.
Das war diesmal wirklich nur ein Traum. Mir ist nichts passiert. Ich bin in Sicherheit. Es war alles nur Einbildung.
Doch der brennende Schmerz aus ihrem Traum hielt an und erinnerte Hannah an die Verletzung, die sie tatsächlich erlitten hatte. Die Verletzung, die Hralfor so beunruhigt hatte.
Vorsichtig richtete sie sich auf und schaltete ihre Nachttischlampe an. Besorgt betrachtete sie die Kratzspuren an ihrem linken Unterarm. Sie sahen entzündet aus und leuchteten in einem ungesunden Rot.
Ich brauche diese seltsame Paste, die Hralfor mir gegeben hat. Bestimmt habe ich sie beim Duschen vom Arm abgewaschen und jetzt hat sie ihre Wirkung verloren.
Unwillig verzog sie das Gesicht.
Verdammt! Ich habe sie vorhin im Wohnzimmer liegen lassen. Ich kann da jetzt doch nicht einfach reinplatzen und Hralfor stören.
Langsam lehnte Hannah sich wieder zurück und versuchte, den immer stärker werdenden, stechenden Schmerz zu ignorieren. Doch dann erinnerte sie sich wieder an den eindringlichen Ton, mit dem Hralfor sie vor der Vergiftungsgefahr gewarnt hatte. Sie gab sich einen Ruck.
Ich schleiche mich ganz vorsichtig rein. Vielleicht merkt er ja nichts.
Doch eigentlich glaubte sie selbst nicht daran, dass ihm irgendetwas entgehen könnte.
Hannah erhob sich seufzend, ging zur Tür und öffnete sie so leise wie möglich. Nur der weiche Schein ihrer Nachttischlampe fiel durch den Spalt der Zimmertür und beleuchtete schwach ihren Weg durch den Wohnraum. Der Tiegel mit der Salbe befand sich in ihrer Jacke, und die hing an der gegenüberliegenden Wand direkt neben der Eingangstür. Vorsichtig lief sie zwischen den Möbelstücken hindurch, ertastete die Jacke und wollte sich leise mit der Salbe zurückziehen, als sie spürte, dass sie beobachtet wurde.
Er stand in derselben Haltung am Fenster wie vor zwei Stunden, als sie zu Bett gegangen war. Gebannt blickte Hannah in seine Augen, die das wenige Licht, das aus ihrem Zimmer kam, zu reflektieren schienen und wie zwei kleine Scheinwerfer glühten. Hannah fühlte sich, als sei sie mitten in einem unwirklichen Traum gefangen.
Hralfors heisere Stimme brachte sie zurück in die Wirklichkeit. »Du hast wieder Schmerzen im Arm.«
Hannah nickte wortlos. Es war so dunkel, dass ihre Reaktion normalerweise unbemerkt geblieben wäre, doch sie war sich absolut sicher, dass Hralfor sie auch bei Nacht deutlich sehen konnte.
Sein weiteres Verhalten bestätigte ihre Vermutung. Mit langen, gleitenden Schritten kam er zu ihr, ohne in der Enge des Raumes das Mobiliar auch nur zu streifen. Wie schon einmal nahm er vorsichtig ihren Arm und betrachtete die entzündeten Striemen eingehend. Dann ergriff er den Tiegel, den Hannah in der Hand hielt, entnahm etwas von der Paste und massierte sie sorgfältig ein.
Wieder wurde sich Hannah der Hitze, die seinen Händen entströmte, überdeutlich bewusst. Eine Hitze, die ihr durch den ganzen Körper fuhr und jedes Kältegefühl vollständig auslöschte. Erst jetzt bemerkte sie, dass sie seit dem Überfall fröstelte und nicht einmal die heiße Dusche etwas dagegen ausgerichtet hatte.
Sobald die Paste verteilt war, ebbte der brennende Schmerz ab und verschwand schließlich vollständig. Hannah hätte am liebsten geschnurrt wie eine zufriedene Katze. Sie wollte beinahe protestieren, als Hralfor ihren Arm losließ und in eine weitere geheimnisvolle Tasche seines Umhangs griff.
Diesmal holte er eine aufgerollte Bandage hervor und ergriff erneut Hannahs Arm, um ihn zu verbinden. Der Stoff fühlte sich glatt und geschmeidig an und schmiegte sich weich an ihre Haut.
Nachdem Hralfor ihn geschickt befestigt hatte, strich er noch einmal sanft darüber, bevor er ihren Arm losließ. »Dieser Stoff stammt aus meiner Heimatwelt. Er wurde von den Heilenden auf besondere Art behandelt und wird die Wirkung der Heilpaste verstärken. Er kann immer wieder verwendet werden. Solange ich deine Gastfreundschaft genieße, kann ich den Verband regelmäßig erneuern, wenn du nichts dagegen hast.«
Völlig benommen schüttelte Hannah den Kopf. »Nein, natürlich nicht. Wie könnte ich auch? Es geht mir jetzt schon viel besser. Du bist ein sehr geschickter Krankenpfleger. Schade, dass ich dich nicht in die Klinik mitnehmen kann. Vielen Dank.«
Dann sah sie ihn forschend an. »Hast du die ganze Zeit am Fenster gestanden? Kannst du nicht schlafen?«
Hralfor schüttelte leicht den Kopf. »Wir benötigen nicht so viel Schlaf wie ihr Menschen. Es genügt mir schon, wenn ich etwas ruhen kann. Aber du hast noch lange nicht genug Schlaf bekommen, du solltest wieder zu Bett gehen.«
»Ich kann aber nicht schlafen, zumindest nicht, ohne Albträume zu haben«, seufzte Hannah. »Und außerdem bin ich furchtbar hungrig. Du hast doch auch schon eine Weile nichts mehr zu essen gehabt, wie wäre es mit einem nächtlichen Imbiss? Ich meine, ich weiß ja nicht, was du so isst, aber vielleicht finden wir irgendwas, das dir schmeckt.« Unsicher sah Hannah ihn an. Hoffentlich hatte sie jetzt nicht wieder etwas Dummes gesagt.
Doch da erschien auf seinem Gesicht erneut dieses übermütige Lächeln, und sie atmete erleichtert auf.
»Ich sterbe fast vor Hunger.« Er grinste. »Und soweit ich weiß, kann ich alles essen, was ihr Menschen zu euch nehmt.«
Befreit atmete Hannah auf. Dann nahm sie Hralfor spontan bei der Hand und zog ihn zu der kleinen Küchenzeile am anderen Ende des Raumes. »Na dann wollen wir mal sehen, was sich alles aus dem Kühlschrank zaubern lässt. Ich denke, es ist dann doch nicht der richtige Zeitpunkt, um groß zu kochen. Wir müssen also fürs Erste mit der kalten Küche vorliebnehmen. Aber zum Frühstück werde ich dir ein echtes irisches Frühstück machen, das verspreche ich dir.«
Im Nu hatte Hannah Brot, Butter, Käse und Wurst auf die kleine Theke gestellt, an der mit Mühe und Not zwei Personen Platz fanden. Dann verschwand ihr Kopf erneut im Kühlschrank und sie kam freudestrahlend mit weiteren Schüsseln hervor. »Kartoffelsalat und Fleischbällchen, ein Schnitzel und ein Rest Thunfischsalat. Ich sage dir, das wird ein Festschmaus.«
Fasziniert beobachtete Hralfor Hannah bei ihren Vorbereitungen. Sein Gesicht hatte sich zu einem ständigen, erheiterten Grinsen verzogen. Sie wirkte auf einmal so fröhlich und hatte offensichtlich jede Angst vor ihm verloren. Erst jetzt wurde ihm klar, wie sehr ihn ihr völlig verständliches Zurückweichen getroffen hatte.
Entspannt lehnte er sich zurück. Es war ihm egal, welche Speisen sie ihm anbot, solange nur diese freundschaftliche Vertrautheit zwischen ihnen bestehen blieb.
Hannah hatte inzwischen von allen Speisen ein wenig auf einen Teller gehäuft und stellte ihn nun vor Hralfor auf die Theke. »Du musst alles probieren. Und sag mir ganz ehrlich, was dir schmeckt und was nicht! Das macht es mir dann leichter, wenn ich für unsere weiteren Mahlzeiten einkaufen gehe.«
Gehorsam nahm Hralfor von jeder der Speisen einen Bissen, während Hannah ihn gespannt beobachtete. Schließlich lachte sie fröhlich auf. »Also die sauren Gurken sind ganz offensichtlich nicht dein Ding. Fisch und Fleisch gehen in Ordnung und beim Kartoffelsalat hast du mir richtig leidgetan. Aber Käse und Brot sind okay, nicht wahr?«
Etwas verlegen erwiderte er ihren fragenden Blick. »Du bist eine gute Beobachterin.«
Schnell legte Hannah ihm noch einige Scheiben Schinken auf den Teller. »Da, probier das. Ich glaube, der geräucherte Schinken wird dir auch schmecken. Tu dir keinen Zwang an, ich mag ihn eigentlich gar nicht so besonders. Wahrscheinlich habe ich ihn nur aus reiner Gewohnheit gekauft. Den gibt es bei mir zu Hause nämlich immer. Mein Vater und mein ältester Bruder würden dafür sterben.«
Interessiert beobachtete Hralfor den weichen Ausdruck auf Hannahs Gesicht, der bei dem Gedanken an ihre Familie erschien.
»Wie ist deine Familie?«, erkundigte er sich. »Hast du noch mehr Geschwister? Und warum lebst du hier allein?«
Also erzählte Hannah ihm von ihrem Vater, der ein kleines Musikgeschäft hatte, das er nach alter Familientradition von seinem Vater übernommen hatte; von ihrer Mutter, die aus Irland stammte, und die ihren Vater bei einem Musikfestival kennengelernt hatte; von ihren beiden älteren Brüdern und ihrer Schwester, die drei Jahre jünger war als Hannah. Sie beschrieb Hralfor ihre beiden jüngsten Geschwister, ein Zwillingspärchen, das nichts als Unsinn im Kopf hatte, und das sie ganz besonders liebte. Sie erzählte ihm, dass die beiden Kleinen ihr das T-Shirt, das sie gerade trug, eigenhändig bemalt hatten, damit sie sich in den sechs Wochen ihres Praktikums in der Tierklinik nicht zu traurig fühlte.
Hannah redete und redete und Hralfor hörte ihr aufmerksam zu. Immer, wenn sie mit ihren Erzählungen enden wollte, stellte er ihr weitere Fragen über ihr Leben und ihre Familie. Er erfuhr, dass sie Klavier und Geige spielte und bis vor Kurzem nicht gewusst hatte, ob sie lieber Musik oder Tiermedizin studieren sollte. Aus diesem Grund hatte sie sich auch für dieses Praktikum entschieden, das ihr viel Spaß machte.
Während Hralfor Hannah wie gebannt zuhörte, ließ er ihr Gesicht keine Sekunde aus den Augen. Ihre Wangen hatten während ihrer Erzählung eine rosige Farbe angenommen und der Ausdruck ihrer sprechenden Augen änderte sich ständig, je nachdem, wovon sie gerade erzählte.
Sie hatte klare, sturmgraue Augen, die jedes ihrer Gefühle deutlich widerspiegelten. Fasziniert bemerkte er, dass auf ihrem Nasenrücken winzige, goldene Punkte saßen, die ihr ein fröhliches Aussehen verliehen. Ebenso wie die einzelne, gekräuselte Haarsträhne, die sich aus dem langen Zopf gelöst hatte und hartnäckig in ihr Gesicht fiel, obwohl Hannah sie immer wieder ungeduldig zurückstrich.
Ihre Haare waren noch feucht und sein feiner Geruchssinn nahm jeden einzelnen der verschiedenen Düfte war, die Hannah umgaben. Da waren einmal der Geruch der Paste, mit der sie ihre Haare behandelt hatte und der Duft einer anderen Paste, mit der sie ihren Körper gereinigt hatte. Der frische, scharfe Geruch, der vorhin ihrem Mund entströmt war, wurde nun durch die verschiedenen Speisen überdeckt, die sie zu sich genommen hatte. Er hätte genau aufzählen können, um welche Speisen es sich dabei gehandelt hatte. Ganz fein konnte er auch noch den Geruch der Tiere erkennen, die sie im Verlauf des Tages versorgt hatte. Und natürlich den Kräuterduft der Heilpaste auf ihrem Arm. Doch unter all diesen vielen Gerüchen lag Hannahs ganz eigener Duft verborgen. Es war ein sehr angenehmer, ja, anziehender Duft, der seinen Geruchssinn umschmeichelte.
Voller Genuss lauschte er Hannahs Stimme, die – im Gegensatz zu seiner eigenen – weich und ungeheuer melodisch war. Sie erinnerte ihn an die Stimme seiner Pflegemutter, die ähnlich klangvoll war. Leise Sehnsucht nach seiner Heimatwelt stieg in ihm auf. Seine Mutter würde Hannah lieben, da war er sich sicher.
Schnell verdrängte er die wehmütigen Gedanken und konzentrierte sich wieder auf das Mädchen vor ihm. Dabei fiel ihm auf, dass ihre Stimme nun schläfrig wirkte und die Schatten unter ihren Augen sich vertieft hatten.
Natürlich, wie hatte er nur so gedankenlos sein können? Die Freude an ihrer Gesellschaft hatte ihn völlig vergessen lassen, dass sie ein viel größeres Schlafbedürfnis hatte als er, vor allem nach den schrecklichen Erlebnissen der vergangenen Nacht.
Vorsichtig beugte er sich vor und berührte leicht Hannahs Hand. »Du musst todmüde sein. Es tut mir leid, dass ich dich so lange aufgehalten habe. Du solltest versuchen, noch etwas zu schlafen.«
Benommen starrte Hannah auf seine Finger, die auf ihrem Handrücken ruhten. Da war sie wieder, diese unglaubliche Wärme, die ihnen entströmte. Fragend sah sie Hralfor ins Gesicht. »Was habt ihr eigentlich für eine Körpertemperatur?«
Es dauerte eine Weile, bis Hralfor ihre Frage richtig verstanden hatte, dann lachte er leise auf. Sie erinnerte ihn an die Anfänge seiner Bekanntschaft mit seiner Pflegemutter. Sie hatte ihn damals dasselbe gefragt, als sie nicht sicher war, ob er krank war oder nicht. »Ich glaube, mir wurde einmal gesagt, dass meine Körpertemperatur ungefähr drei Grad über der menschlichen liegt, was auch immer das bedeutet.«
Vorsichtig nahm Hannah Hralfors Hand zwischen ihre beiden Hände und seufzte wohlig auf. »Das bedeutet, dass deine Berührung für uns Menschen ausgesprochen warm und angenehm ist.«
Hralfors Augen strahlten erfreut auf. Er legte nun auch seine andere Hand fest auf ihre miteinander verschlungenen Hände. »Das freut mich. Aber du solltest jetzt wirklich ins Bett gehen, sonst schläfst du noch im Sitzen ein.«
3
Die Sonne schien bereits hell in ihr Zimmer, als Hannah endlich erwachte. Genüsslich räkelte und streckte sie sich. Sie hatte tief und fest geschlafen, auch wenn sie irgendwann im Verlauf der Nacht diesen abscheulichen Albtraum gehabt hatte. Angewidert verzog Hannah das Gesicht.
Komisch, ich habe in der letzten Zeit doch weder einen Horrorfilm noch einen Science-Fiction angeschaut. Schon seltsam, was einem das Unterbewusstsein manchmal für Streiche spielt. Dabei hat sich der Schmerz im Arm richtig echt angefühlt.
Unwillkürlich fasste sie sich an den linken Arm und erstarrte.
Mist! Fassungslos betrachtete Hannah den seltsamen Verband, der ihren Unterarm bedeckte. Ihre Augen wanderten in hilflosem Entsetzen zu ihrer Zimmertür. Wenn der Verband echt ist, war der Rest auch kein Traum. Das bedeutet, im Nebenzimmer ist Hralfor!
Ihr Herz machte einen kleinen, erschrockenen Satz. Dann erinnerte sie sich an ihre gemeinsame, nächtliche Mahlzeit und Hannah sprang aufgeregt aus dem Bett. Ein Blick zur Uhr ließ sie erstarren. Es war schon nach zehn. Sie hatte über sechs Stunden geschlafen wie eine Tote.
Verdammt, ich hab ihm doch ein irisches Frühstück versprochen! Und Kilroy wird auch ganz schön sauer sein, dass ich ihn noch nicht hereingelassen habe.
Eilig lief sie zur Tür, holte noch einmal tief Luft und öffnete sie vorsichtig.
Er war noch da und stand wieder an seinem Lieblingsplatz am Fenster. Erleichtert atmete Hannah auf. Es waren also doch keine Hirngespinste gewesen, in ihrer Wohnung befand sich tatsächlich jemand aus einer fremden Welt.
Langsam drehte Hralfor sich zu Hannah um und konnte sich ein leises Grinsen nicht verkneifen. Sie wirkte so rührend verwirrt, wie sie dastand mit ihrem zerknitterten, bunten Hemd und dem völlig zerzausten Haar. Den strengen Zopf vom Vorabend konnte man nur noch erahnen und mehr als eine Haarsträhne kräuselte sich nun um ihr Gesicht. Doch die Schatten unter ihren Augen waren verschwunden, wie er befriedigt bemerkte.
Er selbst hatte auf dem provisorischen Lager, das Hannah ihm so fürsorglich aufgeschlagen hatte, ebenfalls einige Stunden gut geruht.
Er deutete nach draußen. »Irgendein Tier streicht seit einiger Zeit um dieses Haus und möchte offensichtlich hereingelassen werden.«
Hannah stöhnte auf. »Kilroy! Der wird eine Stinklaune haben. Es ist zwei Stunden über seiner üblichen Frühstückszeit.«
Schnell rannte sie aus der Wohnung und riss die Eingangstür auf. Mit einem wütenden Grummeln schoss ein gewaltiger, orange-weißer Blitz ins Haus in Richtung Hannahs Wohnungstür und blieb dann wie erstarrt und mit gesträubtem Fell im Flur stehen. Hralfor war Hannah langsam gefolgt, um die Ursache ihrer Aufregung zu sehen und betrachtete völlig fasziniert das wütende Geschöpf, das fauchend vor ihm stand. Ganz langsam ging er in die Knie und gab dabei ein sanftes Knurren von sich.
Fassungslos beobachtete Hannah, wie Kilroys Fell sich lang-sam wieder glättete, während er vorsichtig auf den Fremden zuging. Als der Kater, der fremde Menschen normalerweise zutiefst verabscheute, auch noch zu schnurren begann und seinen Kopf an Hralfors Hand rieb, schüttelte sie ungläubig den Kopf. »Das gibt’s doch gar nicht. Das macht er sonst nie. Was hast du mit ihm angestellt? Zuerst dachte ich, er geht gleich auf dich los.«
Hralfor blickte zu ihr auf. »Mein Geruch hat ihn geängstigt. Ich habe ihm klargemacht, dass ich ihm nichts tun werde.«
»Aha.« Misstrauisch sah Hannah ihn an. »Du willst damit doch nicht etwa sagen, dass du mit Katzen sprechen kannst?«
Interessiert betrachtete Hralfor den Kater. Er schien nicht zu bemerken, wie seine Äußerung auf Hannah gewirkt hatte. »Also ist er tatsächlich eine Katze? Das ist seltsam. Die einzige Katze, die ich kenne, ist grau und viel kleiner. Allerdings hat sie einen ähnlichen Geruch wie dieser hier.«
Hannah seufzte auf, weil Hralfor ihre Frage nicht beantwortet hatte. »Kilroy ist tatsächlich eine männliche Katze, obwohl ich das manchmal wirklich bezweifle. Er ist einfach viel zu fett. Aber du hast mir noch nicht geantwortet. Kannst du mit Tieren sprechen?«
Erstaunt sah er zu ihr hoch, während Kilroy sich euphorisch schnurrend von ihm den Kopf kraulen ließ. »Ich kann nicht richtig mit ihnen sprechen, sondern mich in Gedanken ein wenig mit ihnen verständigen. Aber das tust du doch auch.«
»Nein, wie kommst du denn darauf?« Hannah schüttelte den Kopf. »Ich kann vielleicht durch meine Beobachtungen manchmal erraten, was ein Tier will, aber das würde ich nicht als richtige Verständigung ansehen.«
Nachdenklich stand Hralfor auf, was von Kilroy mit einem unwilligen Maunzen quittiert wurde. »Nun, es ist zumindest eine Art der Verständigung. Ich bin vielleicht etwas geschulter darin als du, da ein guter Freund von mir mich ein wenig darin unterwiesen hat. Er hat tatsächlich die Fähigkeit, mit Tieren zu sprechen. Das ist in meiner Heimatwelt ein häufig auftretendes Talent.«
Hannah sah Hralfor grübelnd an. »Ich habe dir heute Nacht fast meine ganze Lebensgeschichte erzählt. Ich finde, jetzt bist du dran, mir etwas über dich und deine Welt zu verraten, meinst du nicht auch?«
Ein vorsichtiges Lächeln erschien in den schmalen Augen. »Ich werde versuchen, dir deine Fragen so gut wie möglich zu beantworten, solange niemandem daraus ein Schaden entsteht.«
Hannah nickte zustimmend. Fürs Erste würde sie sich damit zufriedengeben, auch wenn er offensichtlich irgendeinen geheimnisvollen Aspekt seines Lebens für sich behalten wollte. Vielleicht würde er ihr irgendwann einmal so vertrauen, dass er ganz offen zu ihr war.
»Also gut. Aber zuerst bekommst du das versprochene Frühstück, und Kilroy auch, sonst lässt er dich gar nicht mehr in Ruhe.« Hannah zögerte kurz, dann sah sie Hralfor neugierig an. »Was hast du vorhin damit gemeint, dass ihn dein Geruch geängstigt hat?«
»Es ist ein ähnlicher Geruch, wie er seinen natürlichen Feinden anhaftet«, erklärte Hralfor.
»Ich verstehe.« Nachdenklich schaute sie zu Boden. Dann richtete sie sich auf und blickte ihm geradewegs in die Augen. »Heute Nacht habe ich diesen Geruch an den drei Fremden auch wahrgenommen, aber bei dir ist es völlig anders. Woran liegt das?«
»Dafür gibt es verschiedene Gründe. Einer davon ist die Art der Ernährung.« Er blickte sie besorgt an. Wie würde sie seine weitere Erläuterung aufnehmen? Würde sie auch ihn danach nur noch mit Abscheu betrachten können? »Diese Vargéris waren Verbannte und ernährten sich ausschließlich von dem rohen Fleisch ihrer frisch gerissenen Beute …«
Hannah wurde bei seinen Worten kreidebleich. »War es das, was sie mit mir vorhatten?«
Unsicher fuhr Hralfor sich mit beiden Händen durch seine schwarze Haarmähne. »Nein, ich fürchte, dir hat ein schlimmeres Schicksal geblüht. Sie hätten dich in ihre Welt entführt und missbraucht, bevor sie dich schließlich irgendwann … getötet hätten.«
Hannah schloss entsetzt die Augen. Ihr war speiübel. Hralfor beobachtete besorgt, wie sie ins Schwanken geriet, doch nach diesen Eröffnungen wagte er zunächst nicht, sie zu be-rühren. Als er jedoch befürchten musste, dass sie bewusstlos wurde, fasste er sie vorsichtig an den Schultern.
Dankbar lehnte Hannah sich gegen seine Brust und spürte erleichtert, wie das Schwindelgefühl langsam abebbte, während seine Wärme sie umfing und das entsetzliche Kältegefühl beseitigte, das sie bei seinen Worten befallen hatte.
Verstohlen nahm sie einen Atemzug. Sein Geruch war tatsächlich anders als der dieser Bestien. Es war dennoch kein menschlicher Geruch. Er hatte etwas Wildes und Ursprüngliches an sich, das Hannah das Gefühl gab, in Sicherheit und gut behütet zu sein.
Als Hralfor spürte, wie Hannah sich in seinen Armen langsam entspannte, schloss er erleichtert die Augen. Seine Worte hatten nicht, wie befürchtet, neue Ängste in ihr geweckt. Er atmete ihren Duft ein und lauschte dem Schlag ihres Herzens, der sich allmählich wieder beruhigte.
Als Hannah schließlich den Kopf hob und ihn ansah, hatten ihre Augen die Farbe einer Gewitterwolke. »Ich glaube nicht, dass ich dir schon ausreichend für meine Rettung gedankt habe. Aber nachdem ich das alles jetzt weiß, glaube ich, dass kein Dank jemals groß genug sein könnte.«
Hralfor drückte sanft ihre Schultern, bevor er sie losließ und einen Schritt zurücktrat. Sein Lachen wirkte erleichtert und unbeschwert. »Das werde ich entscheiden, wenn ich endlich von diesem Frühstück gekostet habe, das du mir ständig ankündigst.«
»Einverstanden.« Hannah nickte. »Und dann erzählst du mir so viel wie möglich aus deinem Leben. Nach dem, was ich gerade eben erfahren habe, kann es wohl kaum noch schlimmer kommen.«






