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Bei diesen Worten richtete er seinen Blick auf Hralfor, dessen Gesicht einen nachdenklichen Ausdruck angenommen hatte.
»Ihr könnt euch nun sicher vorstellen, dass eine so umfassende Organisation nur mit einer großen Anzahl sehr verschwiegener Beschäftigter am Laufen gehalten werden kann. Und leider können wir nicht einfach unsere Stellenangebote in der Zeitung annoncieren oder ins Internet stellen. Aus diesem Grund bemühen wir uns, vor allem solche Personen anzuwerben, die auf irgendeine Weise schon einmal mit den Auswirkungen eines Interversalsprungs konfrontiert wurden. Diese Personen sind nach unseren Erfahrungen besonders vertrauenswürdig und verschwiegen.«
Jacobs Stimme war im Lauf des Gesprächs immer schnarrender geworden. Er schien tatsächlich ziemlich erschöpft zu sein. Und obwohl er nicht schwitzte, vertrug er die hochsommerliche Wärme offensichtlich nicht besonders gut. Immer häufiger fuhr er sich unbehaglich mit dem Finger in den Kragen seines hellblauen Hemdes, und öffnete schließlich den obersten Knopf.
Hralfor, der gegen Ende von Jacobs Erklärungen unauffällig und völlig lautlos aufgestanden war, um in die Küchenzeile zu gehen, stand plötzlich neben seinem Sessel und schenkte ihm wortlos frisches Wasser in sein Glas.
Ungläubig starrte Jacob in die gelb glühenden Augen. Er räusperte sich verlegen. »Vielen Dank, Großer, das ist echt aufmerksam von dir.«
Hralfor schenkte ihm ein ironisches Lächeln. »Keine Ursache. Und nachdem du nun Hannahs erste Fragen beantwortet hast, kommen wir zu ihrer letzten. Was genau willst du von uns?«
Sein Blick war jetzt stahlhart und bohrte sich forschend in Jacobs Augen.
»Jedenfalls nichts, wofür du mich gleich durchbohren müsstest, Großer«, erwiderte Jacob McLeod. »Ich dachte eigentlich, ich hätte es schon erklärt. Wir brauchen neue Leute, die uns bei der Arbeit helfen, und ihr beide steckt doch sowieso schon bis zum Hals in der Sache drin.«
Hralfors Augen verengten sich zweifelnd. »Was könnten wir schon groß helfen? Ein Vargéri, der überall, wo er auftaucht, für Panik sorgt und ein junges Mädchen, das noch nicht einmal in der Ausbildung steckt.«
»Jetzt aber mal langsam, Großer«, schnarrte Jacob. »Dein Aussehen hat dich bisher auch nicht daran gehindert, hier in dieser Welt den Aufpasser zu spielen und das sogar mit ziemlichem Erfolg. Und, ehrlich gesagt, haben wir bisher so gut wie keine Mitarbeiter, die allein auch nur annähernd mit einem Vargéri fertig werden könnten. Vor allem, weil unsere üblichen Betäubungswaffen fast keine Wirkung auf sie erzielen. Bei den Weltensprüngen der Verbannten musste bisher immer die Hälfte unserer Einsatzleute an den Sprungort geschickt werden, um eine Chance gegen sie zu haben. Wir wollen sie schließlich nur überwältigen und nicht töten. Und was die kleine Lady angeht …«
Hannah verdrehte genervt die Augen
»… sehe ich jede Menge Potenzial. Ein Mädchen, das von solchen Bestien angefallen wird und gleich danach einem von derselben Art Unterschlupf gewährt, damit ihm nichts zustößt, ist schon ziemlich außergewöhnlich. Die fällt sicher auch nicht gleich in Ohnmacht, wenn sie auf noch fremdartigere Parallelweltler trifft. Genau solche Leute brauchen wir. Außerdem denken wir längerfristig. Was macht das schon, dass sie ihre Schule noch nicht beendet hat? Wenn sie sich heute entschließen würde, bei uns mitzumachen, hätte sie morgen die Anmeldebestätigung für eine der besten Schulen in der Hand. Und dazu die Option, danach ein Studium ihrer Wahl zu machen.«
Er drehte sich hoffnungsvoll zu Hannah um. »Ich erwähnte doch bereits, dass die OCIA über ausgezeichnete Verbindungen verfügt. Wir beschäftigen Wissenschaftler, die zu den klügsten Köpfen dieses Planeten zählen. Du hättest die einmalige Chance, bei diesen Koryphäen zu lernen.«
Jacob klang so begeistert und Hannah musste zugeben, dass das, was er ihr da in Aussicht stellte, sie durchaus reizte.
Jacob, der das interessierte Funkeln in ihren Augen bemerkte, strahlte sie erwartungsvoll an. Dann fiel sein Blick auf Hralfor, der hoch aufgerichtet neben seinem Sessel stand und finster vor sich hin grübelte. Sein Gesicht hatte dabei einen so grimmigen Ausdruck angenommen, dass Hannah ihn entsetzt anstarrte. Es war derselbe Gesichtsausdruck, den er während seines Kampfes mit den Verbannten gehabt hatte. Sie hatte gehofft, ihn nie wieder sehen zu müssen.
Als Jacob nach einiger Zeit noch immer keine Reaktion auf seine Ausführungen erhielt, seufzte er und griff in die Innentasche seiner Jacke. Er zog zwei schmale Visitenkarten hervor und legte sie auf den Tisch. Dann erhob er sich langsam und ging zur Wohnungstür, wo er sich noch einmal zu Hannah und Hralfor umdrehte.
»Ich weiß, dass das alles ziemlich viel auf einmal ist. Ihr habt also etwas Bedenkzeit. Überlegt es euch gründlich. Ich glaube, so eine Chance werdet ihr nie wieder haben. Ich komme in zwei Tagen zurück, das müsste ausreichen.«
Er wollte schon gehen, als Hannah ihn mit schneidender Stimme zurückhielt.
»Einen Moment noch! Was ist mit der Blockade von Hralfors Rücksprung, oder wie Sie das auch immer nennen? Wird die jetzt aufgehoben?«
»Die Blockade wird in zwei Tagen aufgehoben, egal, wie er sich entscheidet. Bist du jetzt zufrieden, kleine Lady?«
»Nein, absolut nicht!«, fauchte sie zurück. »Was, wenn er innerhalb dieser Zeit doch noch entdeckt wird und dann keine Möglichkeit hat, zu fliehen? Haben Sie mal daran gedacht?«
Jacob begann nun, übers ganze Gesicht zu grinsen und blickte zu Hralfor. »Wie hast du es bloß geschafft, in so kurzer Zeit eine so leidenschaftliche Anwältin zu finden, Großer? Man könnte dich glatt beneiden. Und weißt du was? Egal, wie du dich entscheidest, ich werde alles daransetzen, das Mädchen für uns anzuwerben, auch wenn es die nächsten Jahre dauert.«
Dann wandte er sich wieder an Hannah, die ihn wütend anfunkelte. »Keine Sorge, kleine Lady, wir bleiben diesmal in der Nähe und passen auf, dass dem Großen nichts passiert. Aber auf diese Bedenkzeit von zwei Tagen müssen wir bestehen, sonst verschwindet er schon heute Nacht auf Nimmerwiedersehen, ohne in Ruhe über alles nachgedacht zu haben.«
Damit drehte Jacob sich endgültig um und verließ das Haus.
Hralfor war inzwischen an das Fenster geglitten und sah der gedrungenen Gestalt nachdenklich hinterher, bis sie außer Sicht war.
Lange Zeit herrschte Stille in der kleinen Wohnung, die Hannah schließlich mit angespannter Stimme durchbrach. »Was wirst du jetzt tun?«
Der Vargéri drehte sich langsam zu ihr um. Ein feines Lächeln lag auf seinem Gesicht. »Jetzt werde ich deinen Verband wechseln und hoffen, dass du mir deine Gastfreundschaft noch für weitere zwei Tage anbietest.«
Hannah schüttelte ungläubig den Kopf. Sie hatte mit allem gerechnet, aber nicht mit dieser sorglosen Ruhe. »Wie kannst du nach dem, was wir gerade erfahren haben, so cool sein? Für mich wurde gerade meine ganze Welt auf den Kopf gestellt. Ich komme mir vor wie in irgendeinem billigen Science-Fiction-Film. Und du denkst an meinen Verband! Was soll außerdem diese Frage? Na klar, kannst du hierbleiben, so lange du willst.«
Hralfor kam zu ihr und ging vor Hannah in die Hocke. Dennoch musste sie den Kopf heben, um in seine amüsiert funkelnden Augen zu blicken.
»Warum sollte ich mich aufregen? Im Grunde genommen hat dieser Besuch meine Lage nicht verschlechtert, sondern eher verbessert. Ich weiß nun, dass der Übergang in zwei Tagen wieder geöffnet sein wird. Das ist doch recht beruhigend. Im Übrigen habe ich durch Jacobs Worte nichts Neues erfahren, außer dass es auch hier, in dieser Welt, so etwas wie unsere Wachenden gibt. Du vergisst, dass mir schon seit einiger Zeit bekannt ist, dass mehr als eine bewohnte Welt existiert.«
Hannah schniefte. »Klar, du hast ja recht, für dich ist das alles fast schon alltäglich. Aber glaubst du ihm denn, wenn er sagt, dass er dich wieder gehen lassen wird?«
Seine Miene verfinsterte sich etwas. »In dieser Beziehung hat er nicht gelogen.«
Hannah sah ihn besorgt an. »Aber in anderen Dingen, oder?«
»Ich würde nicht sagen, dass er gelogen hat«, erwiderte er nachdenklich. »Er hat lediglich ein paar Tatsachen bei seiner Erklärung ausgelassen.«
Als er Hannahs fragenden Blick sah, lächelte Hralfor kurz. »Er hat zum Beispiel nicht alle Gründe genannt, warum er mich für diese Arbeit anwerben will.« Unwillig runzelte er die Stirn. »Er hofft, durch mich mehr über meine Heimatwelt herauszufinden. Und das werde ich nicht zulassen.«
Hannah nickte und spürte, wie bei seinen Worten der kleine Hoffnungsfunke erlosch, der vorhin bei Jacobs Angebot kurz in ihr aufgeflackert war. »Das bedeutet, dass du über sein Angebot gar nicht erst nachdenken musst. Dein Entschluss steht bereits fest, weil du deine Heimatwelt zu schützen hast.«
»Du musst das verstehen.« Hralfor griff sanft nach ihren Händen, die sie in ihrem Schoß verkrampft hatte. Sein Blick war eindringlich. »Sie haben die Möglichkeit, unsere Übergänge zu blockieren. Diesmal haben sie zum Glück mich erwischt. Aber ich wage nicht, darüber nachzudenken, was geschehen wäre, wenn sie einen der anderen Wachenden aufgegriffen hätten. Bisher wissen sie noch nicht, aus welcher Welt wir tatsächlich stammen, doch das könnte sich schlagartig ändern, wenn sie einen echten Abkömmling meiner Welt zu fassen bekommen. Ich muss meine Leute warnen. Unsere Übergänge hierher sind zu gefährlich – wir müssen sie einstellen. Das Abkommen mit Vargor muss rückgängig gemacht werden. Jetzt, da wir wissen, dass deine Welt über die vargérischen Übergriffe Bescheid weiß und sich auch selbst dagegen schützen kann, ist es nicht mehr nötig, dass wir uns einmischen.«
»Also wirst auch du dann nie mehr hierherkommen, nicht wahr?« Hannahs Stimme klang gepresst vor unterdrückter Tränen.
Hralfor fühlte sich, als würde ihm das Herz bei lebendigem Leib herausgerissen. »Jacob hat ganz bewusst nicht verraten, über welche Möglichkeiten sie noch verfügen. Wenn sie in der Lage sind, einen Sprungort auszumachen, können sie vielleicht auch herausfinden, wohin dieser Sprung führt. Jeder Weltenwechsel könnte ihnen deshalb den Weg in meine Welt weisen. Und das darf nie geschehen. Ich wage nicht, daran zu denken, welchen Schaden ein so kriegerisches Volk wie das der Menschen in meiner friedlichen Welt anrichten könnte.«
»Aber wie willst du das verhindern, wenn du in zwei Tagen wieder zurückkehrst?«, fragte Hannah besorgt.
Hralfor seufzte. »Das Risiko ist natürlich groß, doch ich werde zunächst nach Vargor wechseln und mich eine Weile dort auf-halten, um meine Spur zu verwischen. Dann muss ich jedoch dem Hohen Rat meiner Welt Bericht erstatten.«
Hannah runzelte besorgt die Stirn. »Wenn Jacob von deinen Absichten erfährt, lässt er dich vielleicht doch nicht gehen.«
Hralfor lachte grimmig auf. »Er wird nichts davon erfahren. Ein Vargéri versteht sich nicht nur aufs Kämpfen, sondern auch aufs Täuschen.«
Bei dieser Äußerung trat ein bitterer Ausdruck der Selbstverachtung auf Hralfors Gesicht, der Hannah betroffen machte. Schnell legte sie ihm eine Hand an die Wange.
»Wenn man jemanden täuscht, um andere dadurch vor einer Gefahr zu bewahren, ist das absolut nichts Schlechtes. Und wenn man es auch noch tut, obwohl es einem schwerfällt, ist das einfach nur selbstlos. Hör endlich auf, dich schuldig zu fühlen, weil dein Vater ein Verbrecher war.«
Sanft strich sie ihm mit dem Daumen über die dunkle, finster zusammengezogene Augenbraue und Hralfors Miene entspannte sich wieder. Seine raue Stimme klang bewegt. »Jacob hat recht, ich weiß nicht, womit ich deine Freundschaft überhaupt verdient habe. Ich wünschte, es gäbe eine andere Lösung. Du wirst mir fehlen.«
»Ja, du wirst mir auch fehlen, ich kann dir gar nicht sagen, wie sehr.« Vorsichtig zog sie ihre Hand zurück und seufzte tief auf. »Auf jeden Fall werden wir versuchen, es uns die nächsten beiden Tage so schön wie möglich zu machen. Morgen muss ich zwar in die Klinik, aber vielleicht kann ich meine Stunden übermorgen auf einen anderen freien Tag verlegen. Dann bleibt uns etwas mehr Zeit miteinander.«
Aufmunternd lächelte Hannah Hralfor an, doch der Eisklumpen in ihrem Magen war mittlerweile so groß geworden, dass er bereits an ihre Kehle heranreichte, sodass sie fürchtete, daran ersticken zu müssen.
Egal, wie viel Zeit sie in den nächsten beiden Tagen mit Hralfor verbringen konnte – es war immer noch zu wenig.
5
Eilig sprang Hannah aus dem Bus und rannte den letzten halben Kilometer von der Bushaltestelle zum Haus ihrer Verwandten.
Sie hatte sich heute kaum auf ihre Arbeit in der Tierklinik konzentrieren können, da ihr plötzlich ein schrecklicher Gedanke gekommen war. Was, wenn Jacobs Organisation nur darauf gewartet hatte, Hralfor allein anzutreffen, um ihn dann zu überwältigen, ohne Gefahr zu laufen, dass ihr dabei etwas zustieß? Wenn sie jetzt nach Hause kam und die Wohnung leer vorfand, konnte sie überhaupt nichts unternehmen. Niemand würde ihr glauben, wenn sie von einer Organisation namens OCIA berichtete, die angeblich Außerirdische aufgriff und in ihre eigene Welt zurückschickte. Man würde sie sofort in ärztliche Behandlung geben.
Das Herz klopfte ihr bis zum Hals und sie hatte schreckliches Seitenstechen, als sie schließlich daheim ankam. Mit zitternden Händen öffnete Hannah die Eingangstür.
Es war unnatürlich still, dabei hatte sie doch gehofft, Hralfor würde ihr bereits im Flur entgegenkommen, so wie er es am Vortag getan hatte.
»Hralfor?«
Ihre Stimme klang dünn und atemlos. Langsam ging sie zu ihrer Wohnungstür und öffnete sie.
Vor Erleichterung wären ihr beinahe die Tränen gekommen. Hralfor war noch da! Er lag ausgestreckt auf der kleinen Couch und hatte sich noch den Sessel dazu geschoben, um ausreichend Platz für seine langen Beine zu finden. Kilroy lag ekstatisch schnurrend auf seiner Brust und ließ sich wohlig kraulen.
Als Hannah das Zimmer betrat, öffnete der Kater die vor Wonne fest geschlossenen Augen ein wenig und blickte ihr ungnädig entgegen. Offensichtlich hielt er nichts davon, in seiner trauten Zweisamkeit mit Hralfor gestört zu werden. Als Hralfor nun ebenfalls seine Augen einen Spaltbreit öffnete, stockte Hannah der Atem. Ihr wurde mit einem Schlag wieder bewusst, dass Hralfors Augen ebenso wenig menschlich waren wie die des Katers. Allerdings sah er sie sehr viel freundlicher an, als Kilroy es tat.
»Na, lasst ihr es euch gut gehen?« Sie wäre am liebsten zu Hralfor gerannt, um sich ebenfalls an seine Brust zu schmiegen, so erleichtert war sie, dass er noch hier war, und dass ihre Ängste offensichtlich völlig unbegründet gewesen waren.
»Wir sind gemütlich, und das schon seit einiger Zeit«, erwiderte Hralfor und der heisere Klang seiner Stimme ließ Hannahs Herz noch schneller schlagen. »Eigentlich wollte ich heute für unser Nachtmahl sorgen, doch Kilroy hatte andere Pläne.«
Das vergnügte Funkeln in Hralfors Augen war nicht zu übersehen. Lachend ging Hannah zu ihm und begrüßte Kilroy mit einem zärtlichen Kraulen hinter seinem Ohr. Dabei berührte sie Hralfors Hand. Seine Wärme strömte in ihre Finger.
»Dann habt ihr beide also den ganzen Nachmittag auf der Couch gelegen und habt Männergespräche geführt?«, fragte sie belustigt.
»Du hast es erfasst.« Hralfor nickte ernsthaft, doch seine Augen glitzerten. Seine Finger hatten aufgehört, den Kater zu kraulen. Sie berührten nun leicht Hannahs Hand. »Kilroy hat mir von seinen Kämpfen mit den Nachbarkatzen erzählt und ehe wirs uns versahen, haben wir in Erinnerungen an unsere vergangenen Schlachten geschwelgt. Ach ja, ich glaube, er wird in nächster Zeit etwas weniger fressen. Ich konnte ihm klarmachen, dass es beim Kampf von Vorteil ist, wenn man nicht zu viel wiegt.«
Hannah setzte sich lachend neben Hralfor auf die Kante der Couch. Um nichts in der Welt wäre sie jetzt bereit, ihm ihre Hand zu entziehen. Während er von seinem Gedankenaustausch mit dem Kater berichtete, strichen seine warmen Finger sanft über Hannahs Handrücken und sandten wohlige Schauer durch ihren Körper.
Sie ließ ihn keine Sekunde aus den Augen und prägte sich jede Veränderung seines ausdrucksstarken Gesichts ein, um es später jederzeit und so deutlich wie möglich aus ihren Erinnerungen hervorholen zu können, das amüsierte Funkeln seiner neongrünen Augen, das kleine Zucken seines Wangenmuskels, wenn er die schmalen Lippen zu einem angedeuteten Lächeln verzog, seine dichten, schwarzen Augenbrauen, die sich in ständiger Bewegung befanden. Mal hoben sie sich fröhlich, dann zogen sie sich wieder nachdenklich zusammen.
Während er von Kilroys Kämpfen erzählte, glänzte es in seinen Augen auf und seine blitzenden, weißen Reißzähne wurden kurz sichtbar. Vor zwei Tagen hätte Hannah bei diesem Anblick noch schreiend Reißaus genommen, doch jetzt saß sie nur da und beobachtete ihren außergewöhnlichen Freund völlig fasziniert. Und das war er, ihr Freund – der beste, den sie je gehabt hatte oder jemals haben würde. Der Gedanke daran, dass er schon morgen Nacht wieder vollkommen aus ihrem Leben verschwand, ließ sie vor Kälte erstarren.
»Hannah?« Hralfor richtete sich besorgt auf und Kilroy schoss murrend von seiner Brust auf den Boden. Beunruhigt legte Hralfor seine Hand an Hannahs Wange. Sie fühlte sich eiskalt an. Das erschreckte ihn genauso wie der starre und trostlose Blick, mit dem das Mädchen durch ihn hindurchsah. »Hannah, was ist los?« Er fasste sie an den Schultern und rüttelte sie leicht.
Mit einem Ruck kam wieder etwas Leben in ihre Gestalt und sie sah ihn verwirrt und traurig an. Unsicher strich Hannah sich ihre Haare aus dem Gesicht. »Es tut mir leid. Ich war wohl kurz etwas weggetreten. Das wird nicht wieder vorkommen. Aber jetzt sollten wir uns um unser Essen kümmern. Es gibt die Reste von gestern, hast du etwas dagegen?«
Mit einem Lächeln versuchte Hralfor, seine Besorgnis zu überspielen. Ihr Anblick eben hatte ihm Angst gemacht. »Ich habe überhaupt nichts dagegen, wenn es genügend Reste sind.«
Hannah lachte auf. »Na, zur Not kann ich die Soße strecken und Spaghetti sind schnell gekocht.«
Für den Rest des Abends bemühte Hannah sich sehr, nicht wieder in melancholische Stimmung zu verfallen, schließlich wollte sie es für sich und Hralfor so angenehm wie möglich machen. Sie verdrängte jeden Gedanken an das, was in zwei Tagen sein würde, und bald saßen sie wie schon am Vortag beisammen und genossen die Gegenwart des anderen. Ab und zu ertappte sie Hralfor bei einem besorgten Blick, mit dem er sie prüfend musterte, doch im Großen und Ganzen gelang es ihnen, ihre gute Laune beizubehalten.
Hralfor stellte Hannah jede Menge Fragen über ihr Leben und ihre Welt. Er wollte alles von ihr wissen, um es gut in seinen Erinnerungen zu verwahren. Außerdem kannte er seine Mutter. Sie würde ihn nach ihrer alten Welt ausfragen, bis er völlig ausgequetscht war.
Was ihm blühen würde, wenn sie von seinen Gefühlen Hannah gegenüber erfuhr, daran wagte er gar nicht erst zu denken. Und es war vollkommen ausgeschlossen, dass sie seine wahren Gefühle nicht innerhalb kürzester Zeit erkannte. Sie hatte in ihm schon immer wie in einem offenen Buch gelesen. Das hatte es ihm als Kind nahezu unmöglich gemacht, irgendetwas vor ihr geheim zu halten.
Er sehnte sich nach seiner Heimatwelt. Aber noch stärker sehnte er sich danach, Hannah morgen Nacht einfach mit sich zu nehmen.
Ein scharfer Schmerz fuhr ihm bei diesem Gedanken durch den Leib. Er wäre dann nicht viel besser als sein Vater, den er auch über seinen Tod hinaus noch zutiefst verabscheute. Er musste aufpassen, dass seine Gefühle gegenüber Hannah ihn nicht zu Handlungen verleiteten, für die er sich irgendwann einmal selbst verabscheuen würde. Er sollte besser mehr Abstand zu ihr wahren, um die Situation für sie beide nicht noch zu verschärfen. Immerhin schien Hannah ihm gegenüber auch Gefühle zu hegen. Sie sah ihn als einen besonders guten Freund an, von dem ihr der Abschied schwerfallen würde. Das war schon schlimm genug.
Doch noch während er sich vornahm, sich langsam etwas von Hannah zu distanzieren, schrie alles in ihm auf.
Es bleibt doch nur noch ein Tag! Was kann ein Tag schon verschlimmern?
Seine Hand hob sich ganz von selbst, um Hannah die widerspenstige Haarsträhne hinter ihr Ohr zu streichen.
Diese Bewegung war mittlerweile schon so selbstverständlich zwischen ihnen, dass Hannah sie nur noch mit einem kleinen Lächeln quittierte. Sie war gerade dabei gewesen, Pläne für den nächsten Tag zu schmieden und hatte eine Frage an Hralfor gerichtet, die er, ganz in seine Gedanken versunken, überhaupt nicht mitbekommen hatte. Fragend beugte sie sich zu ihm. »Ist alles in Ordnung? Wenn du mit Reis und Gulasch morgen nicht zufrieden bist, sag es ruhig. Ich überlege mir dann was anderes.«
Hralfor sah sie einen Moment verständnislos an, dann brach er in herzliches Gelächter aus. Während er sich überlegt hatte, Hannah aus ihrer Welt zu entführen, machte sie Pläne für das morgige Mahl und sorgte sich darum, ob sie seinen Geschmack getroffen hatte. Sie war wirklich außergewöhnlich.
Liebevoll tippte er auf ihre Nase. »Alles, was du willst. Ich bin sicher, dass du die richtige Entscheidung treffen wirst. Das hast du bisher immer getan. Aber um eins möchte ich dich noch bitten. Wirst du mir morgen noch einmal auf deinem Instrument vorspielen? Ich wüsste nicht, wie ich den Tag besser verbringen könnte als mit deiner Musik.«
Hannah wurde vor Freude rot. »Das mach ich gern. Aber nicht den ganzen Tag lang.«
Sie war so froh, dass sie ihre Arbeitsstunden in der Klinik tatsächlich hatte verlegen können und so den letzten Tag gemeinsam mit Hralfor verbringen durfte. Sie wusste, dass ihr ihre Arbeitszeiten nach seinem Weggang völlig gleichgültig sein würden. Kurz schauderte sie, doch dann verdrängte sie diesen Gedanken wieder erfolgreich.
Als Hannah jedoch später in ihrem Zimmer war und sich nicht mehr zusammenreißen musste, um ihre wahren Gefühle zu verbergen, überrollte sie die eisern zurückgedrängte Kälte so heftig, dass sie zitternd und zähneklappernd in ihrem Bett lag. Da halfen weder ihre Bettdecke noch die dicke Wolldecke, in die sie sich zusätzlich einhüllte.
Hannah hatte das Gefühl, in ihrem ganzen Leben nie wieder warm zu werden. Sie fühlte sich, als sei sie in eine tiefe Gletscherspalte gefallen, in der sie nun langsam erfror. Verwirrt presste sie die Lippen aufeinander.
Um Himmels willen, komm wieder zu dir, Hannah, diese Reaktion ist doch nicht mehr normal! Ich hab jetzt siebzehn Jahre ohne Hralfor verbracht und es ist mir sehr gut dabei gegangen. Also was soll der Mist? Er ist ein guter Freund, aber ich habe auch schon andere gute Freunde verloren und dafür neue dazugewonnen. In ein paar Wochen werde ich nur noch mit leichtem Bedauern an ihn denken.
Krampfhaft versuchte sie, sich daran zu erinnern, was sie früher empfunden hatte, wenn sie durch Umzüge oder Schulwechsel alte Freunde verloren hatte. Doch nichts davon reichte auch nur annähernd an die Verzweiflung und Leere heran, die sie diesmal verspürte, wenn sie an die Tage nach Hralfors Heimkehr dachte – nicht einmal die Erinnerung an den Jungen, von dem sie damals geglaubt hatte, in ihn verliebt zu sein.
Er hatte sich damals in ein anderes Mädchen verliebt und sie von heute auf morgen sitzen lassen. Sie war wochenlang untröstlich gewesen, doch wenn Hannah heute darüber nach-dachte, war es wohl vor allem ihr verletzter Stolz gewesen, unter dem sie gelitten hatte. Sie hatte mit diesem Jungen nie auch nur annähernd solch eine Vertrautheit und Zusammengehörigkeit verspürt wie mit Hralfor.
Entsetzt fuhr sie im Bett hoch, als ihr plötzlich klar wurde, was das bedeutete. Hralfor war nicht nur ein guter oder sogar ihr bester Freund. Er war viel mehr. Sie war nicht einmal richtig verliebt in ihn – dazu war er ihr beinahe schon zu vertraut.
Es war einfach nur so, dass sie ihn liebte. Sie wollte nichts anderes, als den Rest ihres Lebens so zu verbringen, wie sie die letzten beiden Tage verbracht hatte. Sie wollte gemeinsam mit ihm kochen, lachen, endlose Gespräche führen und einfach nur bei ihm sein. Sie wollte das Gefühl der Geborgenheit spüren, das sie immer überkam, wenn er ihre Verletzung versorgte. Eine Geborgenheit, die es für sie ohne ihn in dieser Art nie wieder geben würde.






