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Schockiert sank Hannah zurück auf ihr Bett.
Das kann doch einfach nicht wahr sein! Ich liebe einen halb menschlichen Mann, den ich erst seit zwei Tagen kenne. Einen Fremden, der anscheinend aus einem anderen Universum kommt, mit Katzen spricht und Spaghetti liebt. Und der morgen Nacht für immer aus meinem Leben verschwinden wird …
Bei diesem Gedanken schmolz ein Teil des Eisblocks, der mittlerweile ihren ganzen Körper ausfüllte, zu Eiswasser, und strömte in Form von Tränen aus ihr heraus.
Hannah krümmte sich zusammen und zog die Bettdecke über ihren Kopf, damit Hralfor nicht ihr gequältes Schluchzen hörte. Sie weinte, wie sie noch nie in ihrem Leben geweint hatte, bis sie völlig ausgelaugt und leer in einen tiefen Schlaf der Erschöpfung fiel.
Im Nebenraum presste Hralfor seine Stirn an das kühle Glas der Fensterscheibe und versuchte mit aller Kraft, die herzzerreißenden Töne nebenan aus seinem Bewusstsein zu verdrängen.
Zum ersten Mal in seinem Leben verfluchte er das überaus feine Gehör der Vargéris. Seine Hände krampften sich heftig um den Fensterrahmen, während er eisern darum kämpfte, seine Beherrschung nicht zu verlieren. Sonst würde er sofort in Hannahs Zimmer stürmen und das Mädchen in seine Arme nehmen.
Und dann würde ihn auch noch der letzte Funke Anstand und der klägliche Rest seines Verstandes verlassen.
Er wusste nicht, wie lange er reglos am Fenster stand, während in seinem Inneren ein grausamer Kampf tobte, doch endlich verstummte Hannahs Weinen – und bald darauf erkannte er an ihren regelmäßigen Atemzügen, dass sie eingeschlafen war. Allerdings hörten sie sich seltsam gedämpft und erstickt an.
Wieder kämpfte er mit sich, doch diesmal siegte seine Sorge über die Vernunft. Lautlos glitt er in Hannahs Zimmer, um nach der Ursache der ungewohnten Geräusche zu suchen.
Sie hatte wieder einmal versucht, ihn nicht zu stören und sich die Decke über den Kopf gezogen. Dabei musste sie eingeschlafen sein.
Unwillig schüttelte Hralfor den Kopf. Wollte sie sich vielleicht auch noch ersticken?
Behutsam schlug er die Decke zurück, bis Hannahs Gesicht wieder frei lag. Selbst im Schlaf zeigte ihr Gesicht einen bekümmerten Ausdruck. Die Tränen auf ihren Wangen waren noch nicht ganz getrocknet.
Sanft strich er ihr die feuchten Haare aus dem Gesicht und fuhr zärtlich die nassen Spuren nach. Kurz schien es ihm so, als ob dabei ein schwaches Lächeln um ihren Mund spielte.
Liebevoll betrachtete er das Mädchen, an das er sein Herz verloren hatte. Sie hatte geweint, wegen ihm. Wenn er Tränen hätte, würden sie jetzt ebenfalls fließen – doch nicht einmal diese Erleichterung war ihm vergönnt. Seine Trauer war fest in seinem Herzen eingeschlossen und fand kein Ventil. Er würde lernen müssen, damit zu leben.
Nach einem letzten Blick auf ihr blasses Gesicht glitt Hralfor lautlos aus Hannahs Zimmer. Er bemerkte nicht mehr, wie das feine Lächeln auf ihrem Gesicht erstarrte und erneut einer tiefen Traurigkeit Platz machte.
Der Duft von gebratenem Speck, der durch die kleine Wohnung zog, ließ Hannah am nächsten Morgen aus ihrem schweren und nicht sehr erholsamen Schlaf erwachen.
Im ersten Moment dachte sie, sie war wieder zu Hause und ihre Mutter bereitete für die Familie das sonntägliche Frühstück vor. Doch das Zimmer, das sie erblickte, war nicht ihr Zimmer im elterlichen Haus, sondern der winzige Schlafraum in der Einliegerwohnung ihrer Cousine.
Verwirrt runzelte sie die Stirn, dann sprang sie so heftig aus dem Bett, dass ihr fast schwindlig wurde.
Hralfor!
Barfüßig rannte Hannah aus dem Zimmer und blieb ungläubig stehen. Hralfor ragte vor dem Küchenblock in die Höhe und hantierte geschickt mit zwei Pfannen herum, während Kilroy offensichtlich gesättigt auf der kleinen Couch herumlümmelte und seinen großen Freund keine Sekunde aus den Augen ließ. Er hoffte wohl trotz seiner neuen Diät darauf, dass ihm wenigstens ein kleines Stück des knusprigen Specks zufallen würde.
»Was machst du da?«, stammelte sie fassungslos.
»Frühstück.« Hralfor drehte sich zu Hannah um und lachte sie fröhlich an. Er hielt einen Pfannenwender in der Hand, von dem Fett auf den Boden tropfte.
Hannah brach in schallendes Gelächter aus. »Das glaub ich jetzt einfach nicht!«
»Warum? Ich habe dir genau zugesehen. Ich weiß nun, wie es geht.« Er blinzelte ihr zu. »Du wirst sehen, ich kann nicht nur gemütlich sein, ich kann auch kochen.«
Mit einem unterdrückten Fluch wandte er sich wieder der Pfanne zu, die so etwas wie Rührei enthielt und aus der es nun verstärkt herausdampfte.
Hannah setzte sich kichernd zu Kilroy auf die Couch und begann, den Kater zu kraulen, während sie Hralfor bei der Arbeit zusah. Das war ein Anblick, den sie sich um nichts in der Welt entgehen lassen wollte.
Hralfor rührte unterdessen heftig in der Eiermasse und grinste zufrieden. Genau das hatte er mit seiner Aktion erreichen wollen, nämlich dass wieder das fröhliche Lachen in Hannahs Augen erschien, das er so an ihr liebte. Die Erinnerung an den trostlosen Ausdruck, den ihr Gesicht heute Nacht im Schlaf gehabt hatte, versetzte ihm jedes Mal einen quälenden Stich.
Sorgfältig schaltete er die Herdplatten aus, wie er es bei ihr gesehen hatte, und stellte zügig Teller und Tassen auf die kleine Theke. Dann zog er den Hocker, auf dem Hannah bei den Mahlzeiten immer saß, unter der Theke hervor und machte eine einladende Geste.
Hannah schüttelte fassungslos den Kopf, erhob sich aber gehorsam und setzte sich neugierig auf ihren Platz. Er hatte tatsächlich Rührei und Speck angebraten und nicht einmal die obligatorische Kanne Tee vergessen. Jetzt sah er sie gespannt an, ob es ihr wohl auch schmecken würde.
Hannah nahm mutig eine Gabel voll Ei in den Mund und atmete erleichtert auf. Es war wirklich gut. Vielleicht etwas dunkler als bei ihr und etwas zu wenig gewürzt, aber durchaus genießbar.
»Du bist unglaublich!«, nuschelte sie begeistert mit vollem Mund. »Du hast mir doch nur einmal zugesehen. Du musst ein Gedächtnis haben wie ein Elefant.«
Hralfor grinste sie selbstzufrieden an und schaufelte sich von dem Ei in den Mund. »Ich habe keine Ahnung, was ein Elefant ist, aber ich gehe mal davon aus, dass das ein Kompliment sein soll.«
»Auf jeden Fall!« Hannah nickte eifrig. »Und danke, das war eine tolle Idee. Seit wann bist du denn schon auf? Hat Kilroy dich geweckt? Ich habe ihn mal wieder nicht gehört.«
Kurz flog ein dunkler Schatten über sein Gesicht. »Nein, er hat mich nicht geweckt. Ich war schon auf.«
Er würde ihr mit Sicherheit nicht erzählen, dass er die ganze Nacht kein Auge zugetan hatte, sondern stattdessen ihren gleichmäßigen Atemzügen und dem Schlag ihres Herzens gelauscht hatte, bis ihm ihr Pulsschlag so vertraut geworden war, als wäre es sein eigener. Er konnte ihn von nun an aus jeder noch so großen Menschenmenge heraushören – allerdings würde er niemals die Gelegenheit dazu haben.
Als sie das Frühstück beendet hatten, machte Hralfor sich wie jeden Morgen daran, Hannahs Verletzung zu untersuchen. Zufrieden stellte er fest, dass die Kratzspuren fast vollständig verblasst waren. In zwei bis drei Tagen sollte nichts mehr davon zu erkennen sein. Sanft strich er über Hannahs Arm und sah sie eindringlich an.
»Du musst mir versprechen, dass du nicht vergisst, die Paste zu benutzen, wenn ich nicht mehr hier bin! So lange, bis nicht mehr die geringste Spur von der Verletzung zu sehen ist, Hannah, hast du verstanden? Trage sie lieber ein paar Tage länger auf, wenn du dir nicht ganz sicher bist.«
Hannah verdrehte genervt die Augen.
»Das sagst du mir jedes Mal. Ich bin doch nicht blöd! Was würde überhaupt geschehen, wenn ich sie zu früh absetze? Ich spüre überhaupt keinen Schmerz mehr. Hätte ich dann so eine Art Rückfall und der Arm würde wieder brennen?«
»Nein.« Hralfor schüttelte beunruhigt den Kopf. »Ich weiß nicht, ob ich es dir erklären kann. Die körperliche Verletzung ist so gut wie ausgeheilt.«
Nachdenklich fuhr er die verblassten Spuren mit den Fingerspitzen nach. Hannah hätte am liebsten vor Wonne geseufzt.
»Die Gefahr besteht jetzt vor allem darin, dass das Gift auch Auswirkungen auf deinen Geist haben könnte, wenn du die Paste nicht mehr aufträgst.«
Hannah sah ihn verständnislos an und Hralfor legte nun auch seine zweite Hand auf ihren Arm.
»Vielleicht verstehst du es besser, wenn ich dir von einer anderen Frau erzähle, die von Vargéris angefallen wurde. Sie wurde dabei nicht nur gekratzt, sondern auch in den Arm gebissen. Es war das erste Mal, dass in meiner Heimatwelt jemandem eine Verletzung durch einen Vargéri zugefügt wurde und man ging davon aus, dass es sich um eine ganz normale Wunde handelte. Doch die Verletzung entzündete sich und keine der sonst so wirkungsvollen Heilpasten zeigte Wirkung. Gleichzeitig wurde die junge Frau plötzlich von seltsamen Albträumen und Visionen geplagt. Es stellte sich heraus, dass sie durch die Verletzung eine seltsame Verbindung zu den Vargéris eingegangen war. Sobald einer von ihnen in ihre Welt wechselte, fühlte und dachte sie dasselbe wie er. Sie wurde im Geist eine von ihnen.«
Benommen versuchte Hannah, die Bedeutung seiner Worte zu verstehen. Kurz musste sie an Jacob und seine Bemerkung über den Mythos der Werwölfe denken. Auch hier wurde behauptet, dass der Biss eines Werwolfs zu einer Art Verwandlung des Gebissenen führte.
Sie runzelte die Stirn. »Soll das etwa heißen, dass ich, wenn ich diese Paste nicht aufgetragen hätte, jetzt wissen würde, was in deinem Kopf vorgeht?«
Hralfor blickte sie stirnrunzelnd an. Hannah wirkte nicht so, als ob ihr diese Vorstellung besonders Angst machte – im Gegenteil. Sie sah beinahe aus, als ob sie ärgerlich war, dass sie die Paste überhaupt genommen hatte.
Seine Augen blitzten unwillig auf. Sie hatte nicht verstanden.
Er neigte den Kopf zu ihr hinunter, bis ihre Nasen nur noch wenige Zentimeter voneinander entfernt waren. »Du würdest eventuell nicht nur wissen, was ich fühle, sondern auch die Empfindungen eines jeden Verbannten auffangen, der deine Welt betritt.«
Ganz langsam schien sie zu verstehen. Hralfor erkannte es daran, dass sich ihre Augen verdunkelten und ihre Wangen bleich wurden. Grimmig nickte er ihr zu. »Genau das ist mit der jungen Frau geschehen. Sie musste hilflos miterleben und vor allem mitfühlen, wie drei Verbannte in ihre Welt wechselten, die Spur einer anderen Frau aufnahmen und sie schließlich stellten und zerfleischten. Sie war die ganze Zeit dabei. Sie war sozusagen ein Teil davon …«
Hannah starrte ihn kreidebleich und zu Tode erschrocken an. Als sie schließlich ihre Stimme wiedergefunden hatte, konnte er ihre Worte kaum verstehen. »Wie hat sie so etwas überleben können?«
Sein Blick wurde weicher. »Zum Glück hatte sie einen Begleiter bei sich, der mit ihr so stark verbunden war, dass er so etwas wie einen geistigen Schutzschild um sie legen konnte. Sie fiel in eine Art mentale Starre, in der sie die schrecklichen Bilder nicht weiter auffangen musste. Es dauerte mehrere eurer Wochen, bis sie daraus erwachte. Und auch das war nur dem Einsatz der besten Heilenden meiner Heimatwelt zu verdanken, durch die sie lernte, mit diesen Bildern umzugehen.«
Hralfors Blick bohrte sich in Hannahs Augen. »Und nun sag mir, ob du die Paste auch weiterhin auftragen wirst!«
Hannah nickte wie betäubt. »Ich denke schon.«
Erleichtert lehnte er sich zurück und begann, den Verband um Hannahs Arm zu wickeln. Ihre Augen folgten seinen Bewegungen, doch ihre Gedanken waren dabei weit weg.
Dieser Angriff auf die Frau musste stattgefunden haben, bevor er selbst in diese Welt gewechselt war, sonst hätte man dort bestimmt mehr über die Vargéris gewusst. Und trotzdem hatte Hralfor sich so angehört, als sei er damals irgendwie dabei gewesen. Bei der Erwähnung der jungen Frau hatte sein Gesicht einen besonders liebevollen Ausdruck angenommen, so als würde er sie sehr gut kennen.
Bei diesem Gedanken verspürte Hannah einen scharfen Stich, den sie entsetzt als Eifersucht erkannte. Sie war noch nie richtig eifersüchtig gewesen, dieses Gefühl sah ihr eigentlich überhaupt nicht ähnlich. Im Gegenteil, es hatte sie immer total genervt, wenn eine ihre Freundinnen wegen irgendeinem Jungen vor Eifersucht halb krank gewesen war. Und jetzt saß sie hier und fühlte sich fast krank, weil Hralfor von einer ihr völlig Unbekannten erzählt hatte, die vielleicht gar nicht mehr lebte.
Doch allein die Vorstellung, dass es irgendjemanden gab, der Hralfors Gefühle und Gedanken so teilen konnte, wie es dieser Fremden aufgrund ihrer Verletzung durch einen Vargéribiss möglich wäre, ließ Hannah vor Wut schäumen. Forschend beobachtete sie Hralfor, der gerade den Verband feststeckte. »Diese Frau, von der du erzählt hast, hast du sie gekannt?«, erkundigte sie sich möglichst beiläufig.
Hralfor blickte zu ihr auf und in seinen Augen stand ein warmes Leuchten. »Ja, natürlich. Kora zählt zu meinen besten Freunden in meiner Heimat. Sie stammt übrigens auch von hier aus der Alten Welt. Sie hat mir höchstwahrscheinlich das Leben gerettet, als ich zum ersten Mal den Boden meiner jetzigen Heimatwelt betreten habe. Aufgrund ihrer besonderen Verbindung zu meiner Rasse konnte sie erkennen, dass ich keiner ihrer Feinde war und hat sich schützend zwischen mich und einen Kämpfenden gestellt.«
Hannahs schlimmste Befürchtungen hatten sich damit bewahrheitet. Hralfor liebte also bereits eine Frau in seiner Heimatwelt. Sein Blick und der Ton seiner Stimme ließen keinen Zweifel darüber. Sie fühlte sich plötzlich elend und erschöpft.
Hralfor sah den Schmerz in ihrem Gesicht und seine Augen verengten sich zu schmalen Schlitzen, während sich seine Hand mit festem Griff um ihren verbundenen Arm schloss. »Wie ich vorhin schon sagte, sie war bereits damals, als ich noch ein Kind war, eng mit einem Mann verbunden, der heute ihr Seelenpartner und mein bester Freund ist. Thyrian war es auch, der mir beigebracht hat, mich mit Tieren zu verständigen. Wenn meine Mutter auf Reisen war – was später häufiger vorkam –, waren es Kora und Thyrian, die mich wie einen Sohn bei sich aufnahmen.« Hralfor lächelte und sah sie so verständnisvoll an, dass Hannah vor Verlegenheit rot wurde.
Wie hatte sie nur so blöd reagieren können?
Dann stutzte sie. »Was bedeutet das, dass sie Seelenpartner sind?«
Ganz kurz glaubte Hannah, einen versteckten Schmerz in Hralfors Augen aufblitzen zu sehen, doch schon hatte er seinen Blick auf Hannahs und seine Hände gesenkt, die sich wie selbstverständlich miteinander verschlungen hatten. »In meiner Heimatwelt glaubt man, dass jeder mit einer unvollständigen Seele zur Welt kommt, deren fehlender Teil sich in einer anderen Person befindet. Wenn man diese andere Person trifft und erkennt, verschmelzen die beiden Seelenfragmente zu einer einzigen, vollständigen Seele. Diese beiden werden dann zu Seelenpartnern, die von nun an immer vereint sind, selbst wenn sie sich an verschiedenen Orten aufhalten.«
Hannah hörte Hralfor atemlos zu. »Diese Vorstellung ist wunderschön und erschreckend zugleich«, flüsterte sie gerührt. »Doch was passiert, wenn sich die beiden nie finden, oder noch schlimmer, wenn sie sich gefunden haben und einem von ihnen etwas zustößt? Das muss ja schlimmer sein als der eigene Tod.«
Allein die Vorstellung war entsetzlich.
»Ja.« Hralfor lächelte sie gequält an. »Da hast du wieder einmal mit einem Blick das gesamte Ausmaß dieser Geschichte erkannt. Es kommt tatsächlich immer wieder vor, dass ein Seelenpartner, dessen andere Seelenhälfte gestorben ist, sich ebenfalls erlöschen lässt, da er ohne sie nicht weiter existieren kann. Aber das ist nun einmal der Lauf der Dinge. Ich denke, hier gilt dasselbe wie überall. Wo dir ermöglicht wird, ein besonderes Glück zu finden, besteht auch die Gefahr, es zu verlieren und dadurch besonderen Schmerz zu erdulden.«
Hannah seufzte. »Du hast wahrscheinlich recht. Man könnte sich genauso fragen, wer schlechter dran ist, derjenige, der seine andere Seelenhälfte nie gefunden hat, oder derjenige, der sie gefunden, aber dann auch wieder verloren hat.« Sie schauderte. »Ich könnte diese Frage jedenfalls nicht beantworten.«
»Nein, ich kann es auch nicht.« Hralfors Augen hatten sich zu einem tiefen Grün verdunkelt. Dann gab er sich einen Ruck und sah Hannah bittend an. »Du hast mir versprochen, noch einmal zu musizieren. Wirst du dein Versprechen jetzt einlösen?«
Hannah lächelte entschuldigend. »Ich wollte es mir für etwas später aufheben, sonst vergesse ich wieder die Zeit, und das würde mir morgen sehr leidtun.« Sie schluckte schnell die Tränen herunter, die ihr bei ihren Worten in den Hals stiegen. »Wann genau hattest du vor, zu … gehen?«
»Ich wollte warten, bis es ganz dunkel und spät genug ist, dass niemand zufällig etwas davon mitbekommt«, erwiderte Hralfor rau.
»Wieso?« Hannah sah ihn entsetzt an. »Das heißt doch nicht etwa, dass du dazu wieder das Haus verlassen wirst? Geht es nicht hier, wo du sicher bist?«
»Nein.« Hralfor schüttelte entschieden den Kopf. »Ich bin bisher immer nur unter freiem Himmel gewechselt, außer in meiner Heimatwelt, wo es dafür eine ganz besondere Höhle gibt. Die Strömungen, die bei einem Wechsel entstehen, sind so gewaltig, dass es zu gefährlich ist, sie in geschlossenen Räumen auszulösen. Ich muss dazu hinausgehen.«
Beschwörend sah sie ihn an. »Dann mach es im Garten, da ist freier Himmel und die Hecken schützen dich vor neugierigen Blicken.«
Sanft nahm Hralfor Hannahs entsetztes Gesicht in seine Hände. »Auch das geht nicht. Der Wechsel erfolgt so heftig, dass deine Nachbarn trotz der Hecken misstrauisch werden könnten. Ich muss in irgendein einigermaßen ruhiges Waldstück gelangen. Außerdem habe ich so auch eine etwas bessere Chance, Jacob und seine Leute zu verwirren. Vielleicht können sie den Sprungort ja nicht so leicht ausmachen, wenn ich mich heimlich fortschleiche. Und glaube mir, aufs Schleichen verstehe ich mich wirklich sehr gut.«
»Dann kann ich also nicht einmal in deiner Nähe sein, wenn du diese Welt endgültig verlässt.«
Hannahs Stimme klang so verloren, dass Hralfor sich nur noch mit äußerster Mühe beherrschen konnte, um nicht aufzuspringen und sie in seine Arme zu reißen. Er schloss die Augen und presste die Zähne zusammen, während er versuchte, seine eigene Verzweiflung in den Griff zu bekommen.
»Es tut mir leid, ich benehme mich echt kindisch«, entschuldigte sich Hannah schnell, als sie seine Reaktion sah.
Was war sie doch für ein unsensibles, egoistisches Miststück! Natürlich hatte Hralfor keine andere Wahl, als so unauffällig wie möglich zu verschwinden.
Hannah legte ihm leicht die Hand an die Wange, als wollte sie seinen verzweifelten Gesichtsausdruck wegstreichen. »Ich werde jetzt einen Stadtplan holen und dann schauen wir uns nach einem geeigneten Ort für deinen Weltensprung um. Ich kenne mich hier nämlich selbst nicht gut aus. Aber irgendwo in der Nähe wird es doch einen kleinen Wald geben.«
Schnell sprang sie auf und lief in ihr Zimmer, wo sie den Plan, den sie von ihrer Cousine bekommen hatte, aufbewahrte.
Hralfor blieb regungslos auf seinem Platz sitzen. Er hatte sein Gesicht in den Händen vergraben und kämpfte noch immer mit seinen Gefühlen. Als er hörte, dass Hannah zurückkam, richtete er sich auf und zwang sich zu einem Lächeln.
Sie breitete die Karte auf dem kleinen Tisch aus und winkte Hralfor zu sich.
Er hatte in seinem ganzen Leben noch nie etwas Ähnliches wie diese Karte gesehen und beugte sich fasziniert darüber. Und ehe sichs beide versahen, waren sie so in das Kartenstudium vertieft, dass sie den eigentlichen, traurigen Grund dafür einige Zeit verdrängen konnten. Dabei verging die Zeit wie im Flug.
Als sie schließlich ein geeignetes Waldstück gefunden hatten und Hralfor sich sicher war, dass er es problemlos finden würde, wollte er noch weitere Karten sehen.
Bereitwillig schleppte Hannah den dicken Atlas ihrer Verwandten herbei und Hralfor studierte völlig gebannt die verschiedenen Länder und Kontinente. Hannah musste all ihre geografischen Kenntnisse hervorholen, um die Flut seiner Fragen auch nur annähernd zu beantworten.
Wie ein kleines Kind mit seinem liebsten Bilderbuch saß Hralfor am Tisch und blätterte den Atlas durch. Hannah staunte, wie viel Spaß es machte, mit ihm Erdkunde zu betreiben, obwohl Geografie in der Schule nie zu ihren Lieblingsfächern gehört hatte.
Als Hralfors größter Wissensdurst endlich ein wenig gestillt war, bemerkten sie, dass es bereits später Nachmittag geworden war. Wenn Jacob zur selben Zeit erschien wie vor zwei Tagen, mussten sie sich beeilen, wenn sie vorher noch etwas kochen und eine letzte, gemeinsame Mahlzeit einnehmen wollten.
Wie ein langjährig eingespieltes Team machten sie sich an die Essensvorbereitungen. Doch als sie schließlich zum letzten Mal miteinander an der kleinen Theke saßen, war es keinem von ihnen möglich, sich noch länger den Anschein der Unbeschwertheit zu geben.
Hannah stocherte lustlos in ihrem Essen herum und selbst Hralfor holte sich keinen Nachschlag, obwohl das Essen wieder hervorragend schmeckte.
Als schließlich wie bereits vor zwei Tagen die Klingel schrillte, waren sie beinahe froh darüber, dass der gefürchtete Moment endlich gekommen war.
Hannah erhob sich langsam und lief mit bleischweren Gliedern zur Sprechanlage. »Ja?«
»Hier ist Jacob, kleine Lady.«
6
Heute trug Jacob einen hellgrauen Sommeranzug und ein roséfarbenes Hemd ohne Krawatte. Als Hannah ihm die Tür öffnete, sah er sie forschend an. »Hallo, kleine Lady. Keine gute Nacht gehabt, was? Hat der Große geschnarcht?«
Hannah funkelte ihn wütend an, zuckte dann jedoch mit den Schultern und ließ ihn eintreten.
Hralfor hatte inzwischen die Reste ihrer Mahlzeit weggeräumt und stand nun wie ein riesiger, finsterer Schatten in der Mitte des Raumes. Als er Jacob sah, nickte er ihm kurz zu, holte ein Glas Wasser und stellte es wortlos auf den kleinen Tisch. Dann wartete er, bis Hannah sich auf die Couch gesetzt hatte und nahm neben ihr Platz.
Jacob ließ sich dankbar stöhnend in den Sessel fallen und betrachtete die beiden eine Weile nachdenklich und mit leicht gerunzelter Stirn. Als keiner von beiden den Mund aufmachte, seufzte er und beugte sich zu ihnen. »Also, ich denke, ihr hattet jetzt ein wenig Zeit, euch mit meinem Angebot zu beschäftigen. Wie sieht’s aus, Großer, könnte es dich reizen?« Sein Blick lag gespannt auf Hralfors Gesicht.
»Es ist sicherlich sehr reizvoll«, begann Hralfor, »und ich habe mir dein Angebot sehr gut überlegt. Doch ich bin zu dem Schluss gekommen, dass ich nicht alleine darüber entscheiden kann. Ich muss zunächst mit meinen derzeitigen Auftraggebern sprechen, denn schließlich besteht zwischen uns auch so etwas wie ein Vertrag, den ich nicht so einfach auflösen kann.«
»Und was bedeutet das genau?« Jacobs Blick bohrte sich prüfend in Hralfors Augen.
»Das bedeutet, dass ich zunächst wieder nach Vargor zurückkehren werde, bevor eine endgültige Entscheidung getroffen werden kann. Hast du oder deine Organisation damit ein Problem?« Hralfor beugte sich zu Jacob hinunter und mit einem Mal lag prickelnde Spannung in der Luft.
Hannah hielt den Atem an. Nun würde sich entscheiden, ob Jacob die Wahrheit gesagt hatte und Hralfor, egal, wie seine Entscheidung ausfiel, wieder heimkehren konnte.
Ein dünnes Lächeln erschien auf dem Gesicht des Mannes. »Du wirst irgendwann vielleicht noch lernen, dass man uns vertrauen kann, Großer. Wir stehen zu unserem Wort. Das geht sicher auch einmal in deinen misstrauischen Vargéri-Schädel.«
Als er das wütende Zischen Hannahs hörte, blinzelte er ihr entschuldigend zu. »Nichts für ungut, Lady, aber die Vargéris sind nun einmal ein ganz besonders … vorsichtiges Volk.« Er wandte sich wieder an Hralfor. »Es bleibt dabei. Die Blockade ist bereits aufgehoben, du kannst uns jederzeit verlassen. Jetzt bleibt allerdings noch unsere Befürchtung, dass außer euch und den Verbannten auch andere Kenntnisse über die Durchführung von Weltensprüngen erhalten könnten. Kannst du mir vielleicht darüber noch etwas verraten?«






