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Wahrscheinlich höre ich mich so schlimm an, dass sie befürchtet, ich könnte die ganze Klinik mit einer Sommergrippe anstecken.
Ihr Gesicht verzog sich bei diesem Gedanken zu einem schiefen Grinsen, doch dann fiel ihr Blick auf Kilroy, der eifrig Hralfors Lager beschnupperte. Er sah so aus, als würde er seinen großen Freund suchen. Das schien ihm sogar wichtiger zu sein als sein Frühstück.
Ehe Hannah es verhindern konnte, strömten neue Tränen über ihre Wangen. Sie nahm den Kater auf den Arm und vergrub ihr Gesicht in dem dichten Fell. Kilroy schien auf irgendeine Weise ihre Trauer zu verstehen, ja, sogar zu teilen, denn er hielt ganz gegen seine übliche Art still, bis Hannah sich etwas beruhigt hatte. Dann wand er sich aus ihrem Arm und lief auffordernd zu seinem Futterschälchen.
Seufzend erhob sich Hannah und füllte den Napf auf. Als sie ihre Pflicht erfüllt hatte, schleppte sie sich zurück ins Schlafzimmer und wickelte sich in Hralfors Decken.
Den Rest des Tages verbrachte Hannah zusammengekrümmt im Bett. Sie hatte weder Hunger noch Durst, sondern spürte nur eine abgrundtiefe Kälte, gegen die sie nicht ankam. Da halfen weder Decken noch dicke Jacken, das Eis in ihrem Inneren schmolz nicht. Selbst, als sie sich zähneklappernd in die Küche schleppte und einen heißen Tee aufbrühte, spürte sie keine Wirkung. Irgendwann fiel sie in einen unruhigen Dämmerschlaf, aus dem sie immer wieder hochschreckte.
Als es dunkel wurde, wollte Kilroy wieder aus dem Haus gelassen werden und Hannah würgte ein Stück trockenes Brot herunter.
Das Außenthermometer zeigte noch immer achtundzwanzig Grad an, doch Hannah zitterte, als hätte sie hohes Fieber. Sie ließ sich ein Bad ein, das so heiß war, dass sie sich beinahe darin verbrühte, und es schien sie tatsächlich etwas aufzuwärmen. Sie blieb darin liegen, bis das Zittern nachließ.
Ganz langsam klärten sich dabei auch ihre Gedanken. Entsetzt stellte sie fest, dass sie heute noch nicht ihre Verletzungen behandelt hatte. Schnell sprang sie aus der Wanne, um das schleunigst nachzuholen. Und wieder begannen ihre Tränen zu fließen, als sie sich zum ersten Mal die grüne Paste auf den Arm strich. Unwillig schüttelte Hannah den Kopf.
So kann das nicht weitergehen. Ich kann nicht jedes Mal zu heulen anfangen, wenn mich etwas an Hralfor erinnert. Ich sollte mich für ihn freuen, dass er jetzt in Sicherheit ist.
Doch da überfiel sie ein beklommenes Gefühl. War er überhaupt in Sicherheit?
Er hatte gesagt, dass er zuerst nach Vargor wechseln wollte. In ihrer Vorstellung war Vargor eine kalte und grausame Welt voller Gefahren. Hannah begann, sich alles Mögliche auszumalen, was ihm dort zustoßen konnte und machte sich dabei fast verrückt. Jetzt musste sie zwar nicht mehr weinen, wenn sie an Hralfor dachte, dafür hatte sie furchtbare Angst um ihn.
Wieder verkroch sie sich in ihr Bett und drückte ihr Gesicht in Hralfors Decken. Und diesmal schlief sie richtig ein. Allerdings wurde Hannah dabei von grauenhaften Albträumen gequält. Sie sah Hralfor, der in der Dunkelheit durch einen furchtbaren Sturm lief. Er wurde verfolgt. Hannah konnte mehrere dunkle Schatten sehen, die ihn vor sich hertrieben und dabei langsam umzingelten. Als die Schatten ihn vollständig eingekreist hatten und sich ihm bedrohlich näherten, erkannte sie, dass es sich um gewaltige Wölfe handelte mit schwarzen, wilden Mähnen und den Gesichtern der Verbannten. Der größte von ihnen sprang auf Hralfor zu und Hannah wollte schon aufschreien, als plötzlich ein riesiges Netz über Hralfor geworfen wurde, das sich zusammenzog und ihm die Beine unter dem Bauch wegriss. Dann wurde Hralfor mit dem Netz in die Höhe gehoben. Über ihr schwebte eine silberne Plattform, auf der Jacob stand. Er hatte ein dickes Seil in der Hand, mit dem er das Netz in die Höhe zog. Doch noch bevor das Netz außer Reichweite war, setzte der Wolf zu einem gewaltigen Sprung an und verbiss sich durch das Geflecht hindurch in Hralfors Schulter. Ein grauenhafter Schmerz durchfuhr Hannah, als der Wolf ebenfalls in die Luft gehoben wurde und nun mit seinem ganzen Gewicht an Hralfor hing, während seine Zähne sich noch tiefer in die Schulter gruben.
Zähneklappernd fuhr Hannah auf. Es dauerte eine ganze Weile, bis sie wieder einen klaren Gedanken fassen konnte und bemerkte, dass der Schmerz in ihrer Schulter nicht real war. Erleichtert lehnte sie sich zurück. Doch es dauerte sehr lange, bis sich auch ihr Herzschlag wieder normalisiert hatte.
Ein Blick auf die Uhr zeigte Hannah, dass es gerade mal zwei Uhr morgens war – und genau wie vor vier Nächten war sie schrecklich hungrig.
Müde lief sie in die Küche. Sie wollte sich schnell eine Scheibe Brot holen und sie im Bett essen. Um nichts in der Welt wollte sie sich jetzt an die kleine Theke setzen. Das hätte sie dann doch zu sehr an ihre erste gemeinsame Mahlzeit mit Hralfor erinnert. Trotzdem musste sie schwer darum kämpfen, nicht wieder in Tränen auszubrechen.
Als sie schließlich einigermaßen gestärkt war, kuschelte Hannah sich wieder in die Decken und ließ sich gezielt noch einmal die Bilder der letzten Tage durch den Kopf gehen.
Wenn sie schon von Hralfor träumte, dann sollten es zumindest schöne Träume sein, in denen sie noch einmal die Zeit mit ihm durchleben durfte.
Und tatsächlich schien ihre Rechnung aufzugehen. Hannah schlief noch einmal ein und wurde nicht mehr von Albträumen heimgesucht. Allerdings waren ihre Träume diesmal so voller Sehnsucht, dass sie am nächsten Morgen mit einem noch größeren Gefühl der Leere und Verlassenheit daraus erwachte.
Als sie sich endlich aus dem Bett gequält und notdürftig gewaschen hatte, griff sie automatisch nach Hralfors Heilpaste, um ihren Arm zu versorgen. Die Kratzspuren waren eigentlich nicht mehr sichtbar, bis auf eine einzige, sehr feine, helle Linie, die mit bloßem Auge kaum erkennbar war.
Hannah zögerte, als sie zu der Paste griff. Die Gefühle, die ihre sehnsüchtigen Träume in ihr aufgewühlt hatten, waren so überwältigend, dass Hannah den Anblick des kleinen Gefäßes kaum ertragen konnte. Sie erinnerte sich an jedes Wort, das Hralfor über die Wirkung der Verletzungen durch Vargéris gesagt hatte. Und mit einem Mal überkam Hannah eine eiserne Entschlossenheit. Sie würde diese Paste nicht mehr benutzen. Sie hätte sie von Anfang an nicht verwenden sollen, dann wäre es ihr möglich gewesen, Hralfors Gefühle zu teilen und ihm damit noch näher zu sein.
Als sie an seinen ernsten Blick dachte, mit dem er sie immer wieder beschworen hatte, die Paste unbedingt weiterzuverwenden, meldete sich für einen kurzen Augenblick ihr Gewissen. Doch dann siegte der Trotz.
Ich habe ihm schließlich nie etwas versprochen. Ich habe gesagt, ich denke schon, dass ich das Zeug weiter benutze. Außerdem ist alles so gut wie verheilt. Und wenn es ihm so furchtbar wichtig war, dass ich weitermache, hätte er eben noch ein paar Tage länger hierbleiben müssen, anstatt so schnell wie möglich zu verschwinden.
Hannah wusste genau, dass sie jetzt furchtbar ungerecht war, doch der Trennungsschmerz ließ sich eindeutig besser ertragen, wenn sie wütend auf Hralfor war. Also räumte sie die Heilpaste fort, ohne sie noch weiterzuverwenden und zwang sich, einfach nicht mehr daran zu denken.
Im Laufe der folgenden drei Tage, die Hannah zu Hause verbrachte, entwickelte sie in anderer Hinsicht ebenfalls ganz langsam eine Art Verdrängungstaktik.
Zunächst räumte sie Hralfors Schlafplatz aus dem Wohnraum. Sie beseitigte alle Spuren ihrer letzten gemeinsamen Mahlzeit und putzte die ganze Wohnung von oben bis unten. Von Weinkrämpfen geschüttelt, stopfte sie zuerst Hralfors Decken in die Waschmaschine, dann wusch sie alle Kleidungsstücke, die sie in den vergangenen Tagen getragen hatte. Sie lüftete stundenlang das ganze Haus und stellte sich dann ebenfalls lange unter die Dusche.
Das Hrakan, das Hralfor ihr geschenkt hatte, packte sie zuunterst in ihre Reisetasche, ohne es noch einmal anzusehen. Sie wusste, dass irgendwann einmal der Zeitpunkt kommen würde, an dem sie die Erinnerung an Hralfor wieder hervorholen konnte, doch bis dahin war es noch ein weiter Weg. Wenn sie es jetzt nicht schaffte, ihr Leben wieder in normale Bahnen zu lenken, würde sie auch die nächsten Wochen noch völlig aufgelöst im Bett verbringen, ohne dass sich für sie etwas besserte. Sie hatte schließlich eine Arbeit, bei der sie all ihre Sinne beieinanderhaben musste.
Nicht ohne Stolz erkannte Hannah, dass es ihr trotz der unglaublichen Ereignisse und dem heftigen Trennungsschmerz irgendwie gelingen konnte, wieder ein halbwegs normales Leben zu führen. Allerdings machte ihr die eisige Kälte, die sie ständig in sich spürte, doch sehr zu schaffen. Es war, als hätte Hralfor bei seinem Weggang alle Wärme, die sie in sich hatte, mit sich genommen.
Als dann der Montagmorgen kam und Hannah in die Tierklinik fuhr, war sie beinahe froh darüber, endlich wieder unter Menschen zu kommen. Sie erledigte gewissenhaft ihre Arbeit und versuchte, nicht allzu geistesabwesend gegenüber den Kollegen zu sein.
Sobald sie nach der Arbeit dann wieder allein war, verfiel sie erneut in ihre Kältestarre. Sie erledigte automatisch ihre häuslichen Pflichten, schlang irgendetwas in sich hinein – sie hatte seit dem letzten gemeinsamen Abend mit Hralfor nicht mehr gekocht – und nahm vor dem Zubettgehen ein heißes Bad, um die Nacht einigermaßen warm zu überstehen.
Dann lag sie grübelnd da und versuchte sich vorzustellen, wie ihr weiteres Leben aussehen würde. Bei dem Gedanken, dass sie nach dem Praktikum nach Hause zurückkehren würde, bekam Hannah es mit der Angst zu tun. Sie liebte ihre Familie und ihr Heim über alles, aber gerade das war das Problem. Sie hatte bisher noch nie ein Geheimnis vor ihren Eltern gehabt und konnte sich beim besten Willen nicht vorstellen, was sie ihnen erzählen sollte. Denn eines war sonnenklar. Sobald Hannahs Mutter ihrer Tochter auch nur einmal ins Gesicht gesehen hatte, würde sie sofort wissen, dass mit Hannah etwas geschehen war. Und sie würde keine Ruhe geben, bis sie erfahren hatte, worum es sich dabei handelte.
Hannah blieb also keine Wahl. Entweder sie erzählte ihren Eltern die Wahrheit – was völlig undenkbar war – oder sie ließ sich eine wirklich gute Erklärung für ihr verändertes Wesen einfallen. Denn dass sie sich verändert hatte, wusste sie. Ebenso wie sie wusste, dass sie diese Veränderung nicht mehr rückgängig machen konnte. Umso schwieriger war es für sie, sich vorzustellen, dass sie nach den Sommerferien einfach wieder ihr normales Leben aufnehmen musste, als sei nichts geschehen.
Und da wurde Hannah klar, dass die Trennung von Hralfor nicht der einzige Grund war, weshalb sie sich so unglücklich fühlte. Fast genauso traurig machte sie die Tatsache niemanden zu haben, mit dem sie über Hralfor sprechen konnte. Das verstärkte das Gefühl, dass er für sie nun völlig verloren war. Sie konnte nicht einmal die Erinnerung an ihn mit jemandem teilen und sie dadurch lebendig erhalten.
Verzweifelt presste Hannah ihre Augen zusammen, um nicht schon wieder in Tränen auszubrechen. Sie versuchte sich vorzustellen, wie sie Jahr für Jahr ihres Lebens die Erinnerung an Hralfor einsam in ihrem Herzen trug, bis sie irgendwann daran zu zweifeln begann, ihn wirklich jemals kennengelernt zu haben. Er würde im Laufe der Zeit zu einer verklärten Märchengestalt werden, von der sie vielleicht nur geträumt hatte. Entsetzt fuhr sie auf.
Das darf ich nicht zulassen!
Aber was konnte sie schon daran ändern? Wenn sie mit niemandem über Hralfor sprechen konnte, musste es zwangsläufig irgendwann einmal so weit kommen.
Und da hatte sie auf einmal die Lösung ihres Problems im Kopf.
»Jacob!«
Natürlich, das war es! Jacob kannte Hralfor. Mit ihm konnte sie über ihn sprechen. Er hatte ihr die Möglichkeit geboten, den ganzen Problemen, die sie auf sich zukommen sah, zu entgehen. Wenn sie sein Angebot annahm und das letzte Schuljahr bei der OCIA absolvierte, um danach auch dort zu studieren, würde sie den ganzen Lügen wegen ihres veränderten Wesens aus dem Weg gehen. Selbst ihre Mutter würde sich damit zufriedengeben, dass Hannah vor lauter Aufregung wegen des spontanen Schulwechsels und Umzugs in ein fremdes Land so ruhig und verändert war. Sie musste sich jetzt nur noch eine Erklärung dafür einfallen lassen, warum sie ein so tolles Angebot für ein Auslandsjahr erhalten hatte. Aber das dürfte kein Problem sein. Wenn ihr nichts einfiel, würde Jacob das in die Hand nehmen, da war sie sich sicher.
Aufgeregt setzte Hannah sich im Bett auf, legte ihre Arme um die Knie und atmete tief ein.
Verdammt, ich mache es! Ich gehe jetzt schon zur OCIA. Ich werde Lebewesen aus anderen Welten kennenlernen und dort studieren.
Versonnen schloss Hannah die Augen und versuchte sich vorzustellen, was sie bei einer solchen Organisation wohl alles erleben würde. Und dann auch noch in Neuseeland!
Es war schon immer ein Traum von ihr gewesen, einmal eine lange Reise durch Neuseeland zu machen. Sie hatte sich sogar schon überlegt, nach dem Abi für ein halbes Jahr dort für eine Naturschutzorganisation zu arbeiten.
Hannah lächelte. Es war das erste Mal seit der Trennung von Hralfor, dass sie wieder einmal so etwas wie Freude empfand.
Im Grunde genommen mache ich bei der OCIA dann ja genau das, was ich sowieso schon immer tun wollte. Ich beobachte seltene Spezies und versuche ihnen zu helfen. Nur dass es sich dabei nicht um gefährdete Tiere handelt, sondern um Lebewesen aus völlig fremden Welten.
Und sie erkannte einen weiteren Vorteil. Ihre Eltern wussten von ihren langjährigen Plänen, einige Zeit in Neuseeland zu verbringen. Umso mehr Verständnis würden sie dafür haben, dass Hannah das Angebot, ihr letztes Schuljahr genau dort zu verbringen, auf keinen Fall ablehnen konnte.
Es passte alles perfekt. Sie wusste einfach, dass das die einzig richtige Lösung für sie war. Sie musste etwas völlig Neues machen, etwas, das sie so wenig wie möglich an ihr früheres Leben erinnerte. Und vielleicht würde dann auch irgendwann einmal diese eisige Kälte in ihr verschwinden.
Am liebsten wäre sie sofort aus dem Bett gesprungen, um Jacob ihre Entscheidung mitzuteilen, aber es war mittlerweile schon fast Mitternacht. Doch dann zog ein kleines, gemeines Lächeln über Hannahs Gesicht. Jacob hatte doch ausdrücklich gesagt, dass sie ihn jederzeit anrufen konnte. Und jederzeit hieß eben auch mitten in der Nacht.
Hannah wusste noch immer nicht genau, was sie von dem seltsamen Mann halten sollte und ob sie ihn überhaupt leiden konnte. Sie wusste nur, dass sie sich ziemlich oft über ihn geärgert hatte. Da wäre es ja nur gerecht, wenn sie ihn auch einmal ein wenig verärgerte. Sie würde ihn also jetzt sofort anrufen. Vielleicht hielt er sich im Moment ja tatsächlich in Neuseeland auf, dann wäre das mit der Zeit sowieso egal. Dort unten musste es jetzt gerade Tag sein und sie würde Jacob in diesem Fall höchstens beim Mittagessen stören.
Aufgeregt kramte Hannah in ihrem Nachtschränkchen. Hier lag irgendwo Jacobs Visitenkarte. Sie hatte sie bei ihrer Putzaktion aus dem Wohnraum in das kleine Schlafzimmer geräumt, das wusste sie ganz genau. Ebenso die Karte, die Jacob für Hralfor dagelassen hatte. Natürlich hatte Hralfor das Kärtchen nicht mitgenommen. Dort, wo er hingegangen war, gab es schließlich weder Handys noch Telefone.
Ja, dort lagen die beiden Karten, direkt unter dem Stadtplan, den Hralfor und sie an ihrem letzten Abend gemeinsam studiert hatten. Bei dieser Erinnerung schossen Hannah erneut die Tränen in die Augen und sie benötigte einige Zeit, bis sie sich wieder unter Kontrolle hatte. Auf keinen Fall wollte sie mit tränenerstickter Stimme bei Jacob anrufen. Das käme ihr dann doch zu erbärmlich vor.
Als sie sich schließlich wieder gefasst hatte, griff Hannah entschlossen zu ihrem Handy. Vorsichtig drehte sie Jacobs Visitenkärtchen in der Hand.
Jacob McLeod, OCIA, Auckland, New Zealand – und eine Handynummer, weiter nichts.
Hannahs Herz begann zu rasen, als sie die Nummer eingab. Sie musste nicht lange warten, es klingelte nur zweimal, dann hörte sie Jacobs schnarrende Stimme.
»Na, kleine Lady, was gibt’s?«
»Hallo, Jacob, hier ist Hannah«, stotterte sie aufgeregt und völlig kopflos.
»Ich weiß.«
Die Worte hallten im Hörer nach wie ein Echo. Sie verzögerten sich um den Bruchteil einer Sekunde und gaben dem Gespräch etwas Unwirkliches.
Hannah holte tief Luft. »Ich möchte Ihr Angebot annehmen.«
Kurze Stille.
»Der Große ist also endgültig weg?«
Hannah schluckte. Sie benötigte eine Sekunde, bis sie sicher war, dass ihre Stimme nicht verräterisch zitterte.
»Ja.«
Auch Jacob machte eine kurze Pause.
»Das tut mir leid, Mädchen.«
Dann wurde er plötzlich ganz geschäftig. »Ich schicke dir sofort die nötigen Papiere, du weißt schon, den ganzen Anmeldekram wegen der Schule, Einwanderungsbestimmungen und so weiter. Du hast das Zeug morgen. Bist du zu Hause?«
»Ja, ich habe morgen einen freien Tag.«
»Gut. Dann sieh zu, dass du gegen zehn Uhr erreichbar bist.«
»Was muss ich sonst noch machen?«
»Sorg dafür, dass dein Reisepass in Ordnung ist, sonst verzögert sich alles. Wann willst du kommen?«
Hannah war wie betäubt. Es ging alles so schnell.
»Mein Praktikum geht noch zwei Wochen, das möchte ich auf jeden Fall fertig machen. Danach bin ich frei. Nein, warten Sie, meine Verwandten kommen erst am fünfzehnten abends zurück, bis dahin sollte ich noch hierbleiben und auf den Kater aufpassen.« Innerlich stöhnend verzog Hannah das Gesicht. Was erzählte sie da für einen Unsinn. Als ob Jacob sich dafür interessierte, dass sie auf Kilroy aufpassen musste.
Doch er schien sich nichts dabei zu denken. »Gut. Ich schicke dir in zwei Wochen einen Wagen. Er ist am fünfzehnten August morgens bei dir. Dann kommst du her und siehst dir alles in Ruhe an. Wenn es dir zusagt, entscheidest du dich endgültig, fährst noch mal heim, packst deine Sachen und das Abenteuer beginnt. Mit deiner Familie kommst du klar?«
»Ja, ich werde sie nächstes Wochenende besuchen. Ich erzähle ihnen, dass ich ein tolles Angebot für ein Auslandsjahr bekommen habe. Sie werden sich freuen. Das wird zunächst ausreichen. Was nach dem Jahr kommt, werden wir ja sehen.«
»In Ordnung, kleine Lady. Zeig ihnen ruhig die Unterlagen. Wir werden sie entsprechend zusammenstellen. Deine Leute können es nachprüfen. Alles ist hochoffiziell und hieb- und stichfest.«
»Das ist gut.«
»Also dann, bis in zwei Wochen, kleine Lady.«
»Hannah!«
Doch Jacob hatte bereits aufgelegt.
Hannah wankte mit wackligen Knien wieder zurück in ihr Schlafzimmer und fiel dort aufs Bett.
Meine Güte, was hab ich bloß gemacht? Ich habe mich gerade einer mysteriösen Organisation ausgeliefert. Ich werde auf die andere Seite dieses Planeten reisen und auf eine Schule gehen, von der ich nicht einmal weiß, ob sie tatsächlich existiert. Ich muss komplett übergeschnappt sein.
Hannah lachte laut auf.
Das war genau das, was sie jetzt brauchte, um auf andere Gedanken zu kommen. Es würde schon gut gehen. Und ganz tief in ihrem Inneren wusste sie, dass, egal, was noch auf sie zukam, nichts jemals so schlimm und zerstörerisch sein konnte, wie es die Trennung von Hralfor gewesen war. Und auch die hatte sie bisher irgendwie überlebt. Zwar nicht unbeschadet, aber immerhin, sie lebte noch und machte Pläne für ihre Zukunft. Eine Zukunft ohne den einzigen Mann, den sie jemals richtig lieben würde.
Langsam kroch sie wieder unter ihre Decken und versuchte, dort wenigstens ein Mindestmaß an Wärme zu finden.
In dieser Nacht träumte sie nach langer Zeit wieder einmal in aller Klarheit von Hralfor. Er stand hoch aufgerichtet vor ihr, ohne sie jedoch zu sehen. Sein Blick war konzentriert auf einen Punkt hinter ihrer Schulter gerichtet. Hannah war nicht imstande, sich umzudrehen, doch ihre Nackenhärchen stellten sich vor Entsetzen auf. Was auch immer sich hinter ihrem Rücken befand, es war tödlich, dessen war sie sich absolut sicher.
Verzweifelt rief sie Hralfors Namen, doch der eisige Wind, der in dieser düsteren Albtraumlandschaft um sie herumpfiff, riss ihr die Worte von den Lippen. Als sie einen Schritt auf Hralfor zugehen wollte, um ihn am Arm zu packen und auf sich aufmerksam zu machen, verstärkte sich der Wind zu einem Eissturm und schob sie unerbittlich von Hralfor fort, immer weiter in Richtung des unbekannten Grauens in ihrem Rücken. Der Sturm nahm ihr den Atem und ließ sie vor Kälte bis aufs Blut erstarren. Der eisige Schmerz wurde unerträglich und sie erwachte an ihrem eigenen Zähneklappern.
Es war bereits Morgen. Hannah fühlte sich eiskalt und zitterte am ganzen Körper. Schnell rannte sie ins Bad und stellte sich unter die heiße Dusche. Es dauerte eine ganze Weile, bis sie so weit aufgewärmt war, dass sie nur noch den mittlerweile schon vertrauten Eisklumpen in ihrem Inneren spürte. Sie rubbelte sich am ganzen Körper trocken, bis ihre Haut glühte und schlüpfte in ihre geliebte Jogginghose und das bunte T-Shirt. Dann machte sie sich eine Kanne Tee und wartete da-rauf, dass es endlich zehn Uhr wurde und sie Jacobs Unterlagen erhielt.
Sie hatte zwar keine Ahnung, wie Jacob es schaffen wollte, die Papiere so schnell zusammenzustellen und an sie zu schicken, dennoch zweifelte sie keine Sekunde daran, dass es so geschehen würde. Und richtig. Pünktlich um zehn Uhr klingelte es an ihrer Tür und Hannah lief, ohne weiter nachzufragen, zum Hauseingang und riss die Tür weit auf.
Diesmal stand ein junges Mädchen davor und hielt ihr einen dicken Umschlag entgegen. »Hallo, du bist Hannah?«
Hannah blinzelte verwirrt. Das Mädchen war kaum älter als sie und wirkte durch und durch normal. Sie war etwas kleiner als Hannah, hatte kurze, ziemlich verstrubbelte, braune Haare und fröhliche, hellbraune Augen. Ihr Mund wirkte recht breit in dem schmalen, gebräunten Gesicht und verbreiterte sich noch mehr, als sie Hannah freundschaftlich angrinste. Das gab ihr ein freches, beinahe jungenhaftes Aussehen, was durch ihre schlanke Gestalt noch verstärkt wurde.
»Ja, die bin ich«, beantwortete Hannah die Frage mit einiger Verspätung.
Das Grinsen in dem braunen Gesicht wurde noch breiter. »Hast du mit irgendeinem Parallelweltler gerechnet? Du siehst fast ein bisschen enttäuscht aus.«
Hannah schüttelte verlegen den Kopf. »Nein, ich habe eigentlich mit gar nichts gerechnet, höchstens mit einem ganz normalen Postboten.«
Das Mädchen lachte verschmitzt. »Bei uns ist nie etwas ganz normal, damit solltest du dich gleich mal abfinden. Aber wie sieht’s aus, lässt du mich vielleicht mal rein? Ich platze fast vor Neugier, wie du so bist.«
Hannah trat völlig überrumpelt einen Schritt zur Seite, um das Mädchen hereinzulassen. Unbekümmert lief sie an ihr vorbei und betrat, ohne zu zögern, die Einliegerwohnung. »Ich heiße übrigens Charlotte«, sie verzog angewidert das Gesicht, »aber alle nennen mich Charly.« Prüfend sah sie sich in der kleinen Wohnung um. »Hey, das ist ja klasse. Hast du hier wirklich vier Tage mit einem Vargéri gehaust? War das nicht unheimlich?«
Hannah wurde bei der Frage bleich. Ihre Stimme klang schneidend. »Nein, es war überhaupt nicht unheimlich, er war nämlich sehr rücksichtsvoll und hat sich nicht in Sachen eingemischt, die ihn nichts angingen.«
»Autsch!« Das Mädchen verzog das Gesicht. »Da bin ich mal wieder ins Fettnäpfchen getreten, was? Tut mir echt leid, ehrlich. Ich wollte nicht unverschämt sein. Es ist nur so, dass die Vargéris bei uns zu den am meisten gefürchteten Parallelweltlern gehören. Ich hab nur einmal einen von Weitem gesehen und das hat mir gereicht. Ich kann mir gar nicht vorstellen, wie du mit ihrem Überfall klargekommen bist. Deshalb bin ich ja so neugierig.«
Charly sah sie so treuherzig und bittend an, dass Hannah lachen musste. Sie mochte das Mädchen. Charly war vielleicht etwas zu direkt und neugierig, aber sie hatte das Herz auf dem rechten Fleck und sagte, was sie dachte.
Etwas hilflos hob sie die Schultern. »Was willst du denn genau wissen? Du scheinst ja bereits bestens über alles informiert zu sein.«






