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»Winston!«, rief mein Onkel, als er den jungen Mann erblickte, und grinste breit. »Mein Freund, ich dachte, du wärst schon auf halbem Weg nach Glasgow.«
Auch der Angesprochene lächelte und trat vor, um meinem Onkel die Hand zu schütteln. »Erst morgen in der Früh, Alfred. Deshalb nehme ich auch die Unhöflichkeit in Kauf, dich um diese Stunde noch zu stören.«
»Ach wo«, wehrte Onkel Alfred ab, und dann schien ihm plötzlich wieder einzufallen, dass ich nach wie vor neben den beiden Männern an der Wand eingezwängt stand.
»Oh, natürlich«, begann mein Onkel und trat ein Stück zur Seite, damit ich mit meinem Rock mehr Platz zum Stehen hatte. »Ani, darf ich bekannt machen? Dieser junge Mann ist Winston Boyle, der neue Rechtsbeistand meiner Abteilung«, stellte er mir Mr Boyle vor, der höflich den Kopf neigte, ein verschmitztes Lächeln im Mundwinkel. »Winston, das ist meine Nichte Animant Crumb. Ich habe sie nach London mitgebracht, damit sie sich als Bibliothekarsassistentin versuchen kann.«
Mr Boyle fiel bei diesen Worten das Lächeln aus dem Gesicht und er zog überrascht die Augenbrauen hoch. »Wie? In dieser Bibliothek? Bei Mr Reed?«, wollte er entgeistert wissen und so langsam war ich bereit, mir doch ein wenig Sorgen zu machen.
»Wie fürchterlich muss dieser Mann denn sein, dass alle so entsetzt reagieren, wenn das Thema auf ihn kommt?«, fragte ich in einem leichten Ton und lächelte sanft, um meine Gefühle nicht zu offenbaren. Wenn ich die ganze Sache nicht mit Humor nahm, würde ich am Ende vielleicht wirklich Angst bekommen und ich war fest entschlossen, mich nicht so leicht einschüchtern zu lassen. Mutter würde es nur zu gern sehen, wie ich alles hinschmiss und nach Hause zurückgekrochen kam. Aber diesen Gefallen würde ich ihr garantiert nicht tun.
»Er ist nicht fürchterlich«, beeilte Mr Boyle mich zu beruhigen und als er mein Lächeln sah, kehrte auch sein eigenes zurück. »Nur … kompliziert.«
Ich hob eine Augenbraue, legte den Kopf leicht schräg und beschloss, die Gelegenheit zu nutzen, den gut aussehenden Mr Boyle auszuquetschen. Wenn schon niemand anderes bereit war, meine Fragen zu beantworten, dann musste eben er herhalten.
»Setzt euch doch erst mal und esst«, unterbrach Tante Lillian meine Gedanken mit weicher Stimme und streckte die Hand nach mir aus, damit ich mich auf ihre Seite des Tisches setzte. »Dabei könnt ihr immer noch reden.«
Ich lächelte ihr zu, obwohl ich innerlich seufzte, raffte meine Röcke und manövrierte mich zwischen Onkel Alfred und Mr Boyle hindurch, die mir bereitwillig den Weg frei machten.
Meine Mutter hätte mich wohl niemals unterbrochen, wenn ich gerade mit einem netten jungen Mann geplaudert hätte. Aber so war das Leben nun mal, man konnte an jeder Situation etwas beanstanden.
Wir setzten uns, Onkel Alfred sprach das Tischgebet und eine beleibte Frau mit Spitzenhäubchen trug eine Terrine mit dickem Eintopf herein, aus der sie uns einem nach dem anderen ausschöpfte.
Ich hatte gerade den Löffel aufgenommen, da richtete ich das Wort auch schon wieder an Mr Boyle. »Mr Boyle«, sagte ich mit leiser Stimme, hoch erhobenem Kopf, das Kinn hielt ich jedoch ein wenig gesenkt, genau so, wie meine Mutter mir immer einredete, wie man mit jungen Männern zu reden hätte. »Geh ich recht in der Annahme, dass Sie diesen Mr Reed persönlich kennen?«, fragte ich sehr direkt und Mr Boyle nickte, während er kaute.
»Das tun Sie, Miss Crumb«, erwiderte er charmant und seine ungewöhnlichen Lippen verzogen sich zu einem leichten Schmunzeln. »Wenn man so viel Zeit wie ich in dieser Bibliothek zugebracht hat, kann man gar nicht anders, als diesem Herrn persönlich zu begegnen.«
Ich rutschte mit dem Po ein Stück weiter auf die Stuhlkante, um aufmerksamer zuzuhören und mein Interesse an diesem Thema zu unterstreichen. »Mein Onkel hat mich dazu überredet, mein Glück in der arbeitenden Schicht zu versuchen, bisher allerdings alles verschwiegen, was mir in diesem Bezug wichtig erscheint. Sie werden mir wohl verzeihen müssen, dass ich meine Neugierde so offen zur Schau trage«, erzählte ich und Mr Boyle lachte, ein Lachen, das mich anstecke.
Er stützte die Unterarme auf der Tischkante ab und beugte sich mir ebenfalls entgegen. »Ich werde Ihnen mit Freuden alle Fragen beantworten, die ich imstande bin aufzuklären«, versicherte er mir verschwörerisch und hob dann den Blick zu Onkel Alfred, als wäre ihm eingefallen, dass es sich nicht gehörte, Versprechungen in Aussicht zu stellen, die man vielleicht nicht einhalten konnte. »Wenn es Ihrem Onkel denn genehm ist«, fügte er schnell hinzu und seine Stimme bekam einen nüchternen Ton.
Onkel Alfred seufzte laut und schob sich noch einen Löffel voll Eintopf in den Mund, was seine Antwort verzögerte und mich noch mehr auf die Folter spannte. »Redet nur«, sagte er schließlich schroff. »Soll mir recht sein. Dann muss ich schon nicht über diesen Mann sprechen. Das ist nicht gut für mein Herz, wisst ihr«, behauptete er und ich konnte ihm nicht so recht glauben, weil Tante Lillian in diesem Moment ebenfalls zu grinsen anfing und sich nur mühsam das Lachen verkneifen konnte.
Doch es konnte mir ja auch egal sein, welche Gründe Onkel Alfred wirklich hatte, solange er mir erlaubte, meine Neugierde anderweitig zu stillen.
Mr Boyles Honigaugen wandten sich erwartungsvoll an mich und mir fiel es schwer, auf die Schnelle bei all den vielen Fragen zu entscheiden, welche ich als Erstes stellen wollte.
»Mein Onkel deutete an, dass sich kein Assistent für diesen Mr Reed finden lasse. Woran kann das Ihrer Meinung nach liegen?«, begann ich klein, erinnerte mich selbst daran, dass ich ja mal hungrig gewesen war, und tauchte meinen Löffel in den heißen Eintopf, der nach Kartoffeln, Hühnchen und diversen Gewürzen duftete.
»Puh, das ist wohl auch schon der Kern der Sache«, meinte Mr Boyle und ließ seinen Löffel auf halbem Weg in der Luft verweilen, während er die Stirn krauszog, um seine Gedanken anzustrengen. »Ich würde behaupten, es liegt an den Erwartungen, die er an die Leute stellt und die niemand erfüllen kann.«
»Und die wären?«, schob ich gleich hinterher, als Mr Boyle sich den Löffel zum Mund führte.
»Er nimmt sich nicht die Zeit, die Leute richtig einzulernen. Er hat gern seine Ruhe, verschwindet manchmal am Nachmittag einfach, ohne zu sagen wohin, und erwartet, dass man mit den gestellten Aufgaben fertig wird, ohne von ihm eine Anleitung zu bekommen. Ich würde behaupten, er ist ein schlechter Lehrer, der aber trotzdem Perfektion als Ergebnis erwartet«, führte er aus und da fiel ihm noch etwas ein. »Oh!«, machte er und sein Mund verzog sich zu einem kleinen Lächeln. »Und er schätzt es gar nicht, wenn man seine Arbeit nicht ernst nimmt. Ein Mensch, der Vergnügen der Arbeit voranstellt, hat bei ihm nicht die geringste Chance.«
Das waren eine Menge Eigenschaften, die auf einen sehr verschrobenen, steifen Mann hinwiesen, mit dem ich meine liebe Mühe haben würde. Falls ich die Gelegenheit bekam, lang genug zu bleiben, um mich überhaupt darauf einzulassen.
So wie es bei Mr Boyle klang, würde ich in die Bibliothek hineinkommen, einen Fehler machen und schon wieder rausgeworfen werden. Ich hatte noch nie in einer Bibliothek gearbeitet.
Was dachte ich da? Ich hatte überhaupt noch nie gearbeitet! Ich hatte keine Ausbildung, kein Literaturstudium, keinerlei Erfahrungen als Assistent eines Bibliothekars.
Aber ich hatte Stärken, die von Vorteil sein würden. Ich kannte mich in Bibliotheken aus. Zwar nicht speziell in dieser, aber ich hatte schon viele gesehen und das System war immer ähnlich. Ich konnte schnell lesen, war logisch veranlagt und hatte einen Hang zur Sorgfalt.
Und vor allem war ich dickköpfig.
Wenn es sein musste, dann würde sich dieser Mr Reed die Zähne an mir ausbeißen. Sollte sich herausstellen, dass es nur die trotzige Reaktion einer Tochter auf die Worte ihrer Mutter war, würde ich trotzdem niemals aufgeben!
Dieser Entschluss stärkte mir den Rücken, gab mir Aufwind, auch wenn Mr Boyles Worte mich eigentlich hätten entmutigen müssen.
»Woher wissen Sie von dem Vergnügensverbot?«, fragte ich nach.
»Es ist kein Verbot, Miss Crumb. Es wird nur nicht gern von ihm gesehen, wenn sie Bälle und Gesellschaften der Arbeit vorziehen und unausgeschlafen am Morgen antreten«, verdeutlichte er und ich konnte mich des Eindrucks nicht erwehren, dass er irgendwie zu glauben schien, dass ich so eine Person sein könnte, die Bälle liebte und den Morgen verschlief.
»Und um auf Ihre Frage zu antworten. Einige meiner engeren Bekannten haben sich bereits in die Knechtschaft dieses Mannes begeben und sind allesamt geflohen«, sagte er und lachte, weil er darin einen Witz fand, den ich nicht entdecken konnte. »Aber zu Mr Reeds Verteidigung muss ich sagen, dass diese besagten Bekannten faule Taugenichtse sind und es eigentlich nicht anders verdient haben.«
Da war er also, der Witz, und ich lächelte elegant, genau wie Mr Boyle es auch tat.
Ich hatte gedacht, dass die Antworten auf meine Fragen Licht in die Dunkelheit bringen würden. Doch eigentlich warfen sie nur neue Schatten an die Wände, die ich noch weniger deuten konnte als die vorherige Dunkelheit.
Es ergab sich einfach kein vollständiges Bild und meine Neugierde wurde nur weiter angestachelt.
»Aber um dem verschrienen Mr Reed nicht unrecht zu tun, bin ich gewillt, Ihnen auch ein paar seiner positiven Eigenschaften aufzuzählen«, gab Mr Boyle fast gnädig von sich und Onkel Alfred schnaubte in sich hinein. Er schien da wohl anderer Meinung zu sein, sodass ich mir verhalten die Hand vor den Mund legte, damit er mein Lachen nicht sah.
Doch Mr Boyle entging es nicht und seine Augen glitzerten in einer so angenehmen Weise, dass ich mir nicht erklären konnte, woher all die Sympathien kamen, die ich für ihn hegte, obwohl ich ihn so wenig kannte.
Vielleicht lag es an seinem hübschen Gesicht oder seiner stilvollen Kleidung. Doch das hatten schon andere vor ihm gehabt und ich hatte ihnen auch nichts abgewinnen können.
Ich belächelte mich selbst und gab der Möglichkeit Raum, dass es an der Tatsache lag, dass er bisher noch nichts gesagt hatte, was auf Stumpfsinn hinweisen könnte.
Mr Boyle nahm noch einen Löffel Eintopf zu sich und führte seine Anschauungen weiter aus. »Mr Reed ist weltoffen und unkonventionell, soweit man das als Stärken auslegen möchte. Er ist wissbegierig, hat zu beinahe jedem Thema eine Meinung oder zumindest ein Buch, auf das er verweisen könnte, und sein Sinn für Fortschritt ist mir sehr genehm.«
Ich nickte leicht und schwieg, hing meinen Gedanken nach, versuchte das Bild weiter zusammenzusetzen.
»Bin ich Ihnen denn eine Hilfe, Miss Crumb?«, fragte Mr Boyle plötzlich ein wenig verunsichert und ich hob meine Augen wieder zu ihm, bemüht, das Lächeln zurück auf meine Lippen zu zaubern.
»Aber natürlich, Mr Boyle. Sie helfen mir sogar in großem Maße. Doch ich muss zugeben, dass ich aus alldem nicht schlau werde.«
»Da werden Sie wohl warten müssen, bis Sie ihm begegnen«, lachte Mr Boyle und seine Stimme hatte eine Art Zuversicht, die mich davon überzeugte, dass es eine interessante Begegnung werden würde.
Nach dem Essen zogen sich Onkel Alfred und Mr Boyle ins Arbeitszimmer zurück und redeten über irgendwelche Verträge. Allerdings konnte ich nicht viel in Erfahrung bringen, da Tante Lillian mich beinahe beim Lauschen erwischt hätte und ich mich daraufhin mit ihr im Wohnzimmer vor den Kamin setzte. Sie ließ mich von meinen Eltern berichten, von der Reise, und erzählte mir dann von all den aufregenden Sachen, die sie mit mir in London unternehmen wollte.
Ich wies sie nicht darauf hin, dass ich morgen eine Arbeit antrat und daher wahrscheinlich nicht so viel Zeit für ausschweifende Unternehmungen haben würde. Stattdessen lächelte ich nur und ließ ihr die Freude, mir Londons Attraktionen aufzuzählen. Und als sich die Herren wieder zu uns gesellten, war es bereits spät geworden und es war absehbar, dass Mr Boyle uns bald verlassen würde.
»Wie lang werden Sie denn voraussichtlich in London verweilen, Miss Crumb?«, fragte er mich und ich fühlte mich ein wenig geschmeichelt von all der Aufmerksamkeit, die er mir entgegenbrachte.
Er hatte sich nah neben das Sofa gestellt, auf dem ich saß, und sein Blick lag auf mir. Amüsiert und ernst zugleich.
Ich wusste nicht, wie ich darauf reagieren sollte. Seine Blicke verwirrten mich, denn ich fühlte mich besonders gut und gleichzeitig unwohl bei dem Gedanken, dass er mit seiner Frage darauf abzielte, mich wiederzusehen.
»Oh, das weiß ich noch nicht«, gab ich uneindeutig zurück und dachte daran, dass meine Mutter darauf bestanden hatte, dass ich nicht länger als einen Monat blieb. Aber wer konnte das schon so genau vorhersagen?
Onkel Alfred schmunzelte. »Keine Angst, du wirst sie schon wiedersehen«, meinte er mit seiner brummenden Stimme und der Unterton darin gefiel mir gar nicht. Es klang so nach verkuppeln.
Tante Lillian war da auch nicht besser. »In sechs Tagen findet eine Soiree bei den Kents statt«, warf sie ein, erhob sich vom Sessel mir gegenüber und lächelte Mr Boyle an. Er erwiderte das Lächeln, während sein Blick immer wieder zu mir wanderte. Er schien eine Art Bestätigung von mir zu erwarten, die ich ihm aber nicht geben konnte, da ich seine Absichten nicht so recht zu deuten wusste.
»Animant wird uns sicher dorthin begleiten«, versprach Tante Lillian also an meiner statt und auch sie sah mich erwartungsvoll an.
Unsicher stützte ich meine Hand auf der Armlehne des Sofas ab und drückte mich auf die Füße hoch. Wenn alle im Raum standen, wäre es unhöflich gewesen, einfach sitzen zu bleiben.
Meine Gefühle waren noch durcheinander, während der Teil meines Kopfes, der rein analytisch dachte, eine Ungereimtheit in den Worten meiner Tante fand.
»Moment. In sechs Tagen? Sagte Onkel nicht, dass Sie nach Glasgow reisen würden? Welche Kutsche der Welt schafft es denn in sechs Tagen nach Schottland und wieder zurück?«, platzte es lauter aus mir heraus, als ich beabsichtigt hatte, und trotz der Unhöflichkeit, die ich damit an den Tag legte, begann Mr Boyle zu lachen.
»Keine Kutsche, Miss Crumb, da haben Sie recht. Aber ein Luftschiff sehr wohl«, antwortete er und sein Blick veränderte sich. Ungewollt hatte ich das Thema gewechselt und fühlte mich gleich ein wenig leichter ums Herz. Als ob ein unangenehmer Druck, den alle Anwesenden auf mich gelegt hatten, verschwunden wäre.
Meine Augen wurden groß, als ich mir seiner Aussage bewusst wurde. Das war doch unfassbar! »Ein Luftschiff?«, fragte ich entgeistert und trat näher auf Mr Boyle zu. »Ich habe darüber gelesen, aber noch keins mit eigenen Augen gesehen.«
»Was haben Sie denn gelesen?«, interessierte er sich und ich bekam einen kleinen Euphorieschub. Das hatte mich wahrlich noch kein Mann in meinem Alter gefragt.
»Louis Sanders’ Abhandlung vom Fliegen, Vom Bau bis zum Flug von den Thill-Brothers«, ratterte ich runter und dann fiel mir noch ein drittes Buch ein, das auch detaillierte Beschreibungen des Fliegens mit einem Luftschiff enthielt, aber sicher nicht als Sachbuch zählte. »Und Claire’s Reise zum Mond«, sagte ich trotzdem und wartete darauf, dass Mr Boyle etwas antwortete. Ich hoffte, ich hatte ihn nicht überfordert. Wenn er keines der Bücher kannte, dann würde er sich für unwissend halten. Und zum ersten Mal wollte ich nicht, dass ein Mann sich in meiner Gegenwart vor den Kopf gestoßen fühlte.
»Erstaunliche Fachliteratur«, merkte Mr Boyle an und grinste dann schelmisch. »Vor allem das Letzte«, witzelte er und ich kniff verstimmt die Lippen aufeinander.
Ich mochte es gar nicht, wenn man sich wegen der Bücher, die ich gelesen hatte, über mich lustig machte.
»Wie gefiel Ihnen das Ende?«, erkundigte sich Mr Boyle jedoch und ich fasste mich rasch wieder. »Robert entscheidet sich für seine Claire und gibt das Fliegen um ihretwillen auf. Romantische Lektüre, die für junge Frauen wie geschaffen ist, scheint mir«, merkte er an und ich blinzelte erstaunt.
»Sie haben es gelesen?«, wollte ich wissen, obwohl es offensichtlich war. Schließlich kannte er das Ende.
»Das habe ich. Und?«, blieb er an seiner Frage dran und ich schüttelte den Kopf.
Ich konnte mich genau erinnern, wie ich den Schluss gelesen hatte und danach verwirrt und wütend das Buch auf meinen Nachttisch knallte. »Ich muss Sie enttäuschen. Ich fand das Ende schrecklich«, berichtete ich und nun war es Mr Boyle, den ich mit meiner Aussage ins Staunen versetzte. »Eine Frau, die von ihrem Liebsten verlangt, das wichtigste Gut seines Lebens aufzugeben, kann ihn nicht wahrlich lieben!«, empörte ich mich und sah, wie Tante Lillian sich neben mir ein Grinsen verkniff.
»Eine wirklich ungewöhnliche Meinung für eine junge Frau«, meinte Mr Boyle und ich wusste genau, was er meinte. Ich kannte die jungen Dinger aus meinem kleinen Städtchen und sie alle hatten nur hübsche Kleider, Liebesbriefe, Rosen und anderen romantischen Firlefanz im Kopf.
»Das sagt sie nur, weil sie keine Ahnung von der Liebe hat«, behauptete Tante Lillian plötzlich und ihre Worte verletzten mich, obwohl ich eigentlich wusste, dass sie es nicht böse meinte.
»Ich habe über die Liebe gelesen«, gab ich von mir und riss mich zusammen, um nicht zu streng zu sprechen.
»Liebes«, sagte Tante Lillian zu mir und legte mir gutmütig eine Hand auf den Arm. »Manchmal reicht es nicht, nur darüber zu lesen.«
Das Dritte oder das, in dem ich mein Herz verlieren würde.

Der Morgen war so eisig, dass mir die kalte Luft unter den Reifrock zog und mir die Beine schlotterten, obwohl ich meine langen Wollstrümpfe trug.
Der Himmel war wolkenverhangen und blieb düster, auch nachdem die Sonne aufgegangen war.
Nach der Morgentoilette hatte Tante Lillian mir beim Anziehen geholfen, da ich zu nervös gewesen war, um auch nur einen Knopf mit meinen zittrigen Fingern zu schließen. Ich trug eine einfache cremefarbene Bluse aus Baumwolle und einen dunklen karierten Rock aus schwerer Wolle. Beides waren Teile, die meiner Mutter kein bisschen zusagten, weil sie ihrer Meinung nach so farblos und lebensverneinend schienen. Doch ich glaubte, dass sie nur fürchtete, dass ich damit viel zu streng aussah und deshalb die jungen Herren abschreckte, die von den Damen des Landadels fröhliche Papageienpracht gewohnt waren.
Ich fühlte mich sehr wohl in meinen Kleidern, viel wohler als in irgendeinem eng geschnürten Rüschending, und freute mich sehr darüber, dass Tante Lillian mich angesehen und mir gesagt hatte, dass ich in meiner Aufmachung älter und reifer wirkte. Anschließend hatte sie mir die Haare hochgesteckt und mir ihre schmalen Perlohrringe geliehen.
Und obwohl ich mich angemessen angezogen fühlte, war mein Kopf unruhig, mein Magen flau und mein Herz schlug mir bis zum Hals.
Onkel Alfred lief neben mir, hatte mir den Arm geboten, damit ich mich unterhaken konnte, und ich war froh über die Stütze.
Der gepflasterte Weg ging von Onkel Alfreds Haus nur ein Stück die Straße nach unten und bog anschließend durch einen schmiedeeisernen Durchgang in einen Park, der bereits zum Universitätsgelände gehörte.
Mein Onkel zeigte auf mehrere große, stattliche Gebäude aus rostrotem und dunkelgrauem Stein und benannte sie für mich, während mir beinahe die Augen aus dem Kopf fielen vor lauter Staunen.
Das letzte Mal, dass ich hier gewesen war, lag schon eine Weile zurück und ich hatte damals die ganze Zeit mit der Nase in Oliver Twist gehangen, um danach unseren restlichen Aufenthalt in London damit zu verbringen, nach Straßenkindern Ausschau zu halten. Der Bibliothek waren wir nicht einmal nahe gekommen, aus der Angst meiner Eltern heraus, mich dort drin zu verlieren und nie wiederzufinden.
Der Park, durch den wir schlenderten, war weitläufig, durchzogen von hell gepflasterten Wegen, gesäumt mit verknöcherten alten Platanen, die schon beinahe alle Blätter verloren hatten. Von Grünflächen umfasst, ragte die Universität in den verhangenen Himmel. Die Gebäude waren prachtvoll konstruiert, mit schmalen Säulen, Türmchen und silbernen Zinnen, wie es so typisch für London war. Sie hatten Hunderte schmale Fenster, große hölzerne Tore und strahlten allesamt eine so machtvolle Aura aus, dass ich Ehrfurcht empfand vor all dem Wissen, das hier auf dem Campus vermittelt wurde und von dem ich lediglich nur eine leise Ahnung hatte.
Dazwischen wimmelte es nur so von jungen Männern. Es war noch recht früh und doch waren sie schon alle unterwegs. Zu den morgendlichen Vorlesungen, zur Cafeteria, die wir rechts zurückließen, oder zu Lerngruppen, die sich überall auf dem Campus und in den Cafés drum herum trafen.
Die Bibliothek lag recht zentral und ich holte ehrfurchtsvoll Luft, als wir den Weg zum Haupteingang entlanggingen.
Die schmuckvolle Fassade ragte vor mir auf, beugte sich mir entgegen und ließ mich meine Kleinheit spüren.
Die Angst, die ich bisher mehr oder minder erfolgreich verdrängt hatte, kroch mit der Kälte des Morgens in meinen Bauch und gab mir das Gefühl, unzureichend zu sein.
Ich hatte keine Vorstellung davon, wie viele Bücher in diesem Gebäude sein würden. Wie hatte ich mir einbilden können, auch nur eine winzige Kenntnis von all der Literatur dieser Welt zu haben.
Onkel Alfred tätschelte mir die Hand, lächelte mir väterlich zu und ließ dann meinen Arm los, um die schwere Tür zu öffnen.
Ich hielt den Atem an, bemühte mich um Haltung; den Kopf hoch erhoben, straffte ich die Schultern und betrat das Gebäude.
Stille umfing mich, als mein Onkel die Tür hinter uns schloss und alle Geräusche von außen aussperrte. Der Wind, der in den Bäumen geraschelt hatte, das Krächzen der Krähenvögel, das Klappern der weit entfernten Kutschen. Hier drin war es so leise, dass man einen Stecknadelkopf hätte fallen hören können.
Die wuchtigen Schritte meines Onkels hallten wie Hammerschläge durch das Foyer und ich folgte ihm schnell.
Ich hob den Blick, mein Herz setzte aus, meine Augen konnten kaum glauben, was sie sahen. Das Foyer war groß, wurde von einem U-förmigen Tresen aus schwarzbraunem Holz dominiert, der in der Mitte des Vorraums stand und an dem zwei junge Männer leise arbeiteten.
Dahinter öffnete sich eine runde Halle, groß wie ein Theater, mit einer gläsernen Kuppel als Dach. Und obwohl die unendlichen Verzierungen aus Schnitzereien und goldenen Applikationen sicher sehenswert gewesen wären, wurde meine Aufmerksamkeit nur von den Büchern gefangen genommen.
Die Regale gingen einmal an der gesamten Wand entlang, geschwungen, sodass sich Nischen ergaben, die die einzelnen Themenbereiche voneinander trennten. Sie waren so hoch, dass man lange Leitern verwenden musste, um an die oberen vier oder fünf Regalbretter zu gelangen. Zwei Treppen führten hinauf auf einen breiten Rundgang, an dem sich das Ganze nur weiter fortsetzte.
Bücher über Bücher, Seiten, Wörter, der Geruch von Papier und Staub in der Luft, und ich wusste, dass ich mein Herz an diesen Ort verlieren würde.
Ich hatte gar nicht gemerkt, wie ich nach vorne getreten war, bis ich beinahe mit einem Studenten zusammenstieß, der etwas ungeschickt einen Stapel Bücher an seinen Platz manövrierte.
»Entschuldigung«, murmelte ich und klang dabei schon viel zu laut für diesen Ort der Ruhe und des Wissens.
Der Mann nickte mir nur zu und setzte sich an einen der unzähligen Tische, die in der runden Halle aufgestellt waren. Auch andere saßen hier, gebeugt über dicke Gesetzbücher, Lexika, fremdländische Literatur, Baupläne und lasen, schrieben und lernten.
Wäre ich ein Mann, so würde ich längst hier sitzen und studieren, alles Wissen in mich aufsaugen. So wie mein Bruder Henry. Aber ich war kein Mann und auch wenn es am anderen Ende von London seit Neuestem auch eine kleine Universität für Frauen gab, war das Studieren für Frauen immer noch eine nicht besonders angesehene Tätigkeit. Wie ich gelesen hatte, waren bisher auch die Studienfächer sehr begrenzt und für mich bisweilen noch nichts dabei, das mich wirklich angesprochen hätte.