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Henry hatte behauptet, die Universität für Frauen wäre ein Witz im Gegensatz zu dieser hier und es würden noch viele Jahre vergehen müssen, ehe sich daran etwas ändern würde.
Ich reckte den Hals, sah von einem zum anderen Studenten und versuchte unter ihnen meinen Bruder zu erkennen. Doch er war nicht hier.
Onkel Alfred räusperte sich neben mir und ich schreckte zusammen. Ihn hatte ich ganz vergessen, und auch den Grund unseres Besuches. Eigentlich war alles in den Hintergrund getreten, als ich die Bücher gesehen hatte. Selbst meine Angst vor dem, was vor mir lag, war den Schmetterlingen in meinem Bauch gewichen.
»Ah, da ist er ja«, flüsterte mein Onkel mir zu und ich sah in die Richtung, in die er flüchtig zeigte.
Auch ohne diese Geste, wäre ich sehr schnell darauf gekommen, dass der Mann, der gerade die Treppe nach unten kam, niemand geringerer als der Bibliothekar sein konnte.
Er unterschied sich deutlich von den gebeugten Studenten mit den rauchenden Köpfen. Auffallend groß, war seine Haltung gerade, die Gestalt leicht hager. Er hatte sehr dunkles Haar, keinen Bart und konnte nicht älter als dreißig sein, was erklärte, warum mein Onkel ihn zu einem Jungspund erklärt hatte. Er war für eine so leitende Position wirklich noch sehr jung. Seine Schritte machten fast keine Geräusche und obwohl er mit der Nase in einem Buch steckte, waren seine Füße so trittsicher auf den breiten Stufen, als hätte er sie schon Hunderte Male begangen. Sein Anzug war dunkelbraun, schlicht, passend. Im Gesicht trug er eine Brille, die ihm bis auf die Nasenspitze gerutscht war.
Es ließ sich schwer sagen, wie ich seinen ersten Eindruck auf mich beurteilen sollte. Ich hatte etwas so anderes erwartet und trotzdem schien er voll und ganz hierher zu passen.
»Mr Reed«, sprach Onkel Alfred ihn an und er hob zögernd den Blick von den Zeilen seines Buches.
Als er meinen Onkel entdeckte, sah ich ihn verhalten seufzen und er stoppte das Rollen mit den Augen gerade noch rechtzeitig, dass es nicht zu offensichtlich war. Aber ich hatte es dennoch gesehen.
»Mr Crumb. So schnell hatte ich Sie nicht wiedererwartet«, sagte er und seine Stimme klang höflich und überrascht. Das passte so gar nicht zu den feinen Ausdrücken in seinem Gesicht, die allesamt eine angespannte Genervtheit signalisierten. Genau wie auch bei meinem Onkel, wenn er die letzten Tage von Mr Reed gesprochen hatte. Die beiden mussten sich in der Vergangenheit ja ziemlich auf die Nerven gegangen sein.
»Nein? Wie seltsam. Wo wir doch beide die gleiche Problemlösung verfolgen«, meinte mein Onkel heiter und ich hörte die leichte Prise Ironie so deutlich, dass ich mir ein Grinsen verkneifen musste. »Darf ich vorstellen«, fuhr er fort und legte mir eine Hand auf den Rücken, damit ich einen Schritt nach vorne trat.
»Das ist Animant Crumb, die Tochter meines Bruders. Sie ist eine hervorragende junge Dame mit Scharfsinn und Witz. Sie ist anständig, höflich und ich kenne kaum jemanden, der so viele Bücher gelesen hat wie sie. Ich denke, dass nicht mal Sie da mithalten können«, lobte mein Onkel mich in den Himmel und ich war für einen Moment etwas irritiert über die Wahl seiner Worte. Warum genau erzählte er ihm das alles?
Mr Reed nahm seine Brille von der Nase, faltete sie zusammen und hakte den einen Bügel an den Ausschnitt seiner schlicht bestickten Weste. Sein Blick wanderte recht skeptisch von meinem Onkel zu mir, weil auch ihm nicht klar war, worauf das alles hinauslaufen sollte.
»Und ich habe beschlossen, sie als Ihre neue Assistentin einzustellen«, rief Onkel Alfred ein bisschen zu laut für diese geweihten Hallen und einige Studenten drehten ihre Köpfe zu uns. Doch offensichtlich machte ihm das alles viel zu viel Spaß, als dass er darauf achten wollte. Sein Blick lag ganz auf Mr Reeds Zügen, dessen Gesichtsfarbe sich von normal zu ungesund blass wandelte, nur um Sekunden später in wutrot umzuschlagen.
»Auf. Ein. Wort!«, zischte Mr Reed ihm verbissen zu, drehte sich auf dem Absatz um und marschierte wie ein Feldmarschall auf die Treppe zu, die er gerade heruntergekommen war.
Auf Onkel Alfreds Lippen erschien ein diabolisches Grinsen, kaum dass sich der Bibliothekar umgedreht hatte, und er folgte ihm mit großen Schritten.
Ich hatte keine Ahnung wohin mit mir, stand einfach nur da, während die Herren mich verließen, und sah mich den Blicken der herumsitzenden Studenten ausgeliefert, die mich ansahen wie einen bunten Hund. Es war nicht sehr nett von den beiden, mich einfach hier zurückzulassen, und ich raffte kurz entschlossen meinen Rock, um ihnen zu folgen.
Ich sah sie gerade noch hinter einer Tür verschwinden, die seitwärts von dem oberen Rundgang abging, als ich die oberste Stufe erreichte. Da sich hier oben niemand weiter aufhielt und die Studenten von unten mich nicht sehen konnten, wenn ich nah an den Regalen entlangging, rannte ich das kurze Stück so leise ich konnte und versuchte meinen schnellen Atem zu unterdrücken, als ich mein Ohr an die geschlossene Tür hielt.
»Das kann ja wohl kaum Ihr Ernst sein!«, hörte ich Mr Reed überdeutlich und er klang wirklich erbost.
»Doch, es ist mein voller Ernst. Vierundzwanzig Assistenten haben Sie in den vergangenen Monaten abgelehnt, rausgeekelt oder entlassen. Und nun ist es genug!«, brachte mein Onkel ihm nicht weniger aufgebracht entgegen und ich musste mich mit der Hand an der Seite eines Regals festklammern, um in meinem Korsett genug Luft zu bekommen und gleichzeitig weiter lauschen zu können.
»Sie ist eine Frau, Mr Crumb. Und eine Unstudierte noch dazu. Was glauben Sie, was ihr Job sein wird? Tee kochen?«, rief der Bibliothekar höhnisch und ich zuckte innerlich zusammen. Es griff mich an, solche Worte zu hören. Natürlich war mir klar, dass ich nie das Ansehen erlangen würde, das ein Mann in meiner Position haben könnte, doch von vornherein anzunehmen, ich sei zu weniger zu gebrauchen, nur weil ich eine Frau war, machte mich rasend.
»Sie ist ehrgeizig und schlau, und sie wird durchaus in der Lage sein, den Aufgaben nachzugehen, die Sie ihr auftragen werden«, verteidigte mein Onkel mich und seine Stimme war wieder ruhiger geworden. »Außerdem haben Sie keine Wahl, Mr Reed. Entweder Sie behalten sie für mindestens einen Monat oder ich werde dem Finanzrat nahelegen, Ihrer kuriosen Maschine nicht länger finanzielle Mittel zur Verfügung zu stellen.«
Mr Reed blieb stumm und ich hielt die Luft an vor lauter Spannung. Mein Onkel hatte diesen Mann gerade tatsächlich erpresst und ich fand das gar nicht gut. Dafür war ich nun wirklich nicht skrupellos genug.
»Außerdem ist sie meine Nichte. Sie werden also achtsam mit ihr umgehen«, setzte Onkel Alfred noch einen drauf und dies schien Mr Reed wieder zur Besinnung zu bringen.
»Na gut. Wie Sie wollen. Aber wenn es der Lady zu anstrengend wird, werde ich der Letzte sein, der sie am Abreisen hindert«, grummelte er und ich konnte ihn kaum verstehen, weil seine Stimme im Rascheln von Papier unterging. »Wird sie auch das Zimmer im Personalgebäude beziehen?«, wollte er fast spöttisch wissen und Onkel Alfred schnaubte.
»Natürlich nicht. Machen Sie sich nicht lächerlich. Sie wird bei meiner Frau und mir wohnen.«
»Dann ist ja alles geklärt. Ich wünsche Ihnen einen schönen Tag und dass ich Sie lange nicht mehr wiedersehen muss«, äußerte Mr Reed ungehalten und ich schnappte erschrocken nach Luft über seine Unhöflichkeit, obwohl seine Stimme wieder einen angenehmeren Unterton bekommen hatte.
»Auf Wiedersehen, Mr Reed. Und ich wünsche Ihnen das Gleiche«, erwiderte mein Onkel die Unverschämtheit und ich wich von der Tür zurück.
Als Lauscherin mit jahrelanger Erfahrung wusste man, wann ein Gespräch wirklich beendet war. Ich ging ein paar eilige Schritte und trat an die Balustrade, um unbeteiligt zu wirken und mir einen kurzen Überblick zu verschaffen.
Hinter mir riss man die Tür mit Schwung auf und ich hörte die schweren Schritte meines Onkels. Als er mir die Hand auf die Schulter legte, drehte ich mich zu ihm um und setzte einen fragenden Gesichtsausdruck auf, damit es so aussah, als ob ich nicht die geringste Ahnung hätte, was als Nächstes passieren würde.
»So, die Formalitäten sind geklärt«, teilte er mir mit und bemühte sich um ein Lächeln, das falsch wirkte. Ich lächelte zurück und tätschelte ihm aufmunternd den Arm.
»Dann kann ich gleich anfangen?«, fragte ich mit entschlossener Stimme und sah von ihm zu Mr Reed, der mich scharf über den Rand seiner Brille hinweg musterte, die er wohl während des Gesprächs im Büro wieder aufgesetzt haben musste.
»Scheint wohl so«, erwiderte er und straffte die Schultern. »Da Ihr Onkel es sicher eilig hat, seinen sonstigen Geschäften nachzugehen«, sagte er scharf und sah Onkel Alfred aus den Augenwinkeln an, »werde ich Ihnen den Ort zeigen, an dem Sie Ihren Mantel ablegen können, und dann werden Sie eine halbe Stunde haben, sich mit dem System vertraut zu machen. Denn ich hatte zu meinem Bedauern in meinem heutigen Zeitplan nicht vorgesehen, einen Assistenten einzulernen, Miss Crumb.« Seine Stimme war immer noch nicht weicher geworden und ich schüttelte innerlich den Kopf über ihn. Langsam verstand ich, was alle an ihm so schrecklich fanden. Er war wirklich sehr unhöflich und ein Meister darin, anderen das Gefühl zu vermitteln, dumm und nutzlos zu sein.
Onkel Alfred schnaubte laut und ich lächelte unverwandt weiter, als ob ich weder den sehr deutlichen Rausschmiss meines Onkels noch die verachtende Haltung gegenüber meiner Anwesenheit bemerkt hätte. Denn so war man als wahre Dame. Man stand über den Dingen, und vor allem über Beleidigungen.
»Mr Reed«, verabschiedete sich Onkel Alfred knapp und führte mich ein Stück am Geländer des Rundgangs entlang, bevor er sich zu mir runterbeugte. »Du wirst das schaffen, Ani. Zeig es dem Sesselfurzer«, raunte er mir zu und ich musste lachen über seine Ausdrucksweise. Auch bei meinem Onkel stahl sich ein Grinsen in die Mundwinkel. Er nickte mir zu, drückte noch einmal kurz die Hand, die ich immer noch auf seinem Arm ruhen hatte, und trat dann auf die Treppe zu. Ein letzter Blick zu mir, der für meinen Geschmack viel zu besorgt aussah, und dann war er verschwunden.
Mr Reed hatte seine Nase schon wieder in dem Buch, das er bereits vorhin in den Händen gehalten hatte, und sah erst auf, als ich mich direkt vor ihn stellte.
»Der Mantel«, sprach ich ihn so freundlich wie irgend möglich an und er blinzelte zweimal, als hätte er schon vergessen, dass ich da war.
»Aber natürlich«, gab er zurück und ich konnte den Ausdruck in seinen Augen nicht recht deuten. Er führte mich zu der Tür neben seinem Büro und wir betraten ein schmales Zimmer. Darin befanden sich ein kleiner, grob gearbeiteter Tisch, zwei Stühle, eine ganze Menge Gerümpel, ein wenig befülltes Regal, ein Garderobenständer und noch eine zweite Tür, die nach hinten führte.
Unaufgefordert entledigte ich mich meiner Handschuhe, die ich ins Regal legte, und knöpfte meinen Mantel auf, der einen Platz an einem Messinghaken des Ständers fand.
Ich hatte keinen Moment erwartet, dass Mr Reed mir beim Ablegen behilflich sein würde und er hatte es auch nicht angeboten.
»Waren Sie bereits schon einmal zuvor in dieser Bibliothek?«, fragte Mr Reed ganz direkt und ich kniff die Lippen aufeinander.
»Nein«, musste ich zugeben und es passte mir gar nicht. Das klang, als ob ich noch nie ein Buch zur Hand genommen hatte und ich ärgerte mich über den abschätzigen Blick meines Gegenübers. »Nicht in dieser«, fügte ich daher hinzu, doch das ließ den Bibliothekar kalt, wenn er mir denn überhaupt zugehört hatte.
»Dann schlage ich vor, Sie sehen sich ein bisschen um, bis ich so weit bin, und dann werde ich Sie mit Ihrem neuen Aufgabenbereich vertraut machen«, erläuterte er, als erzählte er einem Kind, es würde wichtige Arbeit leisten, wenn es seine Bauklötze zusammenräumte. Dann drehte er sich einfach zur Tür, ließ mich ohne ein weiteres Wort stehen und ging zurück in sein Büro, dessen Tür er hinter sich schloss, als wollte er mich gleich wieder vergessen.
Ich kniff die Lippen noch fester aufeinander, um über diese Dreistigkeit nicht laut aufzuschreien.
Für einen Monat hatte Onkel Alfred mich hier eingestellt. Einen Monat gab mir meine Mutter.
Einen Monat, sagte ich mir. Einen Monat mit diesem Mann. Das musste doch irgendwie zu schaffen sein.
Das Vierte oder das, in dem ich lernte, Mr Reed zu hassen.

Ich ordnete meine Kleidung und redete mir weiter ein, dass alles nur halb so schlimm war und mein Stolz stärker als ein paar ungehobelte Worte von diesem Mann.
Sorgfältig strich ich den Rock glatt, kontrollierte meine Haare und richtete die Brosche an meiner Bluse, die direkt unterhalb einer Halskuhle saß. Dann machte ich mich innerlich bereit und trat aus der Tür, zurück auf den Rundgang.
Er beschrieb einen Kreis, den man einmal herumgehen konnte. Die Wände waren so hoch mit Büchern gefüllt, dass mir schwindelig wurde. Was allerdings auch an dem Hochgefühl liegen konnte, das die Masse an Literatur in mir hervorrief.
Gegenüber führte eine Tür auf einen langen Gang, der ebenfalls mit Regalen vollgestopft war und dessen Ende ich von hier aus nicht sehen konnte.
Ich ging eine Runde, langsam und aufmerksam, und genoss die Stille und die Atmosphäre. Eilig versuchte ich mir die Verteilung der einzelnen Themengebiete einzuprägen, besah mir die metallen kleinen Schilder, die jedem Buch auf den Rücken genietet waren und die die Abkürzungen der Abteilung, des Stehplatzes und des Autors eingestanzt hatten. Mir gefiel, dass die Abfolge der Aufteilungen einem Muster folgte und logisch erfassbar war.
Ich stieg die andere der beiden Treppen wieder hinab und mochte, wie mein schmaler Reifrock dabei wippte. Mr Reed war kein zuvorkommender Mensch, wie ich festgestellt hatte. Aber seine Unfreundlichkeiten rückten in den Hintergrund, wenn ich mein Herz in meiner Brust schlagen hörte, weil ich so ergriffen war von diesem Ort.
Bibliotheken hatte ich immer schon geliebt. Doch die zu Hause in unserem beschaulichen Städtchen war ein Frühstückssalon im Gegensatz zu der Royal University Library. Diese prachtvollen Hallen waren wie für mich gemacht und ich war gewillt, für immer hierzubleiben. Selbst mit diesem unfreundlichen Bibliothekar.
Tief atmete ich die Eindrücke um mich herum ein: die säuerliche Schärfe von gebleichtem Papier, muffig angelaufenen Büchern, frischer Tinte, gegerbtes Leder, Metallbeschläge, Staub, altes und neues Holz; das Licht, das durch die riesige Glaskuppel fiel und den runden Saal in einen grau schimmernden Palast voll unentdecktem Wissen verwandelte.
Auch unten waren die Wände voller Bücher und das System setzte sich fort. Ich zog einen kleinen Notizblock und einen Bleistift aus der Tasche meines Rockes und begann mir eine schnelle Skizze von der Verteilung der Themen zu machen. Zwar folgte es einer gewissen Logik, doch ich würde mir trotzdem nicht sofort alles merken können.
Sowohl rechts als auch links führten wie oben hohe Türen in breite, mit Büchern befüllte Gänge, die vorhin beim Betreten meiner Aufmerksamkeit entgangen waren.
Dort fand ich die weniger wichtigen Thematiken, allgemeine Literatur und sogar eine unerwartet große Anzahl an Romanen und Gedichtbänden.
Die Regale, die Treppen, die Geländer und auch die holzgetäfelten Wände waren kunstvoll verziert mit Schnitzereien und mit Gold beschlagenen Einsätzen und Statuen. Der Künstler hatte sich dabei zwar an nur wenige Motive gehalten, die sich jedoch in den verschiedensten Varianten wiederholten. Die Wappentiere Großbritanniens, der Löwe und das Einhorn, und dazu eine Menge Lilien.
Die Zeit ging vorbei, ohne dass ich es bemerkte, und ich las gerade im Stehen in einem Buch über Napoleons Aufstieg und Fall, als sich neben mir jemand verhalten räusperte.
Ich las noch die Zeile zu Ende und hob dann die Augen, nur um erschrocken zusammenzuzucken. Aus Versehen ließ ich das Buch viel zu laut zuschnappen, sodass das Geräusch unangenehm durch den ganzen Saal hallte.
Mr Reed stand vor mir, die Augenbrauen fragend hochgezogen, den Blick über den Brillenrand auf mich gerichtet. »Haben Sie keine Uhr, Miss Crumb?«, fragte er mich mit so weicher Stimme, dass mir sofort klar war, dass irgendwas nicht stimmen konnte.
»Nein, Mr Reed«, antwortete ich lauernd und konnte einen harten Zug um seinen Mund erkennen. Wieder fiel mir auf, dass er keinen Bart trug, was ungewöhnlich war für einen Mann in seinem jungen Alter. Aber vielleicht legte er auch einfach keinen Wert auf die modischen Anwandlungen unserer Zeit und das würde ihn zumindest in meinen Augen ein kleines Stück sympathischer machen.
»Es ist eine Dreiviertelstunde vergangen, seit ich Sie entlassen habe. Und ich habe wahrlich keine Zeit, Sie im gesamten Gebäude zu suchen«, fuhr er mich an und die Weichheit seiner Stimme war gewichen, genau wie meine Hochstimmung.
Ich war immer gut mit Worten gewesen, hatte Menschen immer Paroli bieten können. Doch gegen die Barschheit seiner Worte wusste ich einfach nichts Schlaues zu sagen, ohne selbst unhöflich zu werden. Und das ärgerte mich über alle Maßen.
»Kommen Sie mit!«, wies er mich recht streng an und ich folgte ihm zwischen den Regalen hindurch und zurück in den Lesesaal.
»Jedes Buch hat seinen Platz«, begann er und ich rollte mit den Augen, was er nicht sehen konnte, da er vorausging und mir den Rücken zugekehrt hatte. »Sie finden dazu die Signaturen auf den Büchern«, erklärte er, als ob ich völlig verblödet wäre, und ich wollte gar nicht wissen, was er bisher an Leuten einlernen musste, dass er es jetzt für nötig empfand, mir so etwas Banales zu erklären. Oder aber er tat es, weil ich eine Frau war.
»Die Aufgabe eines Bibliothekarsassistenten ist es, so etwas zu wissen. Diese Bibliothek muss Ihr zweites Zuhause werden und Sie müssen das Ganze sehr ernst nehmen.« Er wandte mir sein Gesicht zu und nahm die Brille ab. »Weil ich es sehr ernst nehme«, fügte er hinzu und seine Stimme schien viel bedeutungsvoller zu sein als bei den Worten davor. Es war ein Moment der Intensität, wie er dort stand und mich ansah. Mir zu vermitteln versuchte, dass Bücher sein höchstes Gut waren und ich dies zu ehren hatte. Diese Bibliothek war ihm wirklich sehr wichtig.
Dann wandte er den Blick wieder ab und steckte die Brille an seine Weste, wie er es zuvor schon einmal getan hatte.
»Sie werden alle Aufgaben erledigen müssen, zu denen ich nicht komme, und das wird oft mehr sein, als Sie glauben bewältigen zu können«, stellte er mir in Aussicht und ich dackelte ihm weiter hinterher. »Ich erwarte Sie um sieben Uhr dreißig am Morgen. Sie werden die aktuellen Zeitungen von unserem Boten entgegennehmen und ihm seine Entlohnung zahlen. Die Zeitungen müssen dann in die Einspannungen gefasst und dort vorne in den Ständer gehängt werden.« Er zeigte ins Foyer, wo ich einen hohen Ständer mit unzähligen Zeitungen sehen konnte. »Die veralteten Ausgaben werden von Ihnen ins Archiv gebracht. Sie werden die Entleihe und die Annahme von Büchern durchführen. Die zurückgegebenen Exemplare müssen vorsortiert werden. Beschädigte Bücher werden gesammelt und bei einer bestimmten Anzahl an den Buchmacher geschickt, damit er sie restaurieren kann.« Nun wurde Mr Reed immer schneller. Man merkte ihm an, dass er das in den letzten Monaten schon oft aufgezählt hatte und ich zog schnell meinen Papierblock aus der Tasche, um mir Notizen zu machen.
Wenn ich ihm wirklich beweisen wollte, dass er mich unterschätzte, dann musste ich jetzt besonders gut aufpassen.
»Sie nehmen die Neuerscheinungen in die Kartei auf, präparieren das Buch mit den Signaturen und überprüfen die Schlagwörter für die Suchmaschine.«
Ich notierte es zwar, aber die Bedeutung seiner Worte verstand ich nicht. Was war eine Suchmaschine?
»Erlauben Sie eine Frage«, unterbrach ich ihn und störte mich nicht daran, dass er sich irritiert zu mir umdrehte.
Sein Blick fiel auf den Block und den Stift in meinen Händen und ich fragte mich kurz, wie viel er ohne die Brille eigentlich sah. Brauchte er sie nur zum Lesen?
»Schreiben Sie etwa mit?«, brachte er schockiert hervor und ich nickte, wusste nicht, ob es eine Beleidigung oder ein Lob darstellen sollte.
»Die Frage«, erinnerte ich ihn, als er nicht aufhörte, auf meine Hände zu starren und zunehmend verwirrt blinzelte. »Diese Suchmaschine? Wie muss ich mir das vorstellen? Ist es eine richtige Maschine? Steht sie hier in der Bibliothek?«, war ich an der Reihe, ihn mit Worten zu überfallen, und es schien ihm tatsächlich für einen kurzen Moment die Sprache verschlagen zu haben.
»Es ist eine richtige Maschine, Miss Crumb. Und sie steht hier im Gebäude. Um genau zu sein, ist sie direkt neben dem Raum, in dem Sie Ihren Mantel gelassen haben. Es wundert mich, dass sie Ihnen nicht aufgefallen ist«, fand er seine Sprache wieder und räusperte sich dann verhalten. »Aber dieses Thema werden wir zu einem späteren Zeitpunkt angehen. Sie werden vorerst mehr als genug zu tun haben.« Seine Stimme hatte unerwartet wieder diesen schroffen Ton angenommen und der kurze Augenblick an Menschlichkeit, den wir geteilt hatten, war schneller vorbei, als ich ihn hätte genießen können.
Mr Boyle hatte recht gehabt. Dieser Mann war wirklich kompliziert.
Wir liefen die Treppen zum Rundgang hinauf, einmal im Kreis herum und wieder nach unten, während Mr Reed mir unablässig die groben Vorgänge dieser Bibliothek erklärte und dabei so vage blieb, dass ich mir die Hälfte selbst zusammenreimen musste. Meine Liste wurde immer länger und mir wurde langsam klar, warum all die jungen Männer so schnell die Waffen gestreckt hatten. Es war einfach nicht zu schaffen. Nicht so viel in so wenig Zeit, und ich würde mich wahnsinnig anstrengen müssen, wenn ich wirklich vorhatte, meinen Wert zu beweisen.
Nach einiger Zeit, die mir vorkam wie Stunden und doch höchstens eine halbe gewesen sein konnte, entließ mich der Bibliothekar mit den Worten, ich solle mich an ihn wenden, wenn ich noch Fragen hätte, und dem klaren Befehl in seinem Blick, es ja nicht zu wagen, dieses Angebot zu häufig in Anspruch zu nehmen.
Er rauschte schließlich ab, seine Post unter den Arm geklemmt, die er unten am Tresen abgeholt hatte. Noch etwas, das in Zukunft meine Aufgabe sein würde. Ich sah ihm nach, wie er ohne sich umzudrehen in seinem Büro verschwand und stand nun unschlüssig in der Halle.
Eine gigantische Anzahl an Dingen war zu tun und ich fühlte mich von der schieren Masse so überwältigt, dass ich wie gelähmt war. Auf was hatte ich mich da nur eingelassen? In was hatte mein Onkel mich nur hineinmanövriert?
Sicher bereute er selber bereits, dass er mich bei Mr Reed abgeliefert hatte. Sein Blick und das falsche Lächeln hatten ihn verraten. Was er zunächst für einen kleinen Spaß gehalten hatte, erwies sich durch Mr Reeds augenscheinliche Abneigung als höchst kompliziert und nun muss Onkel Alfred aufgegangen sein, was er seiner geliebten Nichte da eigentlich antat.
Doch es gab jetzt kein Zurück mehr. Zumindest nicht, wenn ich meine Ehre behalten wollte. Wenn ich so schnell aufgab, würde Mr Reed nur schnauben, »Ich hab es ja gewusst« murmeln und weiterhin auf Frauen herabsehen, als wäre sein Beamtenarsch etwas Besseres.
Außerdem war dies hier ein Traumland voller Bücher und ich musste zumindest die Gelegenheit finden, in ein paar hineinzuschmökern.
Unruhig durch die neue Verantwortung zog ich die Unterlippe zwischen die Zähne, was ich mir in der Öffentlichkeit oft verkniff, und drückte meinen Notizblock fester an meine Brust.
Ich würde es einfach angehen, meinen Ehrgeiz und meine Intelligenz nutzen, um mich ordentlich zu strukturieren, und dann wäre es sicher ein Klacks. Hoffte ich zumindest.
Eilig setzte ich mich an einen der Tische und besah mir all die Aufgaben, die zusammengekommen waren. Sie zu sortieren, fiel mir nicht schwer. Es gab die täglichen und diejenigen, die nur sporadisch vorkamen, und ich erstellte mir dann einen Tagesplan, um dem Ganzen eine Reihenfolge zu geben. Wichtige vor unwichtigeren, große wurden unterteilt in viele kleine.
Als ich fertig war, fühlte ich mich gleich viel besser, hatte einen ersten Überblick über meine Tätigkeiten und war bereit, es anzugehen. Ich verstaute den Notizblock in meiner Rocktasche und machte mich auf zu den zwei jungen Männern, die Mr Reed mir vorgestellt hatte und die am Tresen arbeiteten.