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Sie hießen Cody und Oscar und musterten mich skeptisch, als ich auf sie zugelaufen kam.
»Guten Tag, die Herren«, grüßte ich freundlich und schaffte es in meinem Überschwang sogar zu lächeln. »Da Mr Reed ein schwer beschäftigter Mann zu sein scheint und ich noch so viel zu lernen habe, würde ich gerne Ihrer Arbeit ein wenig zusehen. Wäre das wohl möglich?«, formulierte ich höflich und sah in zwei verdatterte Gesichter. Für einen Moment hatte ich das Gefühl, als hätten die beiden mich nicht verstanden.
»Äm, klar, Miss. Wenn Sie das gern wollen«, antwortete Oscar flapsig und zuckte unbeholfen mit den Schultern, während er immer wieder zu Cody sah, als wollte er sich vergewissern, dass es in Ordnung war, was er sagte.
Obwohl die beiden ordentlich angezogen waren, ließ mich das Gefühl nicht mehr los, dass sie wohl nicht aus reichen Elternhäusern stammten und daher sicher auch keine sehr umfassende schulische und charakterliche Bildung genossen hatten. Vielleicht lag es an der Art, wie Oscar gesprochen hatte, vielleicht aber auch an Codys zurückgezogener Haltung, die ihn wie einen geprügelten Hund aussehen ließ.
Ich wusste nicht recht, wie ich damit umgehen sollte, zwang mein Lächeln zu bleiben, wo es war und trat hinter den Tresen, um mir das Ganze genauer anzusehen.
Der gesamte untere Bereich des Tresens war voller Schubladen, die nach dem Alphabet beschriftet waren.
Ein junger Mann mit hellblauer, teuer bestickter Weste kam mit drei Büchern unter dem Arm auf uns zu und legte sie vor Cody auf den Tresen.
»Mr Lassiter«, sprach Oscar ihn an, während Cody nur verschüchtert nach unten sah und die Schublade L öffnete. Es dauerte nur einen Moment, bis er eine längliche Karte aus schwerem Papier herauszog und sich von Oscar die Titel der Bücher diktieren ließ, die Mr Lassiter gewillt war zu entleihen.
Oscar öffnete jedes der Bücher am hinteren Deckel, nahm die dort befindlichen Zettel heraus und drückte mit einem Stempel das Rückgabedatum darauf.
Dieser Vorgang war mir bekannt und es tat gut, dass diese Bibliothek der meinen zu Hause doch nicht so unähnlich war.
Dann fiel Mr Lassiters Blick auf mich und das leicht ungeduldige Desinteresse, das er den beiden jungen Männern entgegengebracht hatte, verwandelte sich in Überraschung.
»Wer ist denn die Lady?«, fragte er und sprach damit keine bestimmte Person an, so als würde er die Frage an sich selbst richten. Seine Stimme war angenehm klar und doch so glatt, dass ich kein Interesse daran hatte, diesem Mann vorgestellt zu werden, da sie von Arroganz und einer unguten Verschlagenheit zeugte.
Er musterte mich so unverhohlen, dass ich mich für sein Betragen schämte und nicht anders konnte, als trotzig den Kopf zu heben und seinem unerhörten Blick standzuhalten.
»Sie wird die neue Bibliothekarsassistentin«, erklärte Oscar, der offensichtlich der Gesprächigere von den beiden Jungen war, und warf mir einen vielsagenden Blick zu, der von Unsicherheit bis Ungläubigkeit alles enthielt und mir sagte, dass er nicht daran glaubte, dass ich lange bleiben würde.
»Was? Wirklich?«, platzte es belustigt aus Mr Lassiter heraus, als hätte Oscar einen Witz gemacht, und er musste sich bemühen, seine Stimme gesenkt zu halten.
Mir wurde es langsam zu bunt. Ich war ja wohl kein Tier im Käfig. Sollte dieser eingebildete Kerl doch glauben, was er wollte. Innerlich schnaubend wandte ich mich mit einer schwungvollen Bewegung ab und trat aus dem U des Tresens hervor. Ohne den Mann anzusehen, ging ich an ihm vorbei, als er sich mir geschmeidig in den Weg schob.
»Sollte eine schöne Frau sich nicht lieber einen Ehemann suchen, als sich von einem Tyrannen wie Mr Reed herumscheuchen zu lassen?«, wollte er amüsiert von mir wissen und das Glitzern in seinen Augen verriet mir, dass er sich über mich lustig machte.
Mein erster Gedanke war, dass es für mich keinen Unterschied machte, ob der Tyrann mein Vorgesetzter oder mein Angetrauter war, doch ich sprach ihn nicht aus. »Das ist aber traurig«, sagte ich stattdessen und machte ein mitleidiges Gesicht. »Sie klingen so rückständig wie meine Mutter.« Und damit ließ ich ihn einfach stehen.
Ich fand in einem der Seitenflügel einen Raum, der wohl für viele meiner Arbeiten gedacht war, und ärgerte mich, dass Mr Reed nicht die Güte besessen hatte, mich darauf hinzuweisen, dass diese Kammer existierte. Sie war groß wie ein kleiner Salon, mit hohen Fenstern, die in den Park hinausgingen. Helle Regale und Aktenschränke standen an den Wänden, gefüllt mit Bücherkarteien, Aufzeichnungen über Buchbestellungen und Lieferungen und sämtlichen Verleihkarten ehemaliger Studenten, die jemals ein Buch aus diesen Hallen ausgeliehen hatten. Auf einem massiven Holztisch standen mehrere eigentümliche Maschinen, die ich aber schnell identifizieren konnte. Die eine war für die Prägung der Metallplättchen, die an die Buchrücken gehörten, und ich probierte mich an ihr, was leichter war als vermutet. Die zweite nietete die Plättchen an die Buchrücken und ich brauchte einen so immensen Kraftaufwand für den Hebel, dass ich mein ganzes Körpergewicht einsetzen musste, um ihn herunterzudrücken.
Im gleichen Zimmer fand ich auch eine ganze Reihe an hölzernen Platten, jeweils eine Handspanne hoch und breit, dünn wie eine Scheibe Wurst und mit zwei Löchern im oberen Bereich. Auch sie wurden geprägt mit Buchtitel, Autor, Standort des Buches und Schlagwörtern zum Inhalt. Doch leider war es für mich nicht ausreichend ersichtlich, wofür sie gedacht waren. Hatten sie vielleicht etwas mit der besagten Suchmaschine zu tun?
Auch die beschädigten Werke lagerten hier kreuz und quer und ohne jegliche Ordnung, sodass es mir beinahe schon leidtat um die armen Bücher.
Ich ging langsam alle Punkte meiner Liste durch, suchte nach den dazugehörigen Arbeitsbereichen innerhalb der Bibliothek und brachte Stunden damit zu, mich zurechtzufinden.
Die Zeit schritt voran und ich konnte auf der Standuhr, die im rechten Flügel zwischen Theologie und Philosophie an der Wand stand, ablesen, wie schnell.
Ich fühlte mich, als ob ich kaum vorankäme. Die zurückgegebenen Bücher stapelten sich wirr in mehreren Ständern neben dem Tresen im Foyer und obwohl es mir hätte leichtfallen sollen, sie zu sortieren, damit Cody oder auch Oscar sie gesammelt zurück in ihre Abteilungen bringen konnten, brauchte ich doch eine gefühlte Ewigkeit, weil meine Handgriffe so ungelenk waren.
Es entsprach nicht meiner Gewohnheit, so lang auf den Beinen zu sein, da ich mein bisheriges Leben damit verbracht hatte, auf bequemen Möbelstücken zu sitzen und zu lesen. Meine Waden schmerzten gegen Mittag so sehr, dass ich mich für einen Moment auf einen Stuhl im Lesesaal setzen musste. Meine Fußsohlen brannten, meine Knöchel waren sicher geschwollen, meine Arme taten weh und mein Kopf verlangte nach einer Pause.
Die Bibliothek begann sich zur Mittagspause langsam zu leeren und die Studenten stellten die Bücher, die sie nicht mehr benötigten, auf einen Wagen oder liehen sie aus.
Stöhnend erhob ich mich wieder auf meine wunden Füße und ging mit zügigen Schritten auf den Tresen im Foyer zu, an dem bereits reger Andrang herrschte. Cody und Oscar hatten alle Hände voll zu tun und viele genervte und müde Studenten warteten darauf, an die Reihe zu kommen.
Ein Stück entfernt stellte ich mich an den hohen Tresen und nahm ganz dreist einem jungen Mann mit weißblondem Haar das Buch aus der Hand.
»Guten Tag. Ihr Name?«, sprach ich ihn ruhig an und er blinzelte mich überrascht an.
»Higgins«, gab er zurück und ich öffnete die Schublade H, als ob ich den ganzen Tag nichts anderes getan hätte. Wenigstens etwas, was mir leichtfiel.
»Charles oder James?«, fragte ich, als ich zwei Karten mit dem gleichen Nachnamen fand, und der junge Mann lachte, was seine auffällig grünen Augen zum Strahlen brachte. »Charles. James ist mein Cousin«, erklärte er und ich zog die entsprechende Karte heraus. Ich nahm mir einen Füllfederhalter aus einem Keramikbecher und schrieb eilig den Titel und den Autor des Buches in die nächste freie Zeile.
Kurz besah ich mir die verschiedenen Handschriften auf dem Zettel, die zum größten Teil krakelig waren. Nur die letzten zwei Einträge waren wirklich gut lesbar und ich fragte mich, ob es Cody war, der so schön schreiben konnte.
»Sie sind neu«, merkte Mr Higgins freundlich an und ich nickte.
»Brandneu, heute Morgen geliefert«, erwiderte ich spaßhaft und er lachte verhalten.
Ich gab es zwar nicht gerne zu, aber ich musste doch sagen, dass einige Männer in London anscheinend weniger stumpfsinnig waren als die bei uns auf dem Land.
Ich drückte den Stempel hinten ins Buch und reichte es ihm.
»Auf Wiedersehen«, verabschiedete er sich höflich, deutete eine Verbeugung an und verschwand mit einem Lächeln auf den Lippen.
Der Nächste wartete schon und ich sah die Schlange, die sich bereits gebildet hatte.
»Zachary Bostick«, verriet er mir seinen Namen mit Ungeduld in der Stimme, noch bevor ich fragen konnte, und ich wusste, dass ich noch schneller werden musste.
Nachdem die Bibliothek endlich wie leer gefegt war, begann ich hinter den Studenten aufzuräumen. Ich legte Bücher weg, sortierte sie auf die Wagen, nahm eins mit in die Kammer, weil bereits mehrere Seiten ausgerissen waren, und notierte den Mangel auf einem kleinen Zettel, den ich in den Buchdeckel klemmte.
Stöhnend zog ich mir eine Holzkiste heran, in die noch mehr beschädigte Bücher achtlos hineingeworfen worden waren, und besah mir eins nach dem anderen. Zu jedem schrieb ich eine kurze Notiz und etwa fünfzig Bücher später verfluchte ich mein Leben, das einen so unglücklichen Lauf genommen hatte. Mein Rücken schmerzte, meine Arme noch mehr, und meine Füße pochten, auch wenn ich sie bereits hochgelegt hatte.
Gebrochener Buchrücken, lose Seiten im hinteren Teil, schrieb ich gerade und wünschte mich zurück nach Hause auf meinen Dachboden. Dort würde mir der Rücken nicht wehtun.
Ich legte das Buch ordentlich in die Kiste zurück und rieb mir dann die Augen.
Wenn ich jetzt zu Hause wäre, würde meine Mutter mir auf die Nerven gehen, wir würden Tee trinken und sie hätte mir schon von drei jungen Männern erzählt, die infrage kommen würden und die sie bisher nicht im Blick gehabt hatte.
Ich würde mit den Augen rollen, aber meinen Füßen würde es wunderbar gehen.
Ich blinzelte, versuchte, nicht mehr an zu Hause zu denken und ließ den Blick durch die Kammer schweifen. Zu meinem Erschrecken entdeckte ich weitere Holzkisten.
Ich hörte die unverwechselbare Melodie von Big Ben und zählte eine Stunde zu meinem Tag dazu. Es war sechs Uhr am Abend und ich mit meinen Nerven am Ende.
Mein Magen war ein tiefes Loch, da ich heute eigentlich noch nichts gegessen hatte. Meine Arme waren schwer wie Blei und meinen Kopf hielt ich nur noch durch reine Willenskraft aufrecht.
Ich war am Boden. Und bereits sogar so tief gesunken, dass ich mir in den letzten Stunden gewünscht hatte, meine Mutter würde mich einfach an irgendwen verschachern, nur damit ich nicht mehr hier stehen und Ordnung schaffen musste.
Ich wusste nicht, wie lange all die Arbeit schon liegen geblieben war, aber es musste schon eine beträchtliche Zeit sein, wenn sich so viel angesammelt hatte.
Die meisten beschädigten Bücher waren nun durchgesehen, in Kisten verpackt und verschnürt. Doch es waren bisher nur die beschädigten gewesen. Es standen mindestens noch zwei Kisten Neuware herum, von denen sich bisher keiner die Mühe gemacht hatte, sie in die Kartei aufzunehmen und zu etikettieren.
Von den Schlagwörtern mal ganz abgesehen.
Ich hatte die Rückgaben im Foyer sortiert, war durch die Regale gegangen, um verirrte Bücher ausfindig zu machen, hatte sicher dreißig Studenten bei der Suche nach bestimmten Werken geholfen und meine Finger waren voller Tintenflecken.
Seufzend rieb ich mir den Rücken, zog die Tür zur Kammer hinter mir zu und schlich über den langen Gang zwischen den Regalen bis in den Lesesaal.
Hier saßen noch etliche Studenten und wälzten ihre Bücher. Ich hatte heute so viel Papier zwischen den Fingern gehabt, dass meine Hände ganz trocken waren, und trotzdem sehnte ich mich nach meinem Sessel und einfach ein paar Zeilen, die nur mir gehören würden.
Heute Vormittag hatte ich diesen Ort noch in den Himmel gelobt, war erfüllt gewesen von der Atmosphäre, die hier herrschte. Doch jetzt, nach einem ganzen Tag Arbeit, war ich nicht mehr empfänglich für derlei Magisches und fühlte mich müde und stumpf.
»Sie sind noch hier?«, sprach mich jemand erstaunt an und ich war sogar zu erschöpft, um mich zu erschrecken.
Mr Reed stand vor mir, die Augenbrauen überrascht gehoben, ein geöffnetes Buch in den Händen.
Er hatte nicht viel gesagt und doch fühlte ich mich sofort angegriffen. Es war die Art, wie er die Worte hervorbrachte, so als erwartete er, dass ich mich schon längst davongestohlen hätte.
»Natürlich. Ich war den ganzen Tag hier und habe gearbeitet«, empörte ich mich schnippisch und pfiff auf einen höflichen Ton. Dieser Mann war schließlich auch nicht höflich, warum sollte ich es dann sein?
»Sie haben eine Mittagspause von halb zwölf bis ein Uhr und können um fünf nach Hause gehen«, erläuterte er mir und ich wäre ihm in diesem Moment gern ins Gesicht gesprungen.
»Und das teilen Sie mir erst jetzt mit?!«, gab ich fassungslos von mir, als mein Ärger ein Maß erreichte, in dem ich keinen Ausdruck mehr dafür fand.
»Ich habe Sie den halben Tag nicht gesehen. Ich dachte, Sie hätten schon aufgegeben«, behauptete Mr Reed ruhig und als würde er gar nicht bemerken, wie aufgelöst ich war.
»Ich war in der Kammer und habe beschädigte Bücher sortiert. Die sich übrigens ganz schön angesammelt haben und die Sie gerne an den Buchmacher schicken dürfen«, zischte ich und wusste, dass mein Gesicht bereits dunkelrot und heiß sein musste von der Wut, die ich auf diesen Mann hatte.
Zum Glück war mein Korsett nicht besonders eng geschnürt, sonst hätte ich jetzt sicher angefangen, nach Atem zu ringen.
»Was?«, gab Mr Reed leicht lachend von sich. »Und mehr haben Sie in all der Zeit nicht geschafft?«
Er machte sich über mich lustig, ich konnte es sehen, fühlen, wahrscheinlich sogar riechen und war den Tränen nahe, die ich nur durch äußerste Bemühung zurückhielt.
Und eins wurde mir in diesem Moment überdeutlich. Ich hasste diesen Mann aus vollem Herzen.
Das Fünfte oder das, in dem ich blieb.

Es war genau sieben Uhr neunundzwanzig und ich stand vor der geschlossenen Tür der Royal University Library. Der Morgen war kalt, noch kälter als gestern, und ich hatte mir einen wärmeren Mantel angezogen. Meine Finger waren eisig, obwohl ich Handschuhe trug, und ich holte zittrig Luft.
Wenn man mich gefragt hätte, was mich dazu bewogen hatte, heute Morgen wieder hierherzukommen, ich hätte keine Antwort gehabt.
Mein Onkel war nicht zu Hause gewesen, als mir Mr Dolls, der Butler, die Tür geöffnet hatte. Tante Lillian sagte mir, dass er wohl erst morgen Abend wieder da sein würde und ich schimpfte ihn innerlich einen Feigling, weil er sich so der Auseinandersetzung mit meinem noch frisch entfachten Zorn entzog.
Meine Beine zitterten, als mich meine Tante zum Abendessen nötigte und ich verschlang ganz undamenhaft eine ganze Lammkeule, fünf große Kartoffeln und zwei Schokoladenpudding mit Schlagsahne.
Sie fragte mich, wie es mir in der Bibliothek ergangen war, und ich hatte nichts darauf erwidert.
Unruhig hatte ich mich die halbe Nacht herumgewälzt und die andere Hälfte schlecht geträumt, nur um schließlich um sechs in der Früh hellwach im Bett zu sitzen und mich zu fragen, was ich nun tun sollte.
Wollte ich mir das heute wirklich noch einmal antun?
Ich konnte einfach im Bett bleiben, sagen, dass das alles nichts für mich war und wieder in mein Provinznest zurückkehren. Ich würde einfach alles hinschmeißen und Mr Reed würde weiterhin schlecht von mir denken. Doch was gab ich schon auf die Meinung eines unhöflichen Mannes, der Spaß daran hatte, andere Menschen mit Arbeit zu überfordern, um dabei zuzusehen, wie sie unter der Last zusammenbrachen.
Außerdem würde es zu Hause niemand wissen. Meine Eltern hatten Stillschweigen darüber bewahrt, dass ich vorhatte zu arbeiten, und niemand würde mich je wieder darauf ansprechen.
Außer meiner Mutter vielleicht.
Das klang in meinem Kopf alles fantastisch und doch hatten sich meine Beine aus dem Bett bewegt. Ich hatte mich gewaschen und angezogen und war noch vor Tante Lillian im Esszimmer eingetroffen, um ein schnelles Frühstück zu mir zu nehmen.
Meine Tante hatte mich gefragt, ob ich mir sicher wäre; ich hatte nur schmal gelächelt und nach meinem dickeren Mantel verlangt.
Und jetzt stand ich hier, frierend, unentschlossen und wartete darauf, dass die Türen sich öffneten.
Ich war nur wenigen Menschen begegnet und fühlte mich in dem Vorurteil bestätigt, dass das Studentenleben immer erst nach neun Uhr am Morgen begann.
Eine graue Gestalt kam durch den dünnen Nebel. Mit großen Schritten, den Kragen hochgeschlagen und einen dicken Schal um den Hals, kam Mr Reed durch den morgendlichen Dunst auf mich zu, die Augen auf den Boden gerichtet, die Gedanken ganz weit weg.
Er bog auf den Weg zur Bibliothek ein und kramte in seiner Manteltasche nach einem Schlüsselbund, bevor er den Blick hob und wie angewurzelt stehen blieb.
»Guten Morgen, Mr Reed«, sagte ich aus dem Zwang heraus, höflich zu sein, und verkniff mir, von einem Bein auf das andere zu treten, um mich warm zu halten. Ich wollte schließlich nicht wie ein zappeliges Kind aussehen.
Meine Wut gegenüber diesem Mann war inzwischen verraucht und obwohl ich ihn immer noch nicht besser leiden konnte, fiel es mir schwer, ihn so inbrünstig zu hassen wie noch einen Tag zuvor.
»Miss Crumb«, kam es überrascht aus seinem Mund, als wäre ich heute Nacht von fliegenden Piraten verschleppt worden und durch ein Wunder wieder hier vor die Tür der Bibliothek geraten. »Sie sind hier«, fügte er hinzu und ich entschied, es zu handhaben wie bei meiner Mutter und mich absichtlich unwissend zu stellen.
»Es ist sieben Uhr dreißig. Wo sollte ich sonst sein?«, gab ich also zurück und behielt meinen neutralen Gesichtsausdruck bei.
Mr Reed nickte und setzte sich wieder in Bewegung. Während die Schlüssel beim Aufschließen gegeneinanderklirrten, lag sein Blick prüfend auf mir und ich bemühte mich, ihn nicht anzusehen und richtete meinen Blick stattdessen möglichst gelangweilt auf die Tür.
»Sie sind einer von sechs, die am nächsten Tag wiedergekommen sind«, meinte er plötzlich und ich wandte ihm meinen Blick zu.
Ich hob nur unbeeindruckt die Augenbrauen, auch wenn ich gern laut geschnaubt hätte. Es wunderte mich gar nicht, dass sie nicht wiederkamen, wenn sie von ihm so behandelt wurden wie ich. »Von wie vielen insgesamt?«, fragte ich und die Tür schwang auf.
»Fünfundzwanzig«, antwortete Mr Reed mir und machte eine Geste mit der Hand, die mir bedeutete, als Erste ins warme Innere des Gebäudes zu treten.
Ich raffte meine Röcke und stieg die kleine Stufe hinauf ins Foyer. Das war die erste höfliche Geste gewesen, die Mr Reed mir gegenüber gezeigt hatte, und es überraschte mich, da ich ihm allgemeine Höflichkeit bereits abgesprochen hatte.
Gerne hätte ich zu ihm gesagt, dass es mich nicht wunderte, dass die neunzehn anderen nicht wiedergekommen waren, doch da war Mr Reed auch schon an mir vorbei und lief mit großen Schritten auf die Treppe zu, die seinem Büro am nächsten war.
»Kommen Sie, Miss Crumb. Keine Müdigkeit vortäuschen!«, rief er mir zu und es hörte sich seltsam an, wie der Klang seiner Stimme durch den runden Lesesaal hallte. Es kam dem Entweihen einer Kirche gleich, in einer Bibliothek die Stimme zu heben, ungeachtet dessen, dass außer uns niemand hier war.
Ich blinzelte, nahm mir vor, in Zukunft schneller mit meinen Antworten zu sein und ging trotz Aufforderung nur so zügig, wie es sich für eine Dame gehörte.
Ich stieg die Treppen hinauf, kam an Mr Reeds Bürotür vorbei, hinter der ein Geräusch ertönte, als wäre etwas Schweres zu Boden gefallen. Ein lautes Fluchen folgte und ich machte mich eilig daran, meinen Mantel im Nebenraum abzulegen.
Gerade kam ich wieder heraus, da stand Mr Reed auch schon vor mir. Er trug einen dunkelbraunen Anzug und eine hellere Weste zu einem beigefarbenen Hemd. Es stand ihm gut und betonte die dunkle Farbe seiner Augen.
»Hier«, sagte er und hielt mir einen kleinen Seidenbeutel hin. »Zwei Schilling bekommt der Zeitungsjunge und keinen Penny mehr. Lassen Sie sich nicht von ihm abziehen«, wies er mich an und ich nahm den Beutel entgegen. Er war schwer und ich schob ihn mir in die Rocktasche, aus der ich im gleichen Zug Notizblock und Bleistift herauszog.
2 Schilling, schrieb ich hinter den Punkt mit den Zeitungen auf meiner Liste und lief dabei Mr Reed hinterher, der zurück zur Treppe ging.
»Mr Reed, eine Frage«, sprach ich ihn an, gerade als er die ersten paar Stufen genommen hatte. Er machte auf dem Absatz kehrt und sah mich durchdringend an.
Es war ein komisches Gefühl, auf ihn herabzusehen, obwohl er es scheinbar gar nicht bemerkte.
Ein ungeduldiges Zucken seiner Augenbrauen war die einzige Aufforderung, die ich bekam.
»Wo befindet sich das Archiv und wie finde ich dort den Platz, an den die alten Zeitungen gehören?«, wollte ich wissen und Mr Reeds Gesicht bewegte sich kaum.
»Das waren aber zwei Fragen«, gab er altklug von sich und ich kniff die Lippen zusammen. Meine Laune, die ich bisher recht neutral gehalten hatte, begann sich zu verschlechtern.
»Mein Fehler«, gab ich also zu und zwang mich, die Mundwinkel zu heben, um meine Gefühle zu verbergen.
Mr Reed nickte nur, wandte sich wieder von mir ab und nahm die restlichen Stufen. »Im Westflügel gibt es weiter hinten einen Durchgang, der zu einer Treppe führt«, erklärte er und wies nachlässig nach rechts durch die hohen Türen. »Nehmen Sie sich einfach ein bisschen Zeit und sehen sich dort unten um. Sie scheinen ja sowieso für alles ein bisschen länger zu brauchen«, spottete er über mich, ohne sich noch mal zu mir umzudrehen, verschwand unter dem Rundgang und so auch aus meinem Blickfeld. Ich stand immer noch am oberen Ende der Treppe und ballte meine Fäuste so fest, dass ich in einer Hand den Notizblock zerquetschte.
Das war jetzt mehr als nur bloße Unhöflichkeit. Das war eine Beleidigung gewesen und ich wäre diesem Mann nur zu gern hinterhergerannt und hätte ihm irgendwas an den Kopf geworfen. Worte möglicherweise. Aber am liebsten ein Buch oder einen großen Stein.
Doch ich zwang mich stattdessen tief durchzuatmen, strich die Seiten meines Blocks wieder glatt und stieg, den Kopf würdevoll nach oben gereckt, die Stufen nach unten.
Mr Reed stand nahe der Treppe an einem Regal, fuhr mit dem Zeigefinger über die Buchrücken und zog dann eins heraus. Er klemmte es sich unter den Arm und suchte ein weiteres.
Ich blieb nicht stehen, um ihn zu beobachten, ich hatte meine Arbeit zu erledigen. Und nur, weil ich noch nicht so routiniert war und einen Hang zur Gründlichkeit hatte, brauchte dieser hochnäsige Mensch sich gar nicht anmaßen, sich über mich lustig zu machen.
Ich lief zu dem Ständer mit den Zeitungen, nahm alle heraus, die täglich erschienen, und stemmte mich gegen den Schraubverschluss der hölzernen Einspannungen. Sie waren so fest zugedreht, dass mir schon nach dem dritten die Finger schmerzten, doch ich blieb dran, versuchte es mir nicht anmerken zu lassen und stapelte die Zeitungen neben mir auf einem Hocker, der an der Wand gestanden hatte.
Nachdem ich fast fertig war, kam ein Junge in die Bibliothek geschlurft. Er war vielleicht gerade mal zehn, hatte eine viel zu große Jacke an und die Mütze auf seinem Kopf rutschte ihm ständig in die Augen. Unter dem Arm trug er einen Stapel Zeitungen und lief damit schnurstracks auf den Tresen zu. Mit einem dumpfen Geräusch landete das bedruckte Papier auf der Tischplatte. Ich ging ihm entgegen und als er sich die Mütze vom Kopf gezogen hatte, blickten seine Augen in meine Richtung. Rote Haare standen unordentlich von seinem Kopf ab, seine Wangen waren von der Kälte gerötet und Millionen kleiner Sommersprossen zierten sein Gesicht.