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»Guten Morgen«, grüßte ich leise und zog den seidenen Beutel aus meiner Rocktasche.
»Morgen«, nuschelte der Junge und musterte mich unverhohlen von oben bis unten. »Sie sind aber ’ne schicke Maus«, sagte er mit dem Ton eines Seemanns in der Stimme und zwinkerte mir selbstgefällig mit einem Auge zu.
Ich hielt die Luft an.
Gut, dass meine Wut auf Mr Reed noch ganz frisch war und ich gegenüber einem ungewaschenen, übermütigen Straßenburschen keinerlei Scheu hatte, diese Wut auch zu zeigen.
»Erstens ist mein Name Miss Crumb!«, kam es so scharf aus meinem Mund geschossen, dass dem Jungen dabei das Grinsen auf der Stelle verging. »Zweitens wirst du in Zukunft weder unhöflich noch unverschämt sein. Solltest du also jemals wieder auf die dumme Idee kommen, mich nach einem Nagetier zu benennen, werde ich dich an einem Ohr hier rauszerren und dafür Sorge tragen, dass sich ein anderer Junge mit besseren Umgangsformen für deine Arbeit findet.«
Sein Gesicht hatte jegliche Farbe verloren und seine Augen, die mir gerade noch so unverblümt entgegengestarrt hatten, senkten sich auf seine schäbigen Schuhspitzen.
»Hast du mich verstanden?«, forderte ich ihn auf, mich zu bestätigen, und stellte mit Befriedigung fest, wie er nervös seine Mütze zwischen den Fingern knetete.
»Ja, Ma’am«, kam es kleinlaut aus seinem Mund und ich atmete einmal tief durch, ehe ich den Seidenbeutel öffnete und zwei Schilling herausnahm.
»Mr Reed sagte, du bekommst zwei Schilling«, eröffnete ich ihm und er nickte zaghaft. Ich hielt ihm die Münzen hin, er nahm sie zögerlich entgegen und versenkte sie in seiner Jackentasche.
»Danke, Ma’am«, nuschelte er und räusperte sich dann. Sein Blick huschte umher, weil er nicht wusste, wohin er schauen sollte, und dann holte er tief Luft. »Darf ich jetzt gehen?«, wollte er wissen und ich war von mir selbst beeindruckt.
Ich hatte nie viel mit Kindern zu tun gehabt. Seit ich selbst keins mehr war, waren sie mir uninteressant und strapazierten lediglich meine Nerven.
Daher hätte ich auch nie von mir gedacht, dass ich dazu fähig war, einem von ihnen Respekt einzuflößen.
Meine Mutter hatte meine dunklen Röcke oft als Kluft einer Gouvernante geschimpft. Vielleicht hatte sie damit gar nicht so unrecht.
»Ja, nachdem du dich verbeugt und mir einen Guten Tag gewünscht hast, wie es sich in Gegenwart einer Dame gehört«, forderte ich und fragte mich, ob es nicht langsam zu viel des Guten war. Doch wahrscheinlich würde er es sonst nirgendwo anders zu hören bekommen und ein paar gute Umgangsformen zu besitzen, hatte noch niemandem geschadet.
Der Junge folgte meinen Anweisungen, verbeugte sich so ungelenk, als würde er es das erste Mal tun, wünschte leise einen Guten Tag und rannte dann so schnell davon, dass seine Schritte unangenehm laut durch das ganze Foyer hallten.
Jetzt ging es mir besser. Ich hatte meinem Ärger Luft gemacht, fühlte mich befreit und hatte auch meine Schlagfertigkeit wiedergefunden. Nun musste ich diesen Zustand nur beibehalten.
Beschwingt nahm ich die Zeitungen vom Tresen und versuchte darauf zu achten, die Manschetten meiner cremefarbenen Bluse nicht mit Druckerschwärze zu versauen.
»Tja«, machte eine tiefe Stimme hinter mir und ich schaffte es, nicht zusammenzuzucken, obwohl mein Herz einen gewaltigen Satz machte. »Bei Ihnen möchte ich kein Schüler sein, Miss Crumb«, meinte Mr Reed fast tadelnd und ich drehte mich mit einem Mal zu ihm um.
Ich sah nicht sonderlich elegant aus mit dem Stapel Papier auf dem Arm, aber wenigstens fiel mir sofort etwas ein, was ich ihm antworten konnte.
»Vielleicht hätten Ihre Manieren das aber nötig«, gab ich schroff zurück, strafte ihn mit einem kurzen, strengen Blick, machte einen höflichen Knicks und ließ ihn dann mit den Büchern zurück, die er auf dem Tresen abgelegt hatte.
Ihm schien so schnell wohl nichts Passendes eingefallen zu sein, denn er sah mir nur überrascht hinterher und ich machte mich nun gut gelaunt daran, die neuen Zeitungen in die Holzverspannungen einzufädeln.
Jetzt fühlte ich mich voller Tatendrang, stellte die Zeitungen in den Ständer zurück und schnappte mir die alten, um einen Blick ins Archiv zu werfen.
Es tat gut, Kontra zu geben, den Ärger nicht immer runterzuschlucken und ich fühlte mich beinahe euphorisch.
Jedoch schwand meine Hochstimmung sehr schnell wieder, als ich die steinernen Treppenstufen nach unten ins Archiv stieg. Ich trug eine Laterne bei mir, die ich oben an einem Haken gefunden hatte, und trotzdem wurde das Licht scheinbar von den Wänden verschluckt und verwandelte alles in düstere, tanzende Schatten.
Die Treppe endete so abrupt, dass ich in Erwartung weiterer Stufen beinahe hingefallen wäre. Es war ein ekliges Gefühl, mit vor Schreck rasendem Herzen im Halbdunkel zu stehen und kein anderes Geräusch zu hören als den eigenen Atem.
Ich räusperte mich, richtete mich auf und hielt die Laterne in die Luft. Vor mir führte ein Türbogen in ein weites Gewölbe und ich schlich vorwärts, die alten Zeitungen an meine Brust gepresst, in der beständigen Hoffnung, hier unten niemandem zu begegnen. Denn eine Person, die aus den Schatten auftauchte, würde mein Herz nicht verkraften.
Ein gespenstischer Luftzug bewegte meinen Rock, streichelte meine Wange und ich quietschte erschrocken auf, obwohl gar nichts geschehen war. Ich verspürte den Drang, mich zu bekreuzigen, um das Böse abzuwehren, obgleich ich eine Frau der Wissenschaft war und an böse Geister überhaupt nicht glaubte. Leider hatte ich die Hände voll und zwang mich selbst, weiter in den stockfinsteren Raum zu treten.
Sei nicht so ein Angsthase, ermahnte ich mich und traute mich doch nicht, einen Mucks zu machen.
Ich versuchte die Laterne weiter vor mich zu halten, um besser sehen zu können, als das Licht sich plötzlich in einem glatten Gegenstand brach und für einen winzigen Moment ein riesiger Raum voller Schränke erschien, der gleich wieder im Nichts versank, als ich mit der Hand zurückzuckte.
Was war denn das gewesen?
Langsam streckte ich die Laterne wieder nach vorne. Neben mir an der Wand stand ein Tischchen mit einem Spiegel, ähnlich einer Frisierkommode, in dessen Mitte eine Laterne stand. Ich nahm sie herunter und stellte stattdessen meine eigene dorthin. Sofort erhellte sich das gesamte Gewölbe in schummrigem Licht.
Gegenüber meiner Laterne war ein zweiter Spiegel an der Wand, der das Licht wiedergab, und diesem gegenüber wieder einer mit demselben Effekt. Es führte sich fort bis in den hintersten Winkel des Archivs. Von Spiegel zu Spiegel, erleuchtet von nur einer einzigen Laterne.
Ich war fasziniert und schockiert gleichermaßen, und leider tröstete mich diese außergewöhnliche Entdeckung nicht über das Unwohlsein hinweg, das ich in diesen Gemäuern verspürte.
Ein leichter Zug lag in der Luft, die so trocken war, dass mir das Schlucken nach wenigen Augenblicken schon schwerfiel.
Ich ließ die Laterne auf dem Tischchen und wagte mich langsam weiter in den Raum. Die Schränke standen in langen Gängen, Rücken an Rücken und sie alle waren mit metallenen Schildern beschriftet.
Der Schrank für die Zeitungen war weit vorne. Als ich diesen öffnete, fand ich mehrere Kisten, für jedes Zeitungshaus eine. Ich beeilte mich, die richtigen Kisten für meine im Stapel befindlichen Papiere zu finden und schloss den Schrank wieder.
Furchtsam schreckte ich zusammen, als ich im Augenwinkel eine Bewegung wahrnahm, wich zurück und stieß mit dem Rücken gegen einen der Schränke, in dem es laut schepperte. Mein Herz schlug so heftig gegen meine Rippen, dass es wehtat. Es dauerte aber nur einen Moment, bis ich erkannte, dass ich mich vor meinem eigenen Spiegelbild erschreckt hatte, das geisterhaft in einer Vitrine schimmerte.
Ich musste hier raus. Und zwar schnell. Mit eiligen Schritten lief ich in den Gang zurück und zu meiner Laterne, die mir den Weg zur Treppe erleuchtete. Ungelenk nahm ich sie von ihrem Platz auf dem Tischchen und sofort stürzte sich hinter mir wieder alles in Dunkelheit.
Eine fiese Gänsehaut zog sich über meinen ganzen Körper, ich rannte so schnell mein Rock es zuließ die Treppenstufen wieder nach oben und versuchte, nicht an die Schatten zu denken, die von unten nach mir zu greifen schienen.
Viel zu hastig schob ich die Tür am oberen Ende der Treppe hinter mir zu und lehnte mich mit dem Rücken dagegen, um wieder zu Atem zu kommen. Dieses Archiv war der wahrhaftig gruseligste Ort, an dem ich je gewesen war, und ich wollte mir gar nicht vorstellen, dass ich zukünftig jeden Tag da runtermusste.
Ich atmete tief ein, löste meine verkrampften Finger um den Laternengriff und blies schlussendlich sogar die Kerze darin aus. Die Vormittagssonne schien durch die hohen Fenster auf den steinernen Boden und vertrieb die Gänsehaut von meinen Armen.
Meine Bluse war voller Druckerschwärze. Na wunderbar.
Stunden saß ich daran, die Kisten mit den Neuerscheinungen auszupacken und für jedes Buch eine Eintragung im Register zu erstellen, die Titel, Autor, Thema, Erscheinungsdatum, Herkunft und Nachbestellungsinformationen beinhaltete.
Als Big Ben elf Uhr schlug, fühlte ich mich bereits erschlagen und sah mich doch einer Unzahl Bücher gegenüber, die ich noch nicht mal ausgepackt hatte.
Was hatten denn die vierundzwanzig vor mir gemacht? Nur herumgesessen und Däumchen gedreht? Es konnte doch nicht sein, dass so viel liegen bleiben konnte und sich niemand darum kümmerte.
Meine Finger waren voller Tinte, meine Ärmel bedeckt mit dunklen Flecken, die sich nicht hatten rausklopfen lassen, und eine Haarsträhne klebte mir verschwitzt im Nacken. Mein Rücken tat weh und ich beschloss, später weiterzumachen und erst einmal die Rückgabe vorzusortieren.
Am Tresen fand ich Oscar, allein. Nachdem ich mich vorsichtig erkundigt hatte, erfuhr ich, dass Cody morgen wieder da sei und dass sie nur montags und freitags zu zweit waren.
Dankend lächelte ich ihm zu, worauf er die Augen verlegen zu Boden schlug, und um ihn nicht weiter in Verlegenheit zu bringen, begann ich ohne ein weiteres Wort das Sortieren der Bücher. Ich war schneller als gestern und als der große Ansturm vor der Mittagspause begann, war ich bereits fertig. Wahrscheinlich war es aber auch der Tatsache geschuldet, dass sich seit gestern nicht so viel angesammelt hatte.
Ich half Oscar beim Verleihen der Bücher, fragte nach Namen, schrieb Buchtitel auf und dann hörte ich plötzlich einen Namen, der mir so bekannt vorkam, als sei es mein eigener.
»Henry Crumb«, sagte der Mann vor mir, den ich erst ansah, als er mir sein Buch reichte, und mir entfuhr ein leicht hysterisches Quieken.
»Henry!«, rief ich viel zu laut und wäre meinem Bruder am liebsten um den Hals gefallen. Doch wir waren in der Öffentlichkeit, ich hatte zu arbeiten und ein Tresen stand zwischen uns.
»Wann hast du Pause?«, wollte er schnell wissen und ich schaffte es kaum, meinen Blick von ihm abzuwenden, um in der Schublade C nach seinem Namen zu suchen.
»Halb zwölf«, informierte ich ihn und Henry lachte.
»Also vor fünf Minuten«, gab er zurück und mein Blick fuhr herum zu der Uhr, die schräg über uns wie in einem Bahnhof von der Decke hing.
»Oh, ja«, stellte ich fest und Oscar hinter mir schnaubte.
»Schreiben Sie das Buch auf und gehen Sie. Ich schaff das hier«, sagte er mürrisch und doch war sein Unterton nicht abfällig.
Ich zog Henrys Karte heraus, notierte das Buch und schob sie wieder zurück.
»Danke«, flüsterte ich Oscar zu und ich könnte schwören, einen Hauch Rosa auf seinen Wangen schimmern gesehen zu haben.
Eilig lief ich nach oben, um meinen Mantel zu holen, und hakte mich dann bei Henry unter, der mir den Arm anbot.
»Tante Lillian hat mir geschrieben, dass du da bist. Es ist so verrückt. Ich dachte, sie hätte sich verschrieben, als ich gelesen habe, dass du in der Bibliothek arbeiten sollst«, eröffnete Henry mir, während wir die Stufe nach draußen überwanden und den gepflasterten Weg entlangschlenderten.
Seit Henry hier in London Rechtswissenschaft studierte, hatte ich ihn nur noch zu den Feiertagen und zu Mutters Geburtstag zu Gesicht bekommen. Und da er auch immer viel zu tun hatte, waren seine Briefe mit der Zeit immer kürzer geworden.
Ich betrachtete ihn von der Seite und stellte überrascht einige Veränderungen an ihm fest. Er trug sein dunkelblondes Haar nun etwas länger, seine Koteletten waren verschwunden und der Schnauzer, den ich schon immer für albern gehalten hatte, auch.
»Sagen wir, ich wusste nicht, worauf ich mich einlasse, als Onkel Alfred und Vater mich überredet haben. Aber Mutter hat mir damit gedroht, mich mit dem langweiligen Mr Michels zu verloben, wenn ich nicht bald von meinem Dachboden komme«, witzelte ich, obwohl es nicht einmal zur Hälfte als Witz gemeint war. Henry lachte und doch war sein Blick ernst geblieben.
»Mr Michels, wirklich?«, wollte er skeptisch wissen und hob die Augenbrauen. »Der popelt in der Nase, wenn er sich unbeobachtet fühlt«, bestätigte Henry mich und nun musste ich wirklich lachen. »Hast du Hunger?«, wollte er von mir wissen und ich nickte eifrig. Denn ich hatte wirklich einen Bärenhunger.
Henry führte mich in die Cafeteria der Universität, die im letzten Jahrhundert eine Orangerie gewesen war. Da das Wetter draußen grau war, wurde der Saal durch warmes Laternenlicht erhellt und schuf so trotz der Größe eine heimelige Atmosphäre. Der Geruch von gebackenen Kartoffeln hing in der Luft und mir lief das Wasser bereits im Mund zusammen, noch bevor wir uns ein deftiges Mittagessen, Tee und zwei Stück Kuchen besorgen konnten.
»Und? Wie machst du dich bisher so als Bibliothekarsassistentin?«, erkundigte sich Henry süffisant, als wir uns an einen der unendlich vielen Tische setzten, und ich seufzte laut. Doch wenigstens machte es mir nichts aus, ihm gegenüber ehrlich zu sein.
Henry verstand mich. Er hatte mich schon immer verstanden und ich wandte mich schon seit wir Kinder waren in allen Problemen vorrangig an ihn. Er war ein verständiger, fröhlicher und sanftmütiger Mensch, der mich immer ernst genommen hatte und auf den ich mich voll und ganz verlassen konnte. So wie er sich auf mich.
»Ich glaube, nicht so gut. Es ist unglaublich viel zu tun und ich komme zu langsam voran. Hunderte Bücher liegen herum und keiner hat sich um sie gekümmert. Alles ist so groß, dass mir die Füße wehtun, wenn ich einmal hin und her gelaufen bin. Und zu allem anderen bin ich noch gar nicht gekommen«, gestand ich.
»Dann mach doch einfach langsam. Es ist dein zweiter Tag, Ani. Du setzt dich zu sehr unter Druck«, riet Henry mir und ich sackte in mich zusammen, so gut das mit Korsett eben möglich war.
»Du hast leicht reden. Du hast ja auch nicht den Teufel im Nacken, der nur darauf wartet, dass du versagst, damit er sich über dich lustig machen kann«, schimpfte ich, nahm meine Gabel zur Hand und begann zu essen. Essen war gut, Essen beruhigte mich.
»Du meinst Mr Reed?«, lachte Henry und ich sah ihm an, dass er sich zusammenreißen musste, um nicht noch lauter zu lachen.
»Natürlich, wen sonst?«, blaffte ich und pickte mir ein Stück Truthahn aus dem Krautsalat. »Er ist dreist und vorlaut und von Höflichkeit hat er auch noch nie etwas gehört. Er behandelt mich, als ob ich sowieso gleich versagen würde und ich es nicht wert wäre, dass er überhaupt das Wort an mich richtet«, schimpfte ich leise weiter und Henry versteckte sein Lachen hinter seiner Hand.
»Du lässt kein gutes Haar an ihm, was?«, meinte er und ich zuckte mit den Schultern.
»Warum auch? Soweit ich gehört habe, kann niemand ihn ausstehen.« Es schüttelte mich innerlich, wenn ich an ihn dachte, wie er auf mich herabsah und so tat, als ob ich nur nett herumsitzen würde, anstatt zu arbeiten.
»Ich mag ihn«, sagte Henry plötzlich und mir fiel vor Schreck die Kartoffel von der Gabel. Ich sah ihm in die blauen Augen, um sicherzugehen, dass er mich auch nicht auf den Arm nahm, und konnte darauf einfach nichts erwidern.
»Schau mich nicht so an, Ani. Er ist keine Höllenkreatur«, fuhr er fort und ich hätte ihm gerne widersprochen, wäre meine Stimme wieder bei mir gewesen. »Er macht es dir nicht aus Bosheit so schwer, sondern um dir die Gelegenheit zu geben, es allein zu schaffen, ohne Hilfe, wie ein erwachsener Mensch.«
»Sag das nicht so, als ob ich noch ein Kind wäre«, grummelte ich.
»Dann benimm dich auch nicht wie eins!«, warf er mir an den Kopf und stellte seinen Tee wieder ab. »Hör auf zu meckern, tu, was du kannst und alles andere wird sich schon fügen. Wenn du dich provozieren lässt, ist das nur ein Zeichen dafür, dass du dich nicht beherrschen kannst. Und dann wirst du auch weiter wie ein Kind behandelt werden.«
Mühsam schluckte ich gegen den Kloß an, der sich in meinem Hals bildete und mir signalisierte, dass ich mir eigentlich bewusst war, dass Henry recht hatte. Ich musste aufhören, wild um mich zu schlagen, und anfangen, die Dinge zu tun, weil ich es wollte und nicht, um Mr Reed oder meiner Mutter eins auszuwischen.
Aber das war leichter gesagt als getan.
Zumindest hatte Henry mir die Augen geöffnet und mir endlich einen guten Grund gegeben, zu bleiben. Und zwar um meinetwillen und nicht, um jemand anderem etwas zu beweisen.
»Ani.« Sein Blick wurde versöhnlicher. »Du schaffst das.«
Ich nickte, schob meinen Teller zur Seite, von dem ich nur ein paar Bissen gegessen hatte, und machte mich über das Stück Kuchen her. Schließlich war ich erwachsen. Erwachsene durften auch entscheiden, den Kuchen zuerst zu essen.
»Außerdem geratet ihr beide euch nur so sehr in die Hörner, weil ihr euch ziemlich ähnlich seid«, behauptete Henry plötzlich und ich verschluckte mich.
»Bitte was?!«, zischte ich scharf und konnte nur knapp verhindern, dass mir der Kuchen wieder aus dem Mund fiel. »Ganz bestimmt nicht. Hast du nicht gehört, wie ich sagte, er sei dreist und vorlaut und ohne eine Spur von Höflichkeit?«, empörte ich mich, nachdem ich geschluckt hatte, und in Henrys Augen kehrte das Lächeln zurück. Anstatt zu antworten, hob er nur vielsagend eine Augenbraue.
»Ich bin nicht dreist und vorlaut«, wiederholte ich. Henry begann stumm zu essen, womit er mich nur noch mehr verhöhnte.
»Da sagt Mutter aber was anderes«, erwiderte er und ich hörte die nur schwer zu versteckende Belustigung in seiner Stimme, die mich ärgerte.
Denn er hatte schon wieder recht. Mutter beschwerte sich ständig darüber, dass ich im richtigen Moment nicht den Mund hielt und immer alles besser wusste.
»Aber ich bin höflich«, versuchte ich es irgendwie noch zu retten. Henry nickte.
»Na ja. Du meinst, du versteckst deine Unhöflichkeit besser als er«, kommentierte er amüsiert und ich starrte ihn erbost nieder. Das von meinem eigenen Bruder zu hören, traf mich härter, als ich gedacht hätte, und ich wusste nicht, ob ich es verkraften konnte, ihm in diesem Punkt ebenfalls recht zu geben.
Das Sechste oder das, in dem ich eine Gleichgesinnte fand.

Ich stand neben einem leise knisternden Kamin. In der einen Hand hielt ich ein Glas mit Sodawasser, in der anderen ein kleines Sandwich mit Pastete und starrte genervt in einen großen Salon voller Menschen, die ich nicht kannte.
Eigentlich wollte ich überhaupt nicht hier sein und die versprochene Musik blieb bisher auch aus.
Nachdem mich Henry wieder zurück zur Bibliothek gebracht und mich zum Abschied einmal so fest an sich gedrückt hatte, dass ich kaum noch Luft bekam, war ich wieder in meiner Kammer verschwunden, um dort weiterzumachen, wo ich zuvor aufgehört hatte.
Obwohl sich nicht wirklich etwas an meiner Situation änderte, fühlte es sich nach unserem Gespräch zumindest besser an, hier zu sitzen und zu arbeiten.
Ich strich mit den Fingerspitzen über den lederbezogenen Einband eines dicken Buches, das ich aus Seidenpapier ausgewickelt hatte. Die frische Druckertinte stieg mir in die Nase, ich sah den Staub in der Luft tanzen, der von den geschnittenen Seiten herrührte, und genoss die Sonnenstrahlen, die durchs Fenster hereinschienen und der ganzen Situation eine nostalgische Note verliehen. Es machte mich langsam, wenn ich die Bücher genoss und nicht einfach abarbeitete, aber das war mir in diesem Moment nicht wichtig.
Ich nahm mir Henrys Worte zu Herzen und ging es langsam an. Es war mein zweiter Tag und ich wollte an diesem Abend und allen folgenden nicht wieder so abgekämpft nach Hause taumeln, wie ich es gestern getan hatte. Man hatte mich hierher gebracht in der Annahme, in einer Bibliothek zu arbeiten und nicht, die Sklavin für einen verrückten Bibliothekar zu sein. Ich wollte nicht auf seine Meinung angewiesen sein. Ich würde tun, was ich konnte, mich nicht länger aus der Ruhe bringen lassen und schließlich dadurch beweisen, dass ich eine vollwertige Erwachsene war.
Was sollte er auch machen, außer mich weiter mit arroganten Blicken und gemeinen Kommentaren zu bedenken. Rauswerfen konnte er mich nicht. Zumindest nicht innerhalb des nächsten Monats, dafür hatte Onkel Alfred gesorgt.
Trotz allem bewältigte ich in den nächsten Stunden weit mehr, als ich mir anfangs zugetraut hatte. Bevor ich ging, sortierte ich die Bücher so, dass sie einer Ordnung folgten und ich morgen weniger zu suchen hatte. Dann schraubte ich das Tintenfass zu, klopfte mir den Staub aus dem dunklen Stoff meines Rockes und verließ die Kammer aufgeräumter, als ich sie anfangs vorgefunden hatte.
Mr Reed fand ich im großen, runden Lesesaal vor. Er redete leise mit einem Mann, der noch Mantel und Hut trug und der sich nach wenigen Augenblicken auch schon wieder verabschiedete. Ich nahm die Gelegenheit wahr, mich bei dem Bibliothekar noch einmal zu zeigen, damit er wusste, dass ich pünktlich gehen würde und nicht schon vorher abgehauen war.
»Miss Crumb«, sagte er, als er mich auf sich zukommen sah. Er wirkte nicht gerade erfreut. Seine Augenbrauen waren düster zusammengezogen, die Stirn voller bösartiger Falten. Und auch wenn ich sah, dass er sich um einen neutralen Gesichtsausdruck bemühte, gelang ihm das kaum.
»Mr Reed«, erwiderte ich und fragte mich unwillkürlich, was ich wohl angestellt hatte, da schnaubte er plötzlich, nahm die Brille ab und rieb sich mit zwei Fingern die Nasenwurzel.
»Verzeihen Sie meine Aufgebrachtheit. Der Gentleman gerade hat meine Nerven strapaziert«, gab er ganz offen zu und setzte sich die Brille wieder auf. »Wie kann ich Ihnen helfen?«, erkundigte er sich mit einem Seufzen und zwang sich sogar zu einem schmalen Lächeln.
Ich wusste nicht, was ich davon halten sollte, dass er auf einmal anfing, mir eine gewisse Art von Entgegenkommen zu zeigen. War das eine Finte, um mich erneut zu beleidigen, oder hatte er sich wirklich besonnen und begann tatsächlich, mehr Höflichkeit an den Tag zu legen?
Ich schätzte nicht, dass ich es gewesen war, die diese Veränderung hervorgerufen hatte, indem ich ihn seiner schlechten Manieren wegen rügte. Vielleicht lag es ja an dem Gentleman, der soeben gegangen war und der Mr Reed so viele Nerven gekostet hatte, dass ich dagegen lediglich das kleinere Übel zu sein schien.
»Ich wollte Ihnen nur mitteilen, dass ich jetzt gehe«, sagte ich leise und mit so sanfter Stimme, wie ich imstande war. Ich wusste nicht warum, aber aus irgendeinem Grund wollte ich ihn jetzt nicht noch mehr provozieren.
Mr Reed sah mich überrascht an und sein Kopf drehte sich der Uhr im Foyer zu.
Mein Blick folgte dem seinen. Es war bereits zwölf Minuten nach fünf.
»Oh, schon so spät. Gut, ähm … gut«, meinte er etwas fahrig und tastete seine Jackentaschen ab, als würde er nach etwas suchen, nur um die Hände nach einem kurzen Kopfschütteln wieder sinken zu lassen.
Dieser Mann mit Mantel und Hut musste ihn wirklich äußerst aufgewühlt haben, dass er jetzt so kopflos war.
»Noch eine Bitte«, brachte ich seine Aufmerksamkeit wieder auf mich zurück und er sah mich durch die Brillengläser an, die seine Augen ein wenig größer erscheinen ließen, als sie wirklich waren. »Morgen müssen Sie mir Ihre Suchmaschine zeigen. Denn ich bin leider ratlos, wozu Schlagwörter gut sein sollen«, legte ich ihm vor und er nickte.