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Trude war dankbar, dass Lena sie nicht nach ihrem Äußeren bewertete, es schien sie auch nie zu stören. Das Mädchen kam zweifellos aus gutem Haus. Doch das gemeinsame Los, als Frau kein frei bestimmtes Leben führen zu können, schweißte die beiden trotz der großen Unterschiede ihrer Herkunft zusammen. Trude hatte es geschafft, obwohl sie nur über eine spartanische Schulbildung verfügte, sich ein ansehnliches Allgemeinwissen und Schlagfertigkeit anzueignen. Dank ihrer schnellen Auffassungsgabe schnappte sie jegliche Information auf und speicherte diese zuverlässig ab. Sie konnte Lena das Wasser reichen. Diese bemerkte einmal: „Trude, du hast ein Gedächtnis wie ein Elefant!“
Sie trafen sich immer samstags am Fluss möglichst unter der Trauerweide, wenn es regnete unter der Flussbrücke. Trude freute sich die ganze Woche auf den spannenden und inspirierenden Austausch mit ihrer Freundin und ließ sich von keiner Witterung abhalten. Sie lasen sich gegenseitig aus den verbotenen Büchern vor. Als sich im September die kühle Jahreszeit ankündete, war es Karel, der ihnen eine Lösung anbot. Er wusste auf dem Unigelände von dem ausgedienten Schuppen neben der Sternwarte. Kommilitonen verschanzten sich dort, um heimlich zu rauchen oder Mädchen zu treffen. Lena schleppte Wolldecken und eine Funzel aus dem Gartenhaus sowie eine Blechdose mit Keksen an.
Für die beiden Mädchen war es der Höhepunkt der Woche, eingemummt in den Decken im fahlen Schein der Lampe eng aneinandergeschmiegt in den Büchern zu schmökern. Lena rückte an einem Samstag mit einer Pappschachtel an. Darin zauberte sie einen Spiegel, eine Haarbürste und Schleifen hervor. Sie zeigte Trude Kniffe, wie sie ihr Haar schöner frisieren konnte. Zu Trudes Verblüffung kamen aus dem Karton zwei Kleider zum Vorschein, die Lena hinterrücks trotz der wachen Mutteraugen wegschmuggeln konnte und Trude schenkte.
Die zwei, drei Stunden verflogen immer viel zu schnell und es wurde den beiden Freundinnen nie langweilig. Das kühne Geheimnis stärkte Trude von innen und trug sie durch die mühselige Arbeitswoche.
Einmal lud Lena ihre Freundin in ein Studentencafé zu einer warmen Schokolade ein. Für Trude, die noch kaum Zucker und Schleckwaren gekostet hatte, war dieses süße Getränk eine Initiation. Sie löffelte das Getränk in ihren Mund, ließ die braune, schwere Flüssigkeit und die geschlagene Sahne auf der Zunge schmelzen und beherrschte sich, Lena nicht mit unanständigen Wohllauten in Verlegenheit zu führen. Trude kicherte stattdessen zu ihrer Freundin: „Das ist so unglaublich köstlich! Ich wette, ein Kuss schmeckt nicht so gut!“
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Der Herbst brachte eisige Winde nach Estland. Mit den Stürmen bahnte sich eine unheilvolle Wende an. Bis weit über den Spätsommer hinaus gelangen die Ausflüge nach Tartu, ohne Aufmerksamkeit zu erregen. Es war leicht, einfach zu verschwinden, weil Vater Trudes An- oder Abwesenheit in der Betriebsamkeit des Hofes nicht aufzufallen schien. Doch das Mädchen wog sich in falscher Sicherheit. Denn einmal stellte Vater seine Tochter unerwartet zur Rede. Verraten haben sie bestimmt nicht Lenas Kleider. Diese trug sie nie zu Hause. In einem Waldstück auf dem Weg nach Tartu tauschte sie jeweils die bescheidenden Röcke gegen die feinen Stoffe aus. Sie hütete die geschenkten Kleider wie einen Schatz und bunkerte sie unter einer losen Bodendiele im Heustock.
Häufigkeit und Regelmäßigkeit der Ausflüge hatten Vater stutzig gemacht. Es hatte bereits eingedunkelt, als er sie am Brunnen im Hof abpasste. Trude bog pfeifend um die Stallecke in den Hof, bremste erschrocken ab, sprang vom Rad und schritt geknickt ihrem finster dreinblickenden Vater entgegen. Er knurrte: „Trude, du hast dich verändert. Du kommst jetzt in das gefährliche Alter. Ich lasse es nicht mehr zu, dass du mit dem Rad ein bisschen in der Gegend herumfährst! Ich werde dich mit Argusaugen beobachten, Trude!“
Mehr sagte er nicht und wartete auch nicht auf Trudes Antwort. Als sie Luft holte, um ihm etwas zu entgegnen, hatte er sich bereits abgewandt und schlurfte zum Haus. Er ging den Kopf nach vorn gebeugt, ein Buckel zeichnete sich deutlich unter dem dunkelbraunen Kittel ab. Trude sah ihm konsterniert nach, während sie Atemluft durch den offenen Mund ausstieß und mit den Tränen kämpfte. Der Vater hatte es nicht ausgesprochen, aber Trude war sich sicher, dass er überzeugt war, dass sie sich heimlich mit einem Jungen traf. Trude unterdrückte ihre Verzweiflung und folgte ihrem Vater ins Haus. Den Abenddienst verrichtete sie wie immer stoisch und schweigsam. Sie kochte, deckte den Tisch und widmete sich dem Abwasch, während ihre Brüder und der Vater sich im Wohnzimmer um den Holzofen versammelten und sich einer Beschäftigung widmeten. Der Vater las laut aus der Bibel, zwei Brüder schnitzten an ihren Figuren, die jüngeren spielten Schach oder Karten. Trude kniete auf dem Küchenboden und war im Begriff, mit der Bürste die Planken zu schrubben, als sie ihren Namen vernahm. Sie horchte auf, unterbrach ihre Arbeit und lauschte, wie sich Vater und der Älteste über Trudes Zukunft und die künftige Haushaltsführung auf dem Hof berieten. Es war beschlossene Sache, dass der älteste Bruder im Frühjahr seine Braut heiraten und den Hof übernehmen würde. Trude würde dann unter die Obhut der neuen Hausherrin kommen.
„Ich werde dafür sorgen, dass Trude rechtzeitig unter die Haube kommt. Ich möchte nicht, dass sie uns Schande über den Hof bringt! Auf dem Birkenhof gibt es einen Burschen in Trudes Alter. Ich werde morgen in der Kirche seinen Eltern auf den Zahn fühlen, welche Pläne sie mit ihrem Stammeshalter haben“, hörte Trude ihren Vater noch anmerken. Sie tauchte die Scheuerbürste in den Wassereimer und schmetterte sie wütend auf den Boden, dass es in alle Richtungen spritzte.
Später wälzte sich Trude auf ihrem Lager. Sie hatte eine Bettstatt in der Vorratskammer neben der Küche erhalten, als sie vor einem Jahr darum gebeten hatte, nicht mehr mit ihren Brüdern im selben Raum zu nächtigen. Die Kammer war winzig, kalt und finster. Für die Kartoffeln, Getreidesäcke und Schmalztiegel ideal, für ein Schlafzimmer wenig behaglich. Doch sie schlief lieber hier alleine, im behelfsmäßig gezimmerten Nachtlager, als im Schlag mit den sechs Brüdern, die nachts schnarchten und ihren körperlichen Bedürfnissen freien Lauf ließen.
Trude lag lange wach und starrte in die Schwärze. Es musste dringend ein sattelfestes Alibi her! Sie bangte um die kostbare Freundschaft mit Lena. Auf dem Hof konnte sich Trude niemandem anvertrauen. Sie musste eine Lüge erfinden, damit sie sich weiterhin mit Lena treffen konnte. Je länger sie sich wand und Auswege suchte, desto größer wurde ihr Zorn auf die Gefangenschaft, auf die männlichen Wächter und deren obersten Befehlshaber: auf Gott!
Trudes Wut loderte auch am nächsten Morgen weiter. Des Predigers Worte gossen ihr Öl in Zornesfeuer. Nach dem Kirchgang, als der Vater den Gaul vor den Wagen spannte und die Brüder noch mit den anderen der Gemeinde einen Schwatz hielten, büxte sie aus. Kopflos hastete sie in das Waldstück davon, das in der entgegengesetzten Richtung ihres Hofes lag. Sie rannte, bis ihre Lungen brannten, das Herz bis zum Hals hämmerte und die Füße sie nicht mehr trugen.
Sie hielt inne, um nach Atem zu ringen. Danach schritt sie weiter immer mehr in das Holz hinein, ziellos, aber wild entschlossen, Brüder und Vater abzuhängen, falls die ihre Verfolgung aufgenommen haben sollten. Was Trude jedoch bezweifelte. Der feuchte Waldboden war glitschig unter ihren Füßen. Plötzlich ballten sich ihre Fäuste und ihre Augen suchten in den Wipfeln nach einem Adressaten für ihre kochende Wut.
Sollte sich der Allmächtige dort oben verstecken? Sie hatte wenig Erfahrung mit ihm, hatte auf ihre Gebete keine Antwort erhalten. Sie stand nicht in seiner Gunst. Er war in Trudes Augen ein Gott der Männer, der die Frauen nicht liebte. Sollte sich der Schöpfer hier in der Natur verbergen, war es Zeit, Tacheles mit ihm zu reden.
„Du da oben, zeig Dich, wenn es Dich wirklich gibt! Du ungerechter, launischer Geselle! Einen Deut scherst Du Dich um meine Mädchenseele! Wo bleibt Deine Menschenliebe? Gib mir ein Zeichen, was ich tun soll, um Lenas Freundschaft zu behalten! Oder erschlage mich auf der Stelle mit einem Blitz, wenn ich Dir so wenig wert bin!“
Dem Zornesausbruch folgten Tränen. Der über Jahre zurückgehaltene Kummer bahnte sich mit der brachialen Kraft der Wut seinen Weg. Hemmungslos weinend sackte die junge Frau auf den herbstnassen Waldboden. Die jahrelange Selbstbeherrschung fiel in sich zusammen wie die Hülle eines entleerten Getreidesackes. Trude drehte sich auf den Rücken. Sie wand und krümmte sich, immer wieder erfassten sie Tränenwellen und ihre Hände krampften im modrigen Laub nach Halt. Irgendwann, leer geweint, übermannte Trude die Erschöpfung und sie schlief ein.
Es war eine Bäuerin, die das regungslose Mädchen fand. Die junge Frau suchte Pilze, um das bescheidene Abendbrot für sich und ihre Mädchenschar aufzuwerten. Der Anblick des regungslosen Körpers erschreckte die Bäuerin zutiefst. Sie wappnete sich für das Schlimmste und stürzte herbei. Die Lippen des Mädchens, das blass und klamm dalag, waren blau wie Pflaumen. „Mädchen, nun steh doch auf, du holst dir den Tod in dieser Kälte!“
Ihre Stimme überschlug sich, als sie am leblosen Körper rüttelte und mit der flachen Hand sachte die Wangen abklopfte. Die Frau war erleichtert, als Trude endlich die Augen aufschlug. Trude ließ sich von der fremden Frau aufrichten und hing schlaff in ihren Armen. Langsam kehrte Farbe in das Gesicht des Mädchens zurück. Als die Unbekannte ihr half, auf die Füße zu kommen, sackten ihre Beine ein. Als sie sich selber aufrecht halten konnte, ließ sich Trude noch ganz benommen von der Frau an der Hand mitschleifen. Nach einem kurzen Fußmarsch erreichten sie einen Hof auf einer Waldlichtung.
Die Unbekannte führte Trude in ihr Haus. Mitten in der Küche prangte ein stolzer Ofen, aus dem die Geräusche von knisterndem Holz und flackernden Flammen drangen. Die immer noch matte Trude ließ es geschehen, dass sie auf dem Schemel davor platziert wurde. Sie wehrte sich auch nicht, als ihr die Fremde die feuchten Kleider vom Leib schälte und sie nackt in Wolldecken hüllte. Während der ganzen Zeit sprachen weder Trude noch die Frau. Trude war verwirrt und hätte kein vernünftiges Wort zustande gebracht. Ihr war jedoch nicht unwohl. Seltsamerweise fühlte sie sich hüllenlos vor dieser Frau geborgener als in ihrer gewohnten Umgebung.
Die wiederkehrende Wärme stach wie Nadeln unter der Haut. Doch dies brachte Leben zurück in ihren Körper. Trude konnte langsam wieder klare Gedanken fassen und begann ihre Umgebung wahrzunehmen. Vier Mädchen zwischen sechs und zwölf saßen um einen kargen Holztisch, unterbrachen immer wieder ihr Handwerk und betrachteten den Gast mit neugierigen Augen. Alle hielten ein Flick- oder Flechtzeug im Schoß. Ihre Mutter wirbelte inzwischen in der Küche herum und bereitete eine Mahlzeit zu. Mit dem ältesten Mädchen hatte sie eine Zeitlang in derselben Schulstube gesessen. Jetzt erkannte Trude, wo sie untergekommen war: bei Olga.
Olga war eine Witfrau aus dem Nachbarsdorf. Trude kannte sie vom Hörensagen. Ihrer Leistung, die vier Töchter alleine großzuziehen und einen Hof zu bewirtschaften, nachdem ihr Mann an der Front gefallen war, trug man respektvolle Anerkennung entgegen. Doch ihre Weigerung, am Sonntag zur Kirche zu gehen, wurde missbilligt. Olga war Anfang dreißig und trug ihre blonden Haare stets zu einem Zopfkranz hochgesteckt, was ihre klaren grünen, Augen zum Leuchten brachte. Die harte Arbeit in Haus und Hof hat ihrem gut gebauten, mittelgroßen Körper nichts anhaben können. Olga war eine klassische, strahlende Schönheit. Manche Buhler hatte sie versetzt. Kein Mann hatte es geschafft, den Platz ihres Liebsten neu zu besetzen. Dies brachte ihr den Ruf einer Unbeugsamen ein. Manche munkelten gar, sie sei eine Hexe mit ihrer Brut. Aber da sich Olga nicht unter das Volk mischte, sich nichts zuschulden kommen ließ, konnte man ihr auch nichts anhaben.
Olga war das Zeichen.
Es war der Holzherd und es war Olga, die so viel Herzenswärme abstrahlten, dass Trude rasch zu Kräften kam. Es waren die kichernden, herzlichen Mädchen, die eine Leichtigkeit im Raum versprühten, die Trude betörte. Olgas Heim war so unbeschwert anders. Was hätte Trude darum gegeben, in so einem besonnten Umfeld zu leben.
Doch als ihre Kleider trocken waren und die Suppe sie gestärkt hatte, drängte es sie, heimzukehren. Sie sah ihren Vater mit einem Riemen in der Tür stehen. Es wäre nicht das erste Mal, dass er sie mit dem Leder züchtigte. Vor dem Schmerz hatte Trude Angst. Aber mehr noch fürchtete sie Vaters Moralpredigt. Er verstand es meisterhaft, die junge Frau vor ihren Brüdern zu demütigen.
Olga kannte die Zustände in der Käserei und erahnte die innere Not der jungen Frau. Sie bot sich an, Trude nach Hause zu begleiten. Es dämmerte, als sie mit dem Einspänner im Elternhof einfuhren. Der Vater unterbrach seine Arbeit, rammte das Beil in den Holzstumpf und verzog seine Augen zu Schlitzen, als er die Bäuerin und seine Tochter neben ihr sitzend erkannte.
Während Olga das Pferd anband, sprang Trude vom Kutscherbock. Heinrich eilte herbei, fasste seine Tochter am Oberarm und holte aus, um eine Tirade über seine Tochter zu ergießen. Trude hob ihre Hände zum Schutz vor das Gesicht. Olga trat dazwischen und überraschte sowohl Vater als auch Tochter mit ihrer Unerschrockenheit. Klug, wie Olga war, hatte sie sich auf dem Wege eine Erklärung ausgedacht und trat mutig vor Trudes Vater. Sie schnitt ihm das Wort ab und sagte ihm ins Gesicht: „Ich habe Trude auf dem Waldboden aufgelesen. Deine Tochter hat ihre Frauentage und viel Blut verloren. Es ist offensichtlich, dass sie zu wenig Speck auf den Rippen hat. Ich vermute, sie hat Anämie und hat wohl deswegen das Bewusstsein verloren. Du als Vater solltest darum besorgt sein, was eine junge Frau in ihrem Alter braucht!“
Trude bewunderte die Dreistigkeit ihrer Retterin. Tatsächlich hatte sie in diesem Sommer Blutungen bekommen und wusste nicht genau, was ihr jeden Monat geschah. Sie stopfte sich Lumpen zwischen die Beine, bis der rote Ausfluss nach drei Tagen wieder verklang. Sie hütete sich, ein einziges Wort darüber zu verlieren. Sogar Lena gegenüber schämte sie sich. Die Blutung war vor Olgas Augen beim Kleiderwechsel nicht verborgen geblieben. Doch statt unangenehme Fragen zu stellen, hatte die Mutter der Mädchen für das Blut an den Unterkleidern offensichtlich eine plausible Erklärung parat. Im Disput zwischen Olga und ihrem Vater davon zu erfahren, berührte Trude peinlich und machte ihr noch deutlicher, wie einsam sie auf diesem Männerhof war.
Es folgte ein heftiger Wortwechsel zwischen Vater und Olga, welche die Freiheit besaß, alles anzusprechen, was für die Klärung nötig war, weil Vater keine Macht über sie hatte. Es drohten ihr keine unangenehmen Konsequenzen. Olga setzte sich vehement für Trude und ihre existenziellen Bedürfnisse ein wie noch nie ein Mensch zuvor in ihrem Leben. Wie schmerzlich wurde ihr in diesem Augenblick die fehlende Mutter bewusst – die starke weibliche Instanz im Rücken einer Tochter. So gelang es Olga an diesem für Trude schicksalhaften Tag, Vater zu überzeugen, dass das Mädchen eine weibliche Ziehmutter bräuchte, um sie zu einer rechtschaffenen Frau zu erziehen. Sie selber könnte mit ihren vier Kindern eine helfende Hand dringend brauchen und würde diese Aufgabe gerne übernehmen. Heinrich und Olga kamen überein, dass Trude fortan zwei-, dreimal die Woche und immer samstags, wenn auf dem Käsereibetrieb die Hilfe des Mädchen abdingbar war, auf Olgas Hof anpacken sollte.
Bis zum nächsten Samstag blieben Trude ein paar Tage Zeit, Olgas Vertrauen zu gewinnen. Trude weihte sie in ihre geheimen Treffen mit Lena ein und bat sie, ihr das Beisammensein mit ihrer Freundin zu ermöglichen. Olga erbat sich als Bedingung für das Alibi, Bücher mitzubringen und ihr daraus vorzulesen. Trude erschauderte. Olga war Analphabetin. Sie teilte das Schicksal mit vielen Frauen ihrer Generation, denen der Zugang zur Schulbildung noch rigoroser verschlossen und denen das Erlernen von Lesen und Schreiben versagt geblieben war. Diese Tatsache machte Olga zu Trudes und Lenas Komplizin.
Trude konnte es jeweils kaum erwarten, in Olgas Haus, in dem es fröhlich zu- und herging, zu entschwinden. Den Weg zwischen der Käserei und dem Birkenhof legte Trude auf dem Rad zurück. Jedes Mal, wenn sie über den Waldweg holperte, erinnerte sie sich an den Glückstag, an dem Olga sie gefunden hatte. Trude bewunderte Olga.
Mit ihren zweiunddreißig Jahren war sie eigentlich viel zu jung für eine Witwe. Sie hatte sich biegsam und geschmeidig wie Bambus ihrem Schicksal ergeben, sich aber nie brechen lassen. Olga war eine Kämpferin, eine Überlebenskämpferin. Und Olga hatte ein großes Herz. Sie schien eine natürliche Gabe zu besitzen, trotz aller widrigen Umstände, trotz ihrem resoluten Überlebenskampf, sich eine versöhnliche Haltung bewahren zu können. Sie begegnete ihren Mädchen und Trude stets mild und voller Güte. Trude staunte dann und wann: „Was oder wer hatte Olga zum Pilzesammeln in den Wald geschickt? Hast Du da oben meinen Hilfeschrei erhört? Ich gebe Dir noch einmal eine Chance, Gott!“
Es kam, dass Trude gar bei Olga übernachtete und von dort zur Schule ging. Heinrich, der zu Beginn jeden Schritt seiner Tochter mit Argwohn beobachtete, schien sich allmählich daran zu gewöhnen und sich sogar mit den neuen Umständen anzufreunden. Ihm war die Erziehung von jungen Männern geläufig geworden, doch er fühlte sich unbeholfen und unbehaglich, seine Heranwachsende schadlos und keusch für einen zukünftigen Bräutigam durch die Pubertät zu schleusen. Auch wenn er das nie zugegeben hätte, kam ihm Olga insgeheim gelegen. Deshalb ließ ihr Heinrich freie Hand.
Trudes vierzehnter Geburtstag im Oktober 1922 wurde zum schönsten ihres bisherigen Lebens. Olgas Mädchen führten das Geburtstagskind mit verbundenen Augen in die mit Girlanden dekorierte Wohnküche. Sie flochten Trudes Haar und schmückten es mit einem Blumenkranz, dazu sangen sie Lieder. Olga buk ihr einen Geburtstagskuchen, den ersten in ihrem Leben, einen Mohnstollen. Dazu gab es warme Schokolade. Olga hatte aus den Gesprächen herausgehört, dass sich Trude schon immer ein Tagebuch gewünscht hatte, und überraschte sie mit einer schwarzen Kladde und einem Bleistift. Trude war gerührt und konnte ihr Glück kaum fassen.
Später stieß Lena zu der Frauenrunde. Endlich lernten sich Olga und Lena kennen. Lena überreichte ihrer Freundin ihr Geschenk in ein schwarzes Seidentuch gewickelt. Trude tastete durch den Stoff die Konturen eines Buches ab. Es kam eine Ausgabe von Der Glöckner von Notre Dame von Victor Hugo zutage. Der Einband war schon etwas speckig und Trude schloss daraus, dass das Buch aus zweiter Hand war. Dies schmälerte ihre Begeisterung jedoch in keiner Weise. Es war gut möglich, dass Lena es gestohlen hatte, war es doch auch für sie nur unter großer Heimlichtuerei möglich, an Literatur zu kommen. Sie fragte ihre Freundin nie, woher sie „den Glöckner“ hatte.
Übermütig schob Trude den rechten Daumen zwischen zwei Seiten, schlug das Buch auf und las laut: „Die Esmeralda war nach Gringoires Urteil ein unschädliches und liebliches Geschöpf; hübsch, und zwar hübsch trotz eines Schmolllippchens, das ihr eigen war; ein harmloses und leidenschaftliches Mädchen, das nichts wusste und für alles sich schwärmerisch begeisterte; dem der Unterschied zwischen einer Frau und einem Manne noch nicht bekannt war, dem dieser Unterschied auch selbst im Traum nicht zum Bewusstsein gedrungen war – das gebaut und geschaffen war wie ein Traum, das vernarrt war vor allem in Tanz, in Geräusch und Getöse, in frische, freie Luft, eine Art Mittelding zwischen Weib und Biene, das an den Füßen unsichtbare Beine hatte und in einem kreisenden Wirbel lebte.“
Trude lachte laut auf. Der Text passte und klang wie ein Weckruf. Sie war doch auch so ein Mittelding zwischen Kind und Frau. Tanz, Geräusch und Getöse! In Trude geriet eine Saite in Schwingung. Sie beschloss an ihrem Geburtstag, wie Esmeralda zu werden: frei und ungebunden, leicht und leidenschaftlich. Ihr Geburtstag sollte das gute Vorzeichen eines neuen Lebensabschnittes werden.
Sie saß zusammen mit den zwei Menschen, die ihr das Leben plötzlich so reich gemacht hatten, am gedeckten Tisch. So etwas Schönes hatte Trude bisher noch nie erlebt. Sie fühlte sich mit einem Mal zugehörig, geliebt und willkommen, sie hätte platzen können vor Glück. Unvorbereitet war es in ihr Leben gekommen. Plötzlich begann Trude wie ein Derwisch um den Tisch herumzutanzen. Sie drehte sich mit ausgebreiteten Armen um ihre eigene Achse, bis sie umfiel und sich mit einem irren Lachen auf den Dielen wälzte. Lena und Olga stürzten sich spaßend auf das Geburtstagskind, kitzelten es. Die Frauen balgten sich wie Welpen auf dem blanken Boden der Bauernküche.
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Lange trug Trude das Bild von Esmeralda mit sich herum. Die Tänzerin von Victor Hugos wurde ihr eine Schwester im Geist. Wie Trude, war auch die Zigeunerin früh ihrer Mutter entrissen worden. Das Buch fand Worte für ihre ungestillte Sehnsucht nach der mütterlichen Geborgenheit. Trude träumte davon, so leichtfüssig zu tanzen und so schön zu sein wie Esmeralda. Es war keine Sache, Olgas Einverständnis zu bekommen, als Trude sie darum bat, dem Folkloreverein Livonia beizutreten. Lena hatte von der fröhlichen Tanzgruppe geschwärmt, die sie besuchte, um aus ihrem goldenen Käfig auszubrechen, und Trude, die stets das Bild von Esmeralda in sich trug, ließ sich nicht zweimal bitten.
Längst hatte Trude sich der Autorität des Vaters entzogen. Am Abend des letzten Schultages band sie ihr kleines Bündel um, schwang sich auf ihr Fahrrad und zog im Birkenhof ein. Olga und die Mädchen rückten zusammen und teilten fortan ihre Schlafkammer mit Trude, die für die Kinder wie eine große Schwester wurde.
Es muss im Hochsommer gewesen sein, denn es war noch taghell und die Erde strahlte spätabends noch Wärme ab, als Trude von ihrem ersten Tanzen am Samstagabend nach Hause radelte, ihr Fahrrad im Schuppen verstaute und zu Olga eilte. Die Älteste saß am Boden und lockte die Katze mit einem Halm aus ihrem Versteck, während die anderen Himmel und Hölle auf dem Gehweg spielten. Trude trippelte und tänzelte vor Olga auf und ab, die auf der Bank an die Hauswand gelehnt dem Abendfrieden frönte, und schwärmte: „Es war großartig! Ich bin so glücklich Olga! Wenn du die Musik hörst, fangen die Beine wie von selbst an zu zucken. Die Kapelle besteht aus Bassgeige, Rahmentrommel, Geige und einer Laute. Der Gesang geht unter die Haut. Die Tanztruppe besteht aus etwa dreißig jungen Männern und Frauen. Sie waren alle sehr freundlich zu mir. Ich bin ja eine der Jüngsten. Lenas Bruder Karel war mein Tanzpartner. Er hat nur gelacht, wenn ich ihm aus Versehen auf die Füße gestiegen bin. Ich habe die Schritte aber schnell erlernt. Karel hat mich am Schluss ganz eng an sich geschlungen und mich herumgewirbelt. Was haben wir gekichert. Wenn ich mich mit den anderen im Kreis drehe, habe ich das Gefühl zu fliegen. Die Trachtengruppe hält die livische Tradition aufrecht. Das erfüllt mich mit Würde und Stolz. Ich habe das erste Mal das Gefühl, zugehörig zu sein und Wurzeln zu spüren.“
Olga folgte der Begeisterung der jungen Frau schmunzelnd. Trude umarmte Olga überschwänglich und setzte sich zu ihr auf die Bank. Olga erzählte von den Liven, was ihr die Eltern weitergegeben hatten. Trude ergänzte Olgas Ausführungen mit ihrem neu erworbenen Wissen über die baltische Kultur. Neugierig kamen die Mädchen näher und hockten sich auf den Boden zu Olgas und Trudes Füßen und lauschten den alten Mythen. Als die Nacht hereinbrach, war die Kleinste, Malena, mit dem Kopf im Schoß der ältesten Schwester eingeschlafen.
Die Trachtengruppe wurde Ende des 19. Jahrhunderts gegründet, um die baltisch-livische Kultur zu pflegen. Trotz ethnischer Zusammengehörigkeit hatte das Volk der Liven keinen eigenen Staat. Ihre Heimat lag im Baltikum zwischen dem Peipus See und der Bucht von Riga. Durch alle Jahrhunderte wurden die Ländereien immer wieder neu verteilt. Wie bei einem Spiel zockten die jeweiligen Machthaber aus Polen, Dänemark, Schweden, Deutschland, Finnland oder Russland beliebig um die Siedlungen. Das Volk arrangierte sich jeweils mit den Herrschern im Wissen, dass sie eines Tages sowieso wieder den Platz räumen würden.