- -
- 100%
- +
Das einfache Bauernvolk war vielmehr darauf bedacht, den in ihren Augen wahren Mächten Tribut zu zollen. Eisige Winter, kurze intensive Sonnenmonate, karge Böden und ein launisches Meer lehrten die Menschen seit Anbeginn, sich mit den Naturgesetzen zu verbünden, statt sie zu bezwingen. Daraus entwickelte sich eine tiefe Verwurzelung in einem uralten Erdenbewusstsein. Die Liven haben sich politisch nicht formiert und nie mit der Faust gegen die Obrigkeiten aufbegehrt. Wohl deshalb ist diese Völkergruppe fast in Vergessenheit geraten.
Die Wurzeln der Liven reichen weit zurück in das Jahrtausend vor der christlichen Zeitrechnung, als die Menschen noch an die Natur und ihre Götter glaubten. Vermutlich hat sich die livische Naturreligion parallel zur keltischen langsam durch die Jahrhunderte entwickelt. Sie hatte einst eine Blütezeit erlebt und sollte dann mit dem Kreuzrittertum ausgerottet werden. Dieses düstere Kapitel der Kirche ist bekannt. Doch sind die Traditionen von Generation zu Generation im Geheimen weitergereicht worden. Ausgestorben sind sie nie ganz. Und als Ende des 19. Jahrhunderts die Gefahr der Inquisition gebannt war, war es möglich, die alten Gebräuche unter dem Deckmantel der Folklore wieder öffentlich auszuleben.
Trude lernte im Folkloreensemble nicht nur die Bräuche und die Tänze der Liven, sondern auch das Nähen und Besticken der Trachten. Trude stellte sich jedoch nicht sehr geschickt an. Auf ihrem schwarzen Schultertuch waren die krummen Kreuzstiche zum Glück nur von Nahem zu erkennen.
Nach und nach blickte Trude hinter die äußere Fassade der Folkloregruppe. Getanzt wurde nicht nur zu Kirchweih oder zur Wiederwahl des Bürgermeisters, sondern im Geheimen zu sogenannten „hohen Zeiten“. Geweihte Tage, wie beispielsweise die Sonnenwenden, regelten den Jahreskreis in heidnischen Traditionen. Livonia hielt heilige Messen von Tanz und Gesang umrahmt ab. Trudes Nackenhaare stellten sich auf, als sie davon hörte. Sie wollte doch nur tanzen und mit Gottes- oder Naturanbetung nichts zu tun haben. Denn sie war mit Gott immer noch nicht im Reinen und die Vorstellung, in die Fänge eines Geheimbundes geraten zu sein, war ihr zuwider. Doch Lena, die ihr wie immer einen Schritt voraus war, überredete Trude, an einer Zeremonie teilzunehmen und sich ihr eigenes Bild zu machen.
Es kostete Trude viel Überwindung, sich in den Kreis der Menschen einzureihen, die sich Hände haltend um einen Baum versammelten. So wie lauter Trommelwirbel vom Spieler als ekstatisch und von außen unerträglich erlebt wird, kam ihr dieser religiöse Kreis suspekt vor. Dieselben Freunde, die ihr sonst vergnügt bei Tanz und Musik begegneten, erkannte Trude jetzt in Stille mit geschlossenen Augen dastehen. Es passte nicht mit dem Bild zusammen, das sie von ihnen hatte.
Die Auffassung, dass die prächtige Linde, um die der Menschenkreis gebildet wurde, eine eigene Seele haben sollte, fand Trude absurd. Der Zeremonienmeister sprach: „Himmel und Erde haben ein eigenes Bewusstsein. Der Baum verbindet sich nun durch Krone und Wurzeln mit diesem göttlichen Sein. Lasst uns unsere Herzen und unseren Geist füreinander und den heiligen Geist der Schöpfung öffnen und uns in Liebe mit ihm verbinden. Wir sind nicht getrennt.“
Trude fand albern, was sie hörte. Doch Lena und dem Tanzen zuliebe ließ sie sich auf das Kinderspiel ein.
„Hüpfen wir halt um einen Baum herum“, dachte sie spöttisch. Sie reihte sich in den Kreis ein, ergriff die Hände der Nachbarn und schloss die Augen wie alle andern. Trude zügelte ihre Ungeduld und zwang sich, entspannt zu atmen. Das gleichmäßige Ein- und Ausatmen, die stoische Ruhe, die nur vom Säuseln der Blätter unterbrochen wurde, beruhigten Trudes inneres Gezappel. Dann spürte sie ein sanftes Kribbeln in den Handinnenflächen, das immer stärker wurde und über die Arme aufstieg und ihren Körper mit einer warmen Welle kitzelte. Es fühlte sich für Trude nicht bedrohlich, im Gegenteil beglückend an. Sie streckte sich, die Augen immer noch geschlossen, durch und öffnete ihren Brustraum, damit sie noch freier atmen konnte. Die Wärme breitete sich in der Herzgegend aus und schien aus ihr herauszuströmen. Die Grenze zwischen ihr und den anderen löste sich auf, Trude fühlte sich in einem schwerelosen, schwebenden Zustand, der sie mit unbändiger Glückseligkeit erfüllte.
Es war wie ein kurzer Moment der Erleuchtung. Sie wurde wie von einem Blitz getroffen. Trude wurde von einer starken Kraft erfasst. Eine Energie von Liebe, Verbundenheit und Einssein mit allem. Es gab kein sie und die andern mehr. Sie befand sich in einem Zustand von allem und nichts. Sie wurde zum Baum und zum Himmel, sie war der Grashalm und die Nachbarin. Alles gleichzeitig. Es war, als hätte sich ihre Schädeldecke zum Himmel geöffnet und alles Wissen dieser Welt strömte durch sie hindurch und könnte von ihr jederzeit abgerufen werden. Es gab keinen Anfang und kein Ende. Und es fühlte sich an, als sei sie Schöpfer und Schöpfung in einem. Trude fühlte sich allmächtig und nichts. In dem Moment erkannte Trude, dass sie und alle Schöpfung aus dieser Quelle entsprungen waren. Trude konnte die Tränen vor Überwältigung nicht zurückhalten.
„Das musste GOTT sein!“
-----------------
Nach dieser Initiation nahm Trude regelmäßig an den Naturzeremonien teil. Es gab keine priesterliche Hierarchie. Abwechselnd gestalteten die Teilnehmer die Andachten selbst. Jedem wurde die Fähigkeit, einen feierlichen Rahmen zu gestalten, zugetraut. Der Kreis, der immer am Anfang und Schluss gebildet wurde, symbolisierte die Gleichheit aller Anwesenden. Es wurde großer Wert darauf gelegt, denn im Kreis konnte die spirituelle Energie besser gehalten werden.
Der Inhalt der Messe wurde den Jahreszeiten oder anderen Themen angepasst. Immer wurden vom jeweiligen Zeremonienmeister die Elementarkräfte (Wasser, Erde, Luft, Feuer und Äther) gewürdigt und eingeladen, die feierliche Handlung zu unterstützen. Mit den Elementen wurden Gebete, Opfer, Wünsche zum göttlichen Empfänger transportiert. Sie übten sich darin, die Wesenheiten der Erdgeister zu erspüren und mit ihnen zu kommunizieren.
Trude erkannte, dass der Kirchengott des Vaters zwar ihren Kopf beschäftigte, aber nie ihre Seele berührte. Nach einem Kirchenbesuch fühlte sie sich stets getadelt und zurechtgewiesen. Der Gott der Kirche hatte sie als Frau geduldet, zweifellos aber als Schande der Schöpfung betrachtet. Mit dieser neuen, sinnlichen Annäherung an die Schöpfung und deren Ausdruck über die Natur bekam Trude ein Verständnis für das Zeitlose. Sie liebte es, sich bei einem Ritual zu sammeln und zur Ruhe zu kommen. Sie liebte das Eingebundensein in der Gruppe. Das Unspektakuläre und die Schlichtheit der Treffen fühlten sich gut an. In der Gemeinschaft Livonia war Trude willkommen. Sie war ein Kind der Schöpfung wie alle andern. Es war ein spirituelles Heimkommen. Ein Heimkommen in den Schoß von Mutter Natur, Vater Himmel und zu Geschwistern – den Tanzfreunden. Trude fühlte sich zugehörig.
1925 Die Liebe
T rudes Leben war rund und ganz. In Olgas Obhut hatte sie Arbeit, Schutz und Nahrung. Bei Livonia bekam sie Spiel, Zugehörigkeit und Spiritualität. Der Vater und sein Gott hatten keine Macht mehr über sie. Trude war mit ihrem Leben im Reinen und konnte sich nicht im Entferntesten vorstellen, dass ihr Leben noch reicher werden könnte.
Am Samstag, dem 4. Juli 1925, warteten alle gespannt auf den neuen Geigenspieler, der in der Kapelle die Lücke schließen sollte. Valentin betrat das Lokal, schaute sich im Raum um und schritt selbstbewusst auf die Musiker zu. Seine gepflegte Erscheinung, seine wohlgeformten Gesichtszüge und die schlanken Hände gefielen Trude auf Anhieb. Im Schutz der Gruppe beobachtete sie ihn und spürte, dass der Neue ihren Herzschlag beschleunigte. Nachdem die Musiker ihn mit einem Handschlag begrüßt hatten, nahm Valentin auf dem zugewiesenen Stuhl Platz, sortierte die Noten und blickte sich abwartend im Raum um. Seine Augen streiften die Tänzer. Seine und Trudes Augen trafen sich und in dem Moment war es besiegelt. Es war ein Wiedererkennen eines vor langer Zeit an einem vergessenen Ort gegebenen Versprechens. Eine innere Stimme sagte Trude, dass sie ihn kannte und dass sie und Valentin zusammengehörten.
Nach der Probe wartete sie auf Valentin. Sie war nicht aufgeregt, sie fühlte auch keine Scham. Es schien folgerichtig, auch wenn sie bis dahin kein einziges Wort gewechselt hatten. Er gesellte sich zu der wartenden jungen Frau, als sei es das Selbstverständlichste auf der Welt. Von Beginn an waren sie sich vertraut. Sie redeten, sie vergaßen alles um sich herum.
Trude erfuhr, dass Valentin aus Berlin stammte. Er war angehender Ingenieur und beabsichtigte, an einer ausländischen Fakultät sein Studium zu vertiefen. Zur Wahl hatten Danzig, Tartu oder Leningrad gestanden. In Polen und Russland hätte er Schiffsbau belegen können, was sein Vater ihm nahegelegt hatte. Tartu war der Bauchentscheid von Valentin, den er gegen den Wunsch seines autoritären Vaters gefällt hatte.
„Ich weiß jetzt, warum meine innere Stimme gegen alle Argumente für Tartu sprach. Ich weiß jetzt, dass ich richtig entschieden habe. Der einzige Grund, warum ich nach Tartu gekommen bin, ist, dich hier wiederzutreffen“, kokettierte Valentin.
Eine Woche später küssten sie sich unter einem blühenden Bauernjasmin. Zwei Wochen später verlobten sie sich. Die beiden waren sich ihrer Sache sicher. Trude war mit siebzehn noch nicht volljährig und so planten sie, ein Jahr später, im Sommer 1926, zu heiraten. Trudes Vater war heilfroh, dass sie so schnell unter die Haube kam. Vater sah in Valentin einen unerwarteten Glücksfall und gab seinen Segen, bevor der Bräutigam oder seine Familie es sich anders überlegen würden.
Mit einem Telegramm kündigte Valentin seinen Eltern die Verlobung und den bevorstehenden Besuch an. Er wollte, wie es sich gehörte, seine Braut vorstellen. Trude konnte nächtelang kaum schlafen. Das Leben überwältigte sie und übertraf ihre kühnsten Zukunftsträume. Erst die Verlobung, dann auch noch eine große Reise! Sie würde Deutschland und Berlin kennenlernen. Die Weltstadt war die populärste Kulturmetropole der Zwanzigerjahre. Und noch nicht einmal Lena, für die alles möglich war, hatte Berlin gesehen.
Lena borgte ihrer Freundin zwei feine Kleider und gab ihr wertvolle Instruktionen, worauf Trude achten sollte. Valentin kam aus gutem Haus. Der erste Eindruck in der feinen Gesellschaft musste sitzen. Während der beschwerlichen Reise war Trude ständig darauf bedacht, ihre Röcke nicht zu beschmutzen. Sie reisten in einer Kutsche auf staubigen Straßen bis Riga und mit der Eisenbahn bis nach Berlin.
Valentin unterwies sie während der langen Fahrt in die Gepflogenheiten der gehobenen Kreise. Insgeheim war Trude der deutschen Wehrmacht dankbar, dass sie während der Besetzung Deutsch gelernt hatte. Sie würde sich mit den zukünftigen Schwiegereltern in deren Muttersprache unterhalten können. Trude fühlte sich gerüstet.
Doch die Verlobten blieben keine Nacht.
Valentins Vater und Mutter empfingen sie zum Nachmittagstee. Vom Dienstpersonal wurden sie zu den Herrschaften geführt, die sie distanziert und förmlich begrüßten. Valentin hatte seine Eltern mehrere Monate nicht gesehen und küsste Mutters Hand und siezte die Eltern, was Trude befremdete.
„Was für eine Gefühlsarmut! Wenn ich meinen einzigen Sohn so lange nicht gesehen hätte, würde ich ihn ans Herz drücken und abküssen!“
Trude wurde in die Teestube gebeten, während Valentin von seinem Vater zu einem Männergespräch unter vier Augen in ein angrenzendes Zimmer geführt wurde. Die Mutter richtete keine einzige Frage an Trude. Das Gespräch erstarb, als Anreise und Wetter durchgenommen waren und die Gastgeberin erkannte, dass das Bauernmädchen von weiteren Konversationsthemen der Damengesellschaft keine Ahnung hatte. Trude begriff, dass die Schwiegermutter ihr nur aus Höflichkeit Gesellschaft leistete, bis die Herren ihre Unterredung beendet hatten. Oft schaute sie an der jungen Frau vorbei auf die Pendeluhr in ihrem Rücken, räusperte sich und stellte die Teetasse mit einem abgespreizten kleinen Finger sorgsam auf den Unterteller zurück.
Aus dem Nebenraum drang kein hörbares Wort. Es war unheimlich still und Trude schwante, dass sich die Audienz beim Vater nicht zu ihren Gunsten entwickelte. Es fiel dem Mädchen schwer, die ihrem Naturell entsprechend zappeligen Beine ruhig zu halten. Sie biss sich unentwegt auf die Unterlippe, wohlbedacht, nichts Unschickliches aus ihrem Mund zu entlassen. Wenn sie mit Olga beim Kartoffelschälen saß oder sie miteinander im Garten Unkraut zupften, plapperte sie frei von der Leber über Valentin. Auf jede kleine Anekdote von den Frischverliebten antwortete Olga mit einem herzhaften Lachen oder mitfühlenden Nicken. Bei ihr musste sie kein Wort abwägen.
Bei seiner Mutter riss sie sich zusammen. Nichts wollte sie von Valentin und sich preisgeben. In dieser bangen Stunde, in der ihre gemeinsame Zukunft mit Valentin ausgehandelt wurde und sie sich vor dem steifen Richter in Gestalt seiner Mutter um Form bemühen musste, war ihre Vorstellungskraft wie so oft die Rettung. Als alles gesagt war, klinkte sie sich im Geiste aus. Der Körper schützte Präsenz vor, doch sie ging in Gedanken auf Wanderschaft.
Sie schwelgte in der Erinnerung an den ersten innigen Kuss, an seine forschen Hände auf ihrem Busen und zwischen ihren Beinen. An ihre Verwegenheit, als sie seinen behaarten Schoß und seine Männlichkeit zum ersten Mal erforschte. Trude dachte daran, wie Valentin von seinen Zukunftsplänen erzählte, in denen sie neben ihm die Hauptrolle bekam. Sie wusste um seinen Ekel vor Spinnen oder seinen Tick, sich ständig die Augenbrauen mit Spucke glatt zu streichen. Ihr Liebster wusste, dass sie gerne las, und belieferte sie mit Büchern aus der Universitätsbibliothek. Valentin war längst nicht mehr Mutters Söhnchen, er war bereits zum feindlichen Lager, seiner neuen Verbündeten, übergelaufen. Trude wusste mehr über ihn, als seiner Mutter lieb war.
Siegesgewiss sah Trude dann Valentins Rückkehr in den Salon entgegen. Die Tür zum Nebenzimmer öffnete sich. Der Qualm verriet, es war viel geraucht worden. Die Verlobte hatte Valentin noch nie mit einer Pfeife oder Zigarre gesehen. Schon daran hätte sie erkennen müssen, dass sich das Blatt gewendet hatte. Vater rief das Dienstmädchen und bat es, Valentin und Trude hinauszugeleiten. Valentin hielt den Kopf gesenkt und vermied es, Trude anzuschauen. Das Unheil war zu erahnen.
Reserviert verabschiedeten sich Valentins Eltern von dem jungen Paar.
Trude betrat dieses Haus nie mehr.
Vor der Eichentür bat Valentin Trude, umgehend nach Tartu zurückzureisen, und überreichte ihr das Geld für die Fahrt. Er küsste sie flüchtig auf die Wange und wandte sich ab, um ins Haus zurückzugehen. Trude fiel aus allen Wolken. Sie wollten doch vier Tage in Berlin bleiben! Alle Sehenswürdigkeiten standen auf dem Programm: das Brandenburger Tor, der Reichstag, der Botanische Garten! Und er wollte ihr einen großen Wunsch erfüllen: mit Straßenbahn quer durch die Stadt zu fahren. Jetzt schickte er sie einfach weg. Trude ergriff Valentins Hände, suchte seine Augen. Er drehte den Kopf weg, doch Trude blieb nicht verborgen, dass er mit den Tränen kämpfte.
„Valentin, was ist vorgefallen?“, bettelte Trude.
Ihr Verlobter richtete sich auf, wurde steif, nahm eine Haltung an, die sie an ihm noch nie erlebt hatte. „Es ist einfach so!“, fuhr Valentin sie barsch an, machte auf dem Absatz kehrt, schritt fluchtartig durch die Tür, die mit einem dumpfen Schlag ins Schloss fiel.
Trudes Welt stürzte zusammen. Sie waren auf dem Sprung, die Welt zu erobern. Sie wollten nach Valentins Studium in Deutschland wohnen, später Europa bereisen. Sie waren hoffnungsvoll, dass Trude auch als Frau eine weiterführende Schule besuchen konnte. Sie hatten Amerika in Betracht gezogen. Als Ingenieur stand ihm die Welt offen. Und nun war Trude mit einem Schlag die Tür zur Freiheit vor der Nase zugeschlagen worden. Sie hatte an diesem unheilvollen Nachmittag in Berlin nicht nur ihre große Liebe, sondern auch die Eintrittskarte in eine verheißungsvolle Zukunft verloren. Ein Fiaker kutschierte Trude zum Bahnhof. Die Eisenbahn brachte sie nach Riga. Sie kehrte als leere Hülle, als hätte sie ihre Seele auf dem Weg verloren, nach zwei Tagen und zwei Nächten Odyssee in Olgas Schoß zurück. Doch weder Olga noch Lena vermochten Trude zu trösten. Sie verstanden Valentins Wandlung genauso wenig wie Trude. Denn was immer auch sein Vater zu ihm gesagt haben mochte, zumindest hätte er den Anstand haben müssen, sich zu erklären.
Erst wollte Trude nicht mehr leben. Sie hatte sich alle Varianten ausgemalt, wie es am schmerzfreisten vonstatten gehen könnte. Dann baumelte sie zwischen blinder Wut und bodenloser Traurigkeit. Aber das Schlimmste kam danach: eine graue Gleichgültigkeit. Sie ging nie mehr zum Tanzen, nahm an keiner Zeremonie mehr teil. Sie mied die gemeinsamen Freunde. Ihre Lebensfreude und ihr Glück hatten sich davongeschlichen. Nur Olga und Lena ließ Trude manchmal zu sich durchdringen. Und Olgas Kleinste. Mit Malena hatte sie schon immer eine besondere Zuneigung verbunden. Das Mädchen fand Trude überall. Wenn sie sich zwischen dem Vieh ins Stroh setzte, weil sie von einer Welle der Sinnlosigkeit übermannt wurde, hüpfte die Kleine leichtfüßig zu ihr und schob ihre kleinen Finger zwischen ihre, die sich zu einer bitteren Faust gekrümmt hatten. Wortlos saßen sie so zwischen den warmen Leibern der Tiere. Dies tröstete Trude mehr als alle gut gemeinten Worte der Erwachsenen.
Es war die kleine Malena, die Trude vor dem leisen Sterben bewahrte.
Nach einem Jahr gab es Tage, an denen Trude es schaffte, nicht an Valentin zu denken. Mit der Zeit verflüchtigte sich die Frage nach dem Warum. Doch was sie weder wegreden, wegschließen noch verfluchen konnte, war diese starke Emotion, die sofort im Brustraum entbrannte, sobald sie nur einen Gedanken an Valentin verlor. Das Herz liebte einfach weiter. Und jedes Mal, wenn sie es zuließ, klaffte unmittelbar auch diese hässliche, wütende Trauer um die betrogene Zukunft auf. Trude wurde müde vom ständigen Aufbäumen der heftigen Gefühle und sie begann erfolgreiche Strategien zu entwickeln, alles zu umschiffen, was sie an ihren ehemaligen Verlobten erinnern konnte.
Trude schickte sich in ihr Leben und verrichtete die Arbeit. Antriebslos. Bei der Morgentoilette sah ihr aus dem Spiegel eine verhärmte, ausgemergelte Jungfer entgegen. Unerträglich wurde sie sich. Einmal schleuderte sie den Spiegel zornig an die Wand. Die Erleichterung war allerdings nur von kurzer Dauer.
Von Livonia wandte sie sich auch ab. Unerträglich wurde ihr das Gegurre und Gebalze der jungen Menschen. Mit Männern wollte sie sowieso nie mehr etwas zu tun haben. Lena hatte zu Beginn Versuche angestellt, Trudes Mauer von Gram zu durchbrechen. Doch irgendwann gab sie auf. Sie hatte, wie Trude zu Ohren kam, einen Jeronim geheiratet. Die Enttäuschung, dass sie nicht eingeladen war, hielt nur kurz. Auch diese lästige Emotion schüttelte Trude mit einem müden Achselzucken ab.
Ganz nach Olgas Vorbild verinnerlichte Trude, dass es keinen Mann für eine gute Existenz brauchte. Olga, die Mädchen und sie waren eine eingeschworene, fast klösterliche Frauengesellschaft. Was sie vom Kloster unterschied, war, dass sie ihr Dasein keinem Gott zollten. Die Naturzeremonien, die Trude die Jahre davor so viel bedeutet hatten, hatte sie ersatzlos aus dem Leben gestrichen. Sie traute weder einem autoritären Kirchengott noch Naturgeistern mehr über den Weg. Die einzige verlässliche Konstante in ihrem Leben war Olga. Sie gab Trude Nahrung, Arbeit und Schutz. Olga wusste im richtigen Moment zu schweigen und wann es Zeit war, zu feiern und zu lachen.
Olga war das Flaggschiff für ihre Mädchen und Trude. In ihrem Kielwasser war es möglich, allem die Stirn zu bieten. Der Hof warf genug ab, um alle zu ernähren. Trudes Anwesenheit und tatkräftige Hilfe war willkommen und damit war ihre Existenz auf Jahre hinaus garantiert. An dieser Sicherheit begann sie ihr Leben auszurichten. Und allmählich Valentin zu vergessen.
1929 Eine zweite Chance
Es lag sehr viel Schnee im März 1929. In anderen Jahren war zur gleichen Zeit schon das eine oder andere Schneeglöcklein auszumachen. Wie jeden Morgen in der Früh schickte sich Trude an, das Vieh zu versorgen und zu melken. Der Pfad zum Stall zwischen den kniehohen Schneemauern war schmal. Das hungrige, fordernde Rufen der Tiere mahnte sie zur Eile. Bei jedem Schritt knirschte es unter ihren schweren Stiefeln. Sie rechnete aus, ob das Heu bis zum ersten Weidegang ausreichen würde oder ob sie zukaufen müssten. Da der Winter hart und lang war, würde es nicht einfach sein, Tierfutter bei den umliegenden Bauern zu beschaffen. Also würde Trude sparsamer füttern müssen.
Nach dieser Schlussfolgerung blickte Trude auf und erschrak. Valentin lehnte sich seitlich an den Rahmen der Stalltür, schaute verlegen abwartend in Trudes Richtung. In seinen Augen blitzte etwas Schelmisches. Er wirkte gereift und attraktiver denn je. Trude glitt der hölzerne Melkkübel aus den Händen.
Als wäre nichts vorgefallen, erfrechte er sich, hier einfach aufzutauchen. Mit dieser Möglichkeit hatte Trude nie gerechnet. Alle anderen Optionen eines Wiedersehens hatte sie sich ausgemalt. Als die Wut noch ganz frisch gewesen war, hatte sie in Erwägung gezogen, nach Berlin zurückzufahren, ihn zur Rede zu stellen. Dann hatte sie gehofft, dass sie sich in Tartu über den Weg laufen würden, was naheliegend schien. Von Karel erfuhr sie jedoch, dass Valentin nach Leningrad umgezogen war, um dort sein Studium zu beenden. Er hatte sich seine Habseligkeiten nachsenden lassen. Damit wurde ein zufälliges Aufeinandertreffen unwahrscheinlich. So sehr sich Trude eine Aussprache wünschte, so sehr fürchtete sie sich davor und demzufolge war sie erleichtert, sich in Tartu frei bewegen zu können.
Trude rang um Fassung. Den ersten Impuls, ihm vor Freude um den Hals zu fallen, unterdrückte sie. Sie tastete nach einem Gegenstand, den sie ihm entgegenschleudern konnte, um ihn ihre plötzlich in der Brust explodierende Wut spüren zu lassen. Zum Glück hatte sie den Melkkübel nicht im Blickfeld.
„Was fällt dir ein, mein Leben erneut über den Haufen zu werfen!“, dachte Trude, brachte aber keinen Laut heraus.
Sie hatte keinen Schimmer, was sie tun sollte. Sie hatte keinerlei Erfahrung mit solchen Situationen. Trude wusste nur, dass sie um keinen Preis wieder in den Abgrund, den sie gerade erst überwunden hatte, zurückwollte. Nein! Sie wollte nicht mehr lieben, nicht mehr hassen und auch nicht mehr trauern. Sie wollte einfach nur ihren hart erkämpften Seelenfrieden bewahren.
Das anhaltende Geplärre des Viehs lockte Olga aus dem Haus. Sie kam, um nach dem Rechten zu sehen, und fand Valentin und Trude in der Morgenkälte regungslos verharren. „Dass du dich hertraust, Valentin! Ich dachte, der Teufel hätte dich längst geholt! Wenn du jetzt nicht eine anständige Erklärung zuwege bringst, sollst du für immer in der Hölle schmoren! Was hast du dir dabei gedacht, Trude so sitzen zu lassen? Weißt du, ich hatte einmal eine hohe Meinung von dir!“
Olga sah Trude aufmerksam an, versuchte, in ihrem Blick zu ergründen, ob sie weiblichen Schutz oder eine Ermutigung zur Aussprache bräuchte. Als sie bei ihrem Schützling kein klares Signal erkennen konnte, weil Trude immer noch erstarrt dastand, dachte sie einen Moment lang nach, was als Nächstes zu tun wäre. Sie schien in jeder Lebenslage in ihrem unsichtbaren Kompendium Rat nachzuschlagen und zu finden. „Ich schau nach den Kühen. Geht und redet, ihr zwei!“
Wenn Olga das vorschlug, wird es wohl seine Richtigkeit haben. Einmal mehr war Trude froh um Olgas Pragmatismus. Und sie war sich ihrer Rückendeckung gewiss, wie auch immer die Unterredung mit Valentin ausgehen würde.
Trudes Herz hämmerte. Es war kaum auszuhalten. Doch verlieh ihr das wilde Herzgetöse neuen Mut, der ihre erstarrten Glieder zum Leben erweckte. Plötzlich wusste sie, was zu tun war. Mit einer Kopfbewegung deutete sie Valentin an, ihr ins Haus zu folgen. In der warmen Küche bat sie die Mädchen, ihrer Mutter im Stall zu helfen, damit Valentin und sie ungestört reden konnten. Die Kinder betrachteten den schönen Fremden neugierig und erfassten rasch die Bedeutsamkeit des Moments. Sie folgten Trudes Bitte anstandslos.