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Mit gesenktem Kopf und hängenden Schultern schickte sie sich an, den Christkindlmarkt zu verlassen, da stellte sich ihr unerwartet jemand in den Weg. Bedrohlich baute sich der Imam auf und feindete sie an.
„Wieso verfolgst du mich?“, fragte er sie auf Arabisch.
Seine Stimme klang spitz und beängstigend, und er schaute sie von oben bis unten an. Es entging ihm nicht, dass sie ihren Tschador nicht mehr trug.
„Das tue ich nicht. Ich ... ich bin hier verabredet mit einer Freundin.“ Mit fester Stimme versuchte sie, zu überzeugen. Dabei führte sie ihre Hand, in der sie immer noch ihr Handy hielt, heimlich hinter ihren Rücken, um es in der Hosentasche verbergen zu können, aber es war zu spät.
„Und wofür benötigst du das Handy?“, fragte er wütend, packte ihren Arm, riss ihn nach vorne und entwand ihr das Gerät.
Ihr wurde heiß, sie spürte, wie etwas Warmes von ihrem Magen in ihre Kehle hochschoss und ihr Herz so stark im Hals zu schlagen begann, dass sie das Gefühl hatte, an ihrem eigenen Herzen zu ersticken. Sie sprach kein Wort.
Bevor der Imam sie packen konnte, drehte sie sich jedoch blitzartig um und rannte durch die Seitenstraßen, weg von der Musik und den Lichtern, bis ihre Lunge zu platzen schien.
Sie konnte ihren Verfolger abhängen, aber er hatte ihr Handy. Die nächste Katastrophe. Sie war am Boden zerstört. Nora wischte sich erst eine Haarsträhne und dann eine Träne aus dem Gesicht.
Mutlos war sie und ohne Idee, wie sie Siebert diesen Misserfolg erklären könnte, aber sie hatte eine schreckliche Ahnung, was auf sie zukommen würde.
Nora hetzte mit ihrem Mountainbike, welches sie am Präsidium abgestellt hatte, nach Hause und betrat ihre Dachgeschosswohnung. Vom Klappern der Schlüssel geweckt, hob Isa kurz den Kopf und klopfte vor Freude mit dem Schwanz gegen ihre Hundedecke. Als Erstes legte Nora den Wohnungsschlüssel so auf den Flurtisch, dass das Bild des Anhängers nach oben zeigte und über dem Schlüssel zum Liegen kam. Dann kontrollierte sie, ob ihre aufgehängten Jacken im richtigen Abstand an der Garderobe hingen. Erst danach wandte sie sich ihrer Labradorhündin zu, die ungeduldig während Noras Ordnungsphase schwanzwedelnd um ihre Beine herumstrich und ihr mehrfach mit der noch vom Schlaf warmen Schnauze gegen das Bein stupste.
„Warte, Isa, noch einen Moment.“
Nora kramte ihr privates Handy aus der untersten Schublade ihres Schreibtisches hervor und schrieb per WhatsApp an Siebert:
Scheiße, Imam hat mein Handy. Ahmed verloren. Morgen um 10, wie immer.
Sieberts vielfache Versuche, Nora auch auf ihrem privaten Handy zu erreichen, blieben erfolglos. Sie hatte es ausgestellt.
Nora beugte sich zu Isa herab, und die Hundedame ließ sich zufrieden auf dem Rücken liegend kraulen. In diesem Moment war Nora erleichtert und vergaß für einen kurzen Augenblick die eben erlebte Katastrophe. Sie fuhr immer wieder mit der Hand durch Isas glänzendes Fell und genoss die beruhigende Wirkung. Nora legte sich zu ihr, vergrub ihren Kopf in ihr Fell und genoss den Hundegeruch, der Isa umgab, wenn sie geschlafen hatte. Am scheensten is’, wenns schee is’, dachte sie.
***
Der Duft von frisch gebackenen Franzbrötchen stieg Nora am nächsten Morgen in die Nase, als sie die Lieblingsfrühstückskneipe von Max Siebert betrat. Das einzige Lokal in München, welches selbst gebackene Franzbrötchen anbot. Siebert saß auf einem knallroten Sessel und wartete auf sie. Als er Nora entdeckt hatte, winkte er ihr zu.
Sie grüßte zurück und passierte einen an der Wand hängenden Spiegel. Ganz nah trat sie heran, kontrollierte ihr in Mantel, Mütze und dicken Schal eingehülltes Äußeres und strich dreimal über ihre im scharfen Bogen geschwungenen dichten Augenbrauen. Sie setzte sich an Sieberts Tisch und bestellte sich einen Cappuccino.
Sieberts Miene war so finster, dass sie kein Wort herausbrachte.
Max Siebert hatte rötliche Haare, eine sportliche Figur und bei anderen Anlässen freundliche Augen. Überdies trug er einen Dreitagebart, den Nora sexy fand. Heute trug er allerdings einen grauen Anzug, was sie irritierte. Auch fand sie ihn in dieser Sekunde ganz und gar nicht sexy. Er unterbrach das Schweigen.
„Nora, ich musste noch nie einen Einsatz abbrechen, weil mein Ermittler verrücktspielt. Hast du denn gar nichts gelernt? Und wieso hast du den Kontakt abgebrochen?“
Natürlich kannte Nora den Grund. Aber konnte sie ihn verraten? Würde es nicht heißen, du musst etwas unternehmen, und sie wäre am Ende des Tages womöglich dienstunfähig? Das wollte sie auf keinen Fall und verbarg daher ihre Erkrankung und den daraus resultierenden Misserfolg erneut mit einer Lüge. Einen Fehler durch eine Lüge zu verbergen, heißt, einen Flecken durch ein Loch zu ersetzen, hatte einmal ein einflussreicher griechischer Philosoph gesagt. Der Spruch stand in Noras WhatsApp-Status. Aber die Wahrheit wollte Nora nicht sagen, und sie nahm in Kauf, dass alles noch schlimmer kommen könnte.
„Ich kann es dir nicht erklären, Max, vielleicht kein Netz?“ Sie zuckte mit den Schultern.
Ungläubig sah er sie an.
„Wie konnte der Imam dein Handy kriegen? Mann, was für ’ne Aktion. Echt, Nora!“
Siebert war misstrauisch und strich sich während der Befragung durch seinen rötlichen Bart.
Nora schilderte ihm kleinlaut, dass der Imam sie während der Verfolgung entdeckt und direkt angesprochen hatte.
„Ich bin verbrannt!“, stellte sie fest.
Er sah sie fassungslos an und konnte seine Wut kaum zügeln. Nora zuckte zusammen, als er mit der Hand auf den Tisch schlug.
„Du bist raus. Ich zieh dich ab!“
Sie starrte auf ihren unberührten Cappuccino und trank einen Schluck. Er war kalt.
„Ich bespreche das mit dem Leiter für operative Einheiten, und dann sehen wir weiter. Du musst aus dem Einsatz raus und zurück nach Hamburg.“
Nora schluckte, das hatte sie vermutet, aber das wollte sie nicht. Wollte sie auf keinen Fall. Sie liebte München und ihre Arbeit hier. All das sollte jetzt vorbei sein? Aber es hatte keinen Sinn zu opponieren. Die Entscheidung würde so fallen, das wusste sie. Nach Hamburg zurückzukehren, war aber immer noch besser, als in irgendeiner Abteilung als Dienstunfähige am Computerschreibtisch zu verenden.
„Wo wird man mich einsetzen?“
„Das weiß ich nicht“, erwiderte Siebert etwas freundlicher. „Ich bespreche das mit dem zuständigen Kollegen in Hamburg. Du hörst von mir. Wahrscheinlich geht es sehr schnell. München ist jetzt ein gefährliches Pflaster für dich. Du musst hier weg. Wenn ich mehr weiß, rufe ich dich an.“
Die Andeutung eines Lächelns huschte über sein Gesicht. Ihr quirliges Temperament hatte ihn fasziniert, aber er wusste, dass er über seinen schon länger gehegten Verdacht nicht würde schweigen dürfen.
„’tschuldigung“, sagte Nora, als sie mit einem Mann in einem passgenauen Nadelstreifenanzug an der Tür des Cafés zusammenstieß und dann ihren Weg fortsetzte. Beim Hinausgehen musterte der Mann im Anzug sie eingehend und stellte sich sodann an den Tresen. „Einen Espresso doppio bitte.“
Siebert stand auf und stellte sich neben den Mann.
„War sie das?“, fragte der Mann Siebert und leckte sich mit der Zunge die Crema von der Oberlippe.
„Ja.“
„Max, ich setze in Hamburg meinen besten Mann auf sie an. Schick mir bitte Personalbogen und Liste ihrer Vorlieben und Besonderheiten.“
Mit diesen Worten beendete Horst Röpke das kurze Treffen.
Als am Nachmittag des gleichen Tages Noras Telefon klingelte, lag sie mit Isa auf dem Sofa und nahm erstarrt die Anordnung von Max Siebert entgegen, dass sie bereits am nächsten Tag nach Hamburg zurückkehren müsse. In der Abteilung für vermisste Personen sollte sie anfangen, die der Abteilung für Kapitalverbrechen angegliedert war.
„Ich kümmere mich um die Formalien und deine Wohnung hier in München. In Hamburg kommst du vorläufig in einer Dienstwohnung unter.“
Die vielen Informationen prasselten auf sie ein.
„Nora, ich kann dich nur schützen, wenn du auf mich hörst und sofort das Nötigste packst. Heute Abend geht dein Zug.“
„Du denkst an meinen Hund, den muss ich doch mitnehmen?“, fragte sie mit letzter Kraft.
„Ja, mach dir keine Sorgen“, beruhigte er sie. Sie hörte zwar Max’ sanfte Stimme, aber nicht, was er sagte. Ihre Gedanken schweiften ab. Was sollte sie in Hamburg, was in dieser unsäglichen Abteilung? Es war ihr jetzt schon zuwider.
Kapitel 3
Montag 7.12.2015
Parlamentarischer Untersuchungsausschuss Hamburg
Gernot Melzer war sich seiner Rehabilitierung sicher. Endlich würde er die Gelegenheit bekommen, seine Position darzulegen. Heute würde er alles geraderücken können. Der Fahrer seiner dunkelblauen Limousine bog in die Straße hinter einem Rathaus ein. Als er die Fahrzeugtür öffnete, seinen Fuß gewandt auf die Straße setzte und seinen Kopf anhob, wirkte er mit jeder seiner einstudierten Bewegungen, mithilfe derer er sich aus dem Auto schälte, als würde er vor einem für ihn ausgerollten roten Teppich aussteigen und eine Schar an Fotografen erwarten. Wirklich gut aussehend war er nicht, denn durch den über Jahrzehnte genossenen Alkohol und die unzähligen Zigaretten schimmerte seine Haut gräulich-gelb und war aufgedunsen. Aber er war stattlich gewachsen und hatte trotz seiner über fünfzig Jahre noch volles, allerdings gefärbtes blondes Haar. Sein unsportlicher Körper steckte in einem dunkelblauen Anzug, der von seinem langjährigen Schneider angefertigt worden war. Gernot Melzer komplettierte seine Erscheinung mit italienischen spitzen Designerschuhen, die aus schwarz-weißem Schlangenleder gefertigt waren. Insgesamt wäre er zwischen den extravaganten Flaneuren auf der italienischen Luxusmeile der Via Monte Napoleone in Mailand nicht aufgefallen.
Angespannt blickten seine eisblauen Schlupfaugen durch seine Pilotenbrille auf sein Handgelenk, welches eine schwere Luxusuhr schmückte. Es war viertel vor zehn, und er fragte sich, wo sein Anwalt blieb. Immerhin bezahle ich dich gut, dann könntest du wenigstens pünktlich sein, ging es ihm durch den Kopf. Er kniff verärgert seine Augen zusammen, sodass sich drei tiefe Furchen zwischen den Augenbrauen bildeten.
Für zehn Uhr war Gernot Melzer durch das Gremium des Parlamentarischen Untersuchungsausschusses (PUA) geladen worden, und viel Zeit blieb nicht mehr, um noch einmal die wichtigen Details durchzugehen.
In Gedanken ging er seinen Werdegang durch, der im PUA sicher zum Thema gemacht werden würde. Er war vorbereitet. Sollen sie nur fragen. Gernot Melzer lächelte überlegen. Ja, er verdiente den Erfolg.
Mit viel Ehrgeiz, schneller Auffassungsgabe und Fleiß, wahrscheinlich auch mit einer ordentlichen Portion Skrupellosigkeit, hatte er ein expandierendes Bauunternehmen geschaffen und sich hohes Ansehen in der Hansestadt erworben. Wenn er zu einem Empfang im Rathaus oder einem anderen gesellschaftlichen Ereignis geladen worden war, freute sich Melzer wie ein Kind, das lange auf eine ersehnte Einladung zum Kindergeburtstag gewartet hatte. In der Tat, er war für den Wirtschaftsstandort Hamburg unentbehrlich. Ja, er war ein erfolgreicher hanseatischer Kaufmann mit hohem Ansehen. Überdies spendete er für das Kinderhospiz namhafte Summen, wirklich, man konnte ihm nichts nachsagen. Er lächelte stolz und selbstgefällig.
Melzer griff in seine Manteltasche und zündete sich eine Zigarette an, musste dann aber plötzlich einen Schritt zurücktreten, um dem an ihm vorbeirasenden Kurierfahrer auszuweichen, der ihm mit einem Schulterblick kopfschüttelnd bedeutete, dass er dem König der Straße im Weg gestanden hatte.
„Gehts noch, du Penner?“, entfuhr es Melzer, aber der Radfahrer fuhr unbekümmert weiter.
„Diese Kuriere sind echt die Pest“, schimpfte er leise vor sich hin und zog gierig an seiner Zigarette, während er nach seinem Rechtsanwalt Peter Dietrich Ausschau hielt, nicht ohne ihm zuvor eine eindringliche WhatsApp geschickt zu haben. Warten war nicht seine Stärke und schon gar nicht in diesem Moment. Wieder verdunkelte sich sein Gesicht, und er schob seine Zunge unter die Oberlippe.
Diese blödsinnige nervende Presseberichterstattung über die damaligen Zustände auf der Baustelle der Elbphilharmonie muss ein Ende haben. Und diese dauernden Lügen und unzutreffenden Verdächtigungen dieses Architektenbüros, allen voran Albert Berend, sind eine kaum zu überbietende Unverschämtheit.
Das Rufen seines Namens riss ihn aus seinen Gedanken. Sein Gesicht hellte sich auf, denn Rechtsanwalt Dietrich kam mit langen Schritten auf ihn zu und streckte ihm zur Begrüßung den Arm entgegen. Ohne seinen Handschlag zu erwidern, baute Melzer sich auf und maßregelte seinen Beistand für die Verspätung wie einen Pennäler, was dieser souverän an sich abprallen ließ. Durch Melzers angestrengte Mimik und seine aufgebrachte Sprache fiel sein immer leicht herabhängender rechter Mundwinkel noch mehr aus der Gesichtssymmetrie. Fasziniert betrachtete Dietrich das aus der Form geratene Mienenspiel, und ihm fiel ein, dass er mal ein Gespräch in Melzers Büro verfolgt hatte, in dessen Verlauf die Sekretärin und ihre Kollegin vermuteten, dass Melzer mal einen Schlaganfall erlitten haben könnte. Dietrich war demgegenüber davon überzeugt, dass diese Lähmung von einer tiefen Verletzung zeugte, über die Melzer nie würde sprechen können. Und damit sollte er recht behalten.
Auf dem Weg zum Sitzungssaal besprachen sie in der verbliebenen Zeit die kritischen Punkte und unterbrachen ihre Unterredung erst, als sie im Vorraum des Sitzungssaals Albert Berend, der federführend mit dem Entwurf der Elbphilharmonie und deren Baubegleitung betraut war, auf einer Holzbank sitzen sahen. Er war ein attraktiver Mann um die fünfzig, schlank und gut gekleidet. Mit frisch geschnittenen silbergrauen Haaren und einem kurz gestutzten Vollbart, der seine vollen Lippen wirkungsvoll einrahmte, wartete er auf seine Einvernahme.
Irritiert über Berends Anwesenheit, betrat Melzer in Begleitung seines Bevollmächtigten den Saal und war – wenn auch nur für einen kurzen Moment – sichtlich beeindruckt von den mit Holz vertäfelten Wänden und den quadratisch aufgestellten Tischen, an denen die Mitglieder des Parlamentarischen Untersuchungsausschusses Platz genommen hatten. Im Zentrum des Raumes an der hinteren Wand imponierte ein altarähnlicher Bereich, an dem die ehrgeizige, von den Mitgliedern des Ausschusses gewählte Vorsitzende Anne Fliege-Schulz thronte. Sie hatte kurzes, platinblondes Haar und trug eine rote Lesebrille auf der Nase.
„Herr Melzer“, gab sie kühl bekannt. „Wir mussten Ihre Vernehmung leider kurzfristig verlegen auf 11.30 Uhr, da der Zeuge Berend wegen eines Todesfalles an dem ursprünglich vorgesehenen Termin nicht erscheinen konnte und jetzt an Ihrem Termin vernommen werden soll. Bitte finden Sie sich um 11.30 Uhr wieder ein.“
Melzer verließ gemeinsam mit seinem Verteidiger wutschnaubend den Saal und machte sich gegenüber seinem Rechtsanwalt Luft. „Wegen des Architekten muss ich jetzt warten. Was glaubt die Kuh eigentlich, wer sie ist? Wegen eines Todesfalles kann er nicht erscheinen. Kann man da nicht mal vorher Bescheid geben?“
Plötzlich hielt er inne. Er wiederholte in Gedanken die Ausführungen der Vorsitzenden. „Wegen eines Todesfalles ...“
Sein Magen krampfte, und trotz der sich langsam ausbreitenden Hitze fröstelte er. Hastig verabschiedete er sich von seinem Verteidiger, verließ das Rathaus und trank in einer kleinen, unscheinbaren Bar um die Ecke trotz des frühen Tages ein Glas Weißwein. Dabei googelte er Todesanzeigen der letzten Tage. Während er in seinem Handy die Anzeigen hektisch durchblätterte, trank er immer wieder einen Schluck Wein. Als er das Glas ein weiteres Mal zum Mund führte, erstarrte er, das Glas an seinen Lippen haltend, als hätte er in diesem Moment vergessen, dass er trinken wollte. Er fixierte das Display seines Handys und las immer wieder den Namen, als könnte er auf diese Weise besser begreifen, dass die Mutter von Albert Berend gestorben war.
Mit leichter Verspätung kehrte er gegen 11.45 Uhr zurück zum Sitzungssaal, in dem alle Beteiligten am Tisch saßen und auf ihn warteten, auch sein Vertreter.
„Herr Melzer, ich hatte Ihre Vernehmung auf 11.30 Uhr anberaumt und nicht auf 11.45 Uhr. Ich darf Sie bitten, respektvoll mit meiner Zeit umzugehen und meine Ladungszeiten zu beachten.“
Gernot Melzer nahm nach der Ermahnung auf dem für ihn vorgesehenen Stuhl Platz.
Er spannte seinen gesamten Körper an und presste die Kieferknochen aufeinander. Leichtes Zucken an den Gesichtsknochen war trotz aller Beherrschung zu sehen, und auch die sich rötende Halsschlagader pulsierte. Schon jetzt hätte er der Vorsitzenden ins Gesicht springen können, er musste sich unbedingt zusammenreißen.
„Entschuldigen Sie bitte“, presste er hervor.
„Herr Melzer, wie Sie wissen, geht es darum festzustellen, wie es zu den katastrophalen Zuständen auf der Baustelle und zu der explosionsartigen Kostensteigerung gekommen ist. Insoweit ist es von Bedeutung, wie es überhaupt dazu kam, dass Sie im Rahmen des Vergabeverfahrens den Zuschlag bekommen haben. Worauf beruhte Ihre im Nachhinein hinfällige Kalkulation, die Ihnen aber den Zuschlag sicherte?“
„Frau Vorsitzende, lassen Sie mich zur Einführung zunächst erläutern, dass es für mich und meine Firma eine besondere Ehre ist, für die Hansestadt dieses großartige Projekt federführend bauen zu dürfen und ich nicht ohne Stolz berichten kann, dass wir uns der Fertigstellung mit großen Schritten nähern ...“
Die Vorsitzende unterbrach ihn: „Herr Melzer, bitte beantworten Sie meine Frage.“
Melzer bemerkte, wie die Wut in ihm hochstieg.
Es gefiel ihm nicht, wie sie mit ihm sprach, aber er wusste, wie wichtig es für sein Vorhaben war, nicht die Beherrschung zu verlieren.
„Frau Vorsitzende, die Planungen des Architekten Berend waren unvollständig, und so gut wir es konnten, haben wir eine belastbare Kalkulation vorgelegt.“
Die Vorsitzende widersprach und blätterte in ihren Akten.
„Nach den mir vorliegenden Unterlagen haben Sie keine den Bauplänen entsprechende Angebotskalkulation abgegeben. Mir liegen hier sogar Zeugenaussagen von Mitarbeitern Ihrer Firma vor, wonach Sie erklärt haben sollen, dass die Architektenpläne für einen seriösen Kostenvoranschlag völlig untauglich gewesen seien.“
„Mögen Sie mir freundlicherweise sagen, um wen es sich da handelt?“, versuchte Melzer Zeit zu gewinnen.
„Haben Sie nicht wegen der unvollständigen Planung damit rechnen müssen, dass Sie diese Kalkulation nicht würden halten können? Wieso haben Sie einen Kostenvoranschlag abgegeben, obwohl, wie Sie selbst gesagt haben sollen, die Pläne für eine Kostenkalkulation völlig ungeeignet waren?“
Sie schaute ihn erwartungsvoll an.
Melzer rutschte auf dem Stuhl hin und her und suchte nach einer Antwort. Er legte einen Aktenordner auf den Tisch und suchte sein erstes Angebot.
Die Vorsitzende setzte ihren Vorhalt fort, indem sie Melzer mit einem weiteren kritischen Aspekt seines Kostenvoranschlages konfrontierte.
„Immerhin hat unter anderem das am Vergabeverfahren beteiligte renommierte Unternehmen Hochtief AG eine deutlich höhere Kostenkalkulation abgegeben und demzufolge den Zuschlag nicht erhalten.“
„Ja, da müssen Sie die am Vergabeverfahren beteiligten Behördenmitarbeiter befragen, Frau Vorsitzende, da kann ich wenig zu sagen, auch wenn ich Ihnen da gerne weiterhelfen würde ...“, schmeichelte er und überlegte, ob er jetzt nicht doch etwas zu weit gegangen war.
Fliege-Schulz überhörte die unterwürfige Bemerkung und hielt ihm weiter vor: „Der Zeuge Albert Berend berichtete vorhin in seiner Vernehmung, dass er den Zustand auf der Baustelle unbeschreiblich chaotisch fand und Ihre Firma dies zu vertreten gehabt habe. So berichtete der Zeuge, dass Sie und Ihre Bauleiter täglich Nachforderungen gestellt und Mängellisten aufgestellt hätten. Eine Flut an Behinderungs- und Verzögerungsanzeigen sei von Ihnen erstattet worden.“
Melzer unterbrach die Vorsitzende und wurde laut. „Was hätten Sie getan, wenn Sie Baupläne ausführen sollen, die sich täglich ändern?“
Er haute mit der Faust auf den vor ihm stehenden Tisch und schaute in die Runde, um nach Verbündeten zu suchen. Er fand keine. Mit gesenktem Kopf wühlten die Abgeordneten entweder in Aktenbergen, machten Notizen oder versuchten, gegen die Langeweile anzukämpfen.
„Mäßigen Sie sich in Ihrem Ton, Herr Melzer, um meine Einschätzung geht es hier nicht“, entgegnete sie sachlich. „Erklären Sie mir, ob es zutrifft, wie der Zeuge Berend bekundet hat, dass Ihre Firma im Rahmen der Betonarbeiten am großen Saal derart gravierende Fehler gemacht haben soll, dass sowohl die Statik als auch die Akustik und somit das gesamte Bauprojekt gefährdet gewesen seien. Mehrere Hohlräume sollen in der Betonschale entdeckt worden sein, die die Klangisolierung hätten gefährden können.“
Melzer erkannte, dass sein Plan nicht aufging. Alle im Saal schienen sich gegen ihn verschworen zu haben. Offenbar positionierten sich alle für Albert Berend.
„Frau Vorsitzende, ich dachte, Sie sollen die Vorkommnisse aufklären, stattdessen scheinen Sie doch schon sehr festgelegt zu sein und suchen die Schuld einseitig bei mir ...“, versuchte er einen Gegenangriff, den die Vorsitzende jedoch abwürgte.
„Herr Melzer, Sie sollen sogar die Ultraschalluntersuchungen verweigert und die Vertreter des Architekten der Baustelle verwiesen haben.“
Melzer ärgerte sich, da er nicht gut genug vorbereitet war, um auf diese Details überzeugend einzugehen. Wenn er ehrlich war, hatte er ein wenig den Überblick verloren. Er drehte seinen Kopf zur Seite und schaute Hilfe suchend zu seinem Anwalt, der nun reagierte.
„Frau Vorsitzende, ich beantrage Einsicht in die Ihnen vorliegenden Unterlagen, aus denen sich ergeben soll, dass die Vertreter der Firma meines Mandanten sich auf der Baustelle in vorwerfbarer Weise verhalten haben.“
„Hierzu war doch schon ausgiebig Gelegenheit!“, entgegnete sie verwundert. „Konnten Sie sich nicht genügend vorbereiten, Herr Melzer? Sie wussten doch, dass es heute genau darum gehen würde.“
Melzer antwortete nicht und gab resigniert auf. Er hatte für den heutigen Tag verloren und nicht damit gerechnet, dass Albert Berend sich mit seinen Vorwürfen derart weitreichend Gehör verschaffen würde.
Fliege-Schulz beendete die Anhörung.
„Ich denke, so hat es keinen Sinn, wir sehen uns an einem weiteren Termin wieder, wenn Sie besser vorbereitet sind. Sie wissen jetzt ja, auf welche Themen es ankommt. Ich beende die Sitzung. Fortsetzungstermine werden bekannt gegeben“, spulte die Vorsitzende die Formalien ab.
Gernot Melzer verließ erhobenen Hauptes den Saal, aber innerlich brodelte es in ihm.
Er ließ das Blitzlichtgewitter der Presse über sich ergehen und flüchtete in die kleine Bar, in der er sich einen Cappuccino und ein weiteres Glas feinperligen Weißweins gönnte.
Melzer saß in einer uneinsehbaren Ecke des Lokals direkt vor einem kleinen Spiegel und las Zeitung. Von ihm unbemerkt betrat ein Pärchen das kleine Ecklokal und ließ sich an einem kleinen Tisch auf eine gemütliche rot gepolsterte Bank fallen. Sie gingen sehr vertraut miteinander um, und ihre auf dem Tisch liegenden Hände fanden immer wieder zueinander. Gegenüber ihrem Tisch drehte der Barista den Siebträger mit gekonnten Handgriffen aus der Espressomaschine, klopfte den alten Kaffeesatz in den Abschlagbehälter und bereitete Melzers Kaffee zu. Durch das Pfeifen der Maschine merkte Melzer auf und hob den Kopf. Er schaute direkt in den ihm gegenüber hängenden Spiegel und wurde auf das turtelnde Paar aufmerksam. Eine alberne, rote Lesebrille auf dem kleinen, runden Tisch zog seine Aufmerksamkeit auf sich. Als der Mann die Umarmung löste, erkannte Melzer die beiden Personen und wollte es nicht glauben. Architekt Albert Berend hatte gerade eine Frau mit platinblonden, kurzen Haaren umarmt, die Frau, die ihn, Melzer, herabgesetzt und Albert Berend bevorzugt hatte. Fliege-Schulz. Er starrte fassungslos auf das beschäftigte Paar und realisierte, dass er zu keinem Zeitpunkt eine faire Chance gehabt hatte.
Gernot Melzer musste feststellen, dass dieser PUA-Ausschuss eine Farce war, eingerichtet für die politische Galerie. Wieder und wieder fühlte er die glimmende Wut in sich aufsteigen. Ohne etwas von seinen Getränken angerührt zu haben, schob er den Stuhl nach hinten, stahl sich zum Tresen, bezahlte seine Rechnung und verließ das Café.






