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Lisa Fels hatte ihren Freund Denis Berend am Dienstagabend das letzte Mal gesehen und seitdem nicht mehr telefonisch erreicht. Während sich Michael Kloss in dem Drehstuhl wog, wandte er sich an seine Kollegen. „Entschuldigt, es hat länger gedauert als erwartet.“ Dabei schielte er besorgt zu Alexander und schien ein ungutes Gefühl zu haben.
Nora referierte über das weibliche Opfer Simone Maar, die in dem Edelpuff gearbeitet und mit der dort beschäftigten Lotta Kardinal eine Liebesbeziehung gehabt hatte. Dabei beschloss sie, zunächst Stillschweigen darüber zu bewahren, dass es sich bei Lotta Kardinal um ihre Schwester handelte.
„Die Identität der Frau konnte durch ihre Lebensgefährtin festgestellt werden. Des Weiteren haben wir mit der speziellen Superlite S 04 Blut gefunden und DNA extrahieren können. Es wurden alle Spurenträgerflächen mit der Lichtquelle illuminiert. In einem der Bordellzimmer sind wir an Wand und Boden fündig geworden. Die Untersuchung des Blutes hat ergeben, dass es sich um Mischspuren handelt, das Blut aber trotzdem Simone Maar zugeordnet werden kann.“
Nora machte eine Pause und schaute in die Runde.
„Wir haben somit den Tatort gefunden“, gab sie feierlich bekannt. Sie wandte sich mit erhobenem Arm dem zweiten Bild an dem Brett zu.
„Diese männliche Leiche haben wir anhand des Handys identifiziert, welches uns Lotta Kardinal überlassen hat. Es handelt sich bei dem zweiten Opfer um Manfred Bülow, der von seinen Kollegen als vermisst gemeldet worden war. Er war ein ehemaliger Mitarbeiter der Baubehörde, federführend zuständig für das Vergabeverfahren des Bauvorhabens Elbphilharmonie. Ein Einzelgänger, keine Familie, aber einen Haufen Geld auf dem Konto.“
Sie nickte Tanja Richter lobend zu.
„Dank Tanja sind wir auch bereits im Besitz der Kontounterlagen. Zwischen 2007 und 2015 gibt es Kontenbewegungen, kleinere Beträge, aber regelmäßig. Sowohl Einzahlungen als auch Abhebungen. Bülow hat regelmäßig Bareinzahlungen vorgenommen. Auch hob er regelmäßig monatlich 1500 Euro ab. Es ist aber unklar, von wem er das Geld bekommen haben könnte.“
Während sie zum Board lief, um ein neues Dokument aufzurufen, stolperte sie über ihre Füße. Es war ihr unangenehm, kurz errötete sie und setzte dann aber ihren Vortrag fort.
„Hier ein WhatsApp-Chatverlauf aus Bülows Handy von November 2015, der ist fundamental.“
Nora las die Nachricht vor, die übersät war mit gelb leuchtenden, lächelnden Emojis.
„Wir müssen uns noch mal treffen. Irgendwie, denke ich, sollte es angesichts der für Sie lohnenden Kostenexplosion noch mal eine Aufstockung geben, Smiley. Das ,Flow‘ ist teuer. Smiley.“
Nora wandte sich der Runde zu, die an dem langen Bürotisch saß und sich Notizen machte.
„Wir müssen herausfinden, wem diese Nachricht galt, aber ich mache mir da nicht viel Hoffnung.“
Nora setzte ihren Vortrag fort.
„Jetzt wird es spannend. Die Kontaktlinse, die wir bei der weiblichen Leiche gefunden haben, kann Frank Meister zugeordnet werden. Wir haben einen ,Spuren-Personen-Treffer‘ der DNA-Kartei des Bundeskriminalamtes erhalten. Polizeilich ist er bekannt als Zuhälter, und außerdem ist er mehrfach vorbestraft. 2005 wurde er aus der Haft entlassen. Und jetzt kommt der Clou: Er ist seit seiner Haftentlassung in der Sicherheitsabteilung von Gernot Melzer beschäftigt.“
Nora machte eine Kunstpause und sah erneut in die Runde. Die Blicke ihrer Kollegen waren weiterhin aufmerksam auf sie gerichtet.
„Gernot Melzer ist Inhaber der Baufirma Melzer. Er baut, wie ihr wisst, federführend die Elbphilharmonie. Das Konzerthaus ist kurz vor der Eröffnung. Versteht ihr? Der für das Vergabeverfahren des Bauvorhabens Elbphilharmonie zuständige Sachbearbeiter ist Stammkunde im ,Flow‘ und wird dort von Frank Meister abgeknallt. Es liegt auf der Hand, dass Bülow auf der Gehaltsliste von Melzer stand. Welche Rolle die Prostituierte spielt, ist noch unklar. Vielleicht war sie Zeugin und musste beseitigt werden?“
„Aber warum tötet Frank Meister Bülow nicht an einem Ort ohne Zeugen?“, gab Alexander zu bedenken.
„Ob dort noch weitere Zeugen waren, werden wir noch klären“, entgegnete Nora. „Wird sich finden. Möglicherweise hatte er mit ihr eine andere Rechnung offen? Immerhin ist oder war er ja im Zuhältermilieu tätig.“
Sie überlegte kurz.
„Ich werde über die Staatsanwaltschaft einen Haftbefehl gegen Frank Meister beantragen lassen und versuchen, gegen Gernot Melzer eine Telefonüberwachung zu erwirken. Pieter, übernimmst du die Recherche und Beantragung der Telefonüberwachung?“ Er nickte und trank den letzten Schluck kalten Kaffee.
Nach der Besprechung erhob sich Michael Kloss aus dem Drehstuhl und ging langsamen Schrittes auf Alexander zu, der von ihm abgewandt gerade an der Kaffeemaschine stand. Leise schimpfte er über den verkrusteten Schmutz, den er seinen faulen Kollegen verdankte, während er die Maschine reinigte. Als Alexander seinen Kollegen bemerkte, drehte er sich um.
„Hör mal, Alexander, dein Bruder wird vermisst, seine Freundin war eben hier. Hast du es schon gehört?“
„Nein“, antwortete Alexander. „Aber mein krimineller Bruder war schon häufiger mal verschwunden. Der taucht schon wieder auf.“
Mit diesen Worten wandte er sich wieder der Kaffeemaschine zu, aber bei Michael Kloss blieb das mulmige Gefühl.
***
„Ja“, meldete sich Albert Berend am Telefon. Der Wind pfiff so laut zwischen den Gebäuden, dass Berend kaum zu verstehen war. Die nordöstlichen Böen zerrten gewaltig an der royalblauen Europafahne, und das rhythmische Klappern des Seils am Fahnenmast tat das Übrige.
„Ich bin es, Anne“, meldete sich die PUA-Vorsitzende Fliege-Schulz. „Ich muss dich sofort sprechen. Wo bist du?“
Ihr helle Stimme verriet große Aufruhr.
„Direkt vor der Elbphilharmonie. Ich habe hier zu tun, komm doch her, dann zeige ich dir die Plaza und die längste Rolltreppe Westeuropas. 82 Meter lang … “ Albert Berend platzte vor Stolz, aber Anne unterbrach ihn.
„Ich versteh dich kaum. Muss dir was Wichtiges erzählen. Du glaubst es nicht, der Senator hat mich angesprochen“, schrie sie durchs Telefon, damit Albert sie verstand.
Sie verabredeten sich, und nach einer Viertelstunde erblickte er seine Freundin, wie sie mit schnellen, kleinen Geisha-Schritten auf ihren hochhackigen Stiefeln über die Brücke lief. Er war fasziniert und belustigt von ihrer Art zu gehen und lauschte dem „Klack-Klack-Klack“ ihrer Absätze.
Albert schlug den Kragen seines Kaschmirmantels hoch, steckte sich eine Zigarette an und ging ihr grinsend entgegen. Er wollte sie in den Arm nehmen, aber sie machte sich ganz steif. Sie wand sich aus seiner Umarmung, woraufhin er seinen Kopf zur Seite legte. „Komm, bevor du mir deine Geschichte erzählst, zeige ich dir die Plaza. Geht wirklich schnell“, versuchte er sie zu beruhigen.
Er schob sie auf die sich in Bewegung setzende surrende Rolltreppe, und sie verfolgte mit ihrem Blick den Bogen des weißen Tunnels. Die Wände waren aus weißem Putz und durchbrochen von unregelmäßig angeordneten runden Glasscheiben, die das Licht reflektierten. Der illuminierte Handlauf gab der „Anfahrt“ zur Plaza den Anschein, als würde man in eine andere Zeit hinübertreten, gewissermaßen die hanseatische Weiterentwicklung der amerikanischen Serie „Time Tunnel.“
Für einen Moment war Anne durch das gebogene Bauwerk eingenommen, dann aber erhob sie ihre Stimme.
„Albert, genau deswegen habe ich jetzt einen Haufen Ärger. Die wissen von uns. Der Senator Maybach hat gesagt, wenn ich nicht die Stellungnahme des Ausschusses zugunsten Melzers Baufirma ausfallen lasse, wäre er gezwungen, unser Verhältnis den PUA-Mitgliedern zur Kenntnis zu bringen. Das würde zu meiner Ablösung führen und sicherlich meinen Mann nicht besonders erfreuen.“
Anne war außer sich. „Begreifst du? Das demokratische Prinzip wird ins Gegenteil verkehrt. Jetzt kontrolliert der Senator den PUA. Ich bin so unendlich wütend und ...“
Sie stutzte. „Woher weiß der das überhaupt, und wie kommt er dazu, sich so für Melzer zu positionieren?“
Sie schaute Albert an, und ihr war klar, dass Albert nicht begeistert darüber sein würde, was sie ihm gleich zu sagen hatte.
„Mir ist es egal, wer an der Baumisere Schuld hat. Ich will den Vorsitz auf jeden Fall behalten, und wenn der Senator Maybach will, dass sein ,Liebling‘ Melzer besser wegkommt, dann in Gottes Namen werde ich meinen Einfluss geltend machen, wenn die Stellungnahme verfasst wird.“
„Was heißt das denn? Krieg ich nun den Schwarzen Peter? Bist du jetzt total übergeschnappt? Du zerstörst mein Lebenswerk!“
Albert konnte es nicht fassen. Er dachte an den Beginn des Projektes und über die intensive Zeit nach, als sich der Ideengeber Gérard vom Projekt der Elbphilharmonie zurückgezogen und Albert erfahren hatte, dass die Stadt Hamburg nicht mit dem Architektenbüro Herzog und de Meuron, sondern mit ihm weitermachen wollte. Ein noch nie erlebtes Glücksgefühl hatte ihn damals erfüllt. Mit ihm hatte die Stadt zusammenarbeiten wollen. Ihm hatten sie dieses große Bauvorhaben anvertraut. Und jetzt wollte Anne ihm alles nehmen. Das würde er nicht zulassen.
„Anne, ich habe die Chance meines Lebens bekommen. Ich habe mich mit meinem Architekturkontor durchgesetzt. Ich habe die weiteren Ausführungen geplant und dieses atemberaubende Wahrzeichen geschaffen. Ich ...“
„Ja“, unterbrach sie ihn. „Ich, ich, ich. Aber es war dein exquisiter Geltungsdrang mit deinen ewigen Sonderanfertigungen, Planungsänderungen und deinem unsäglichen Zeitmanagement, der zu dieser Kostenkatastrophe geführt hat ...“
Albert schnappte nach Luft und war tief gekränkt. Er betrachtete seine Geliebte, während sie ihm diese unglaublichen Vorwürfe um den Kopf fegte. Ihre blassen Augen tanzten unruhig hin und her, und sie zog ihre Mundwinkel im Wechsel in die Luft. Bedrohlich kam sie mit ihrer fratzenartigen Grimasse immer näher auf ihn zu. Wie durch eine Lupe sah er ihre tiefen Furchen um ihren harten, rot geschminkten Mund. Die Pigmente ihres Lippenstiftes verliefen in die rissigen Mundfältchen und wirkten wie eine rote Kapillarenlandschaft in einem Anatomiefachbuch. Sie spitzte ihre Lippen trotzig so weit nach vorne, dass Albert unwillkürlich einen Schritt zurücktreten musste.
„Was meinst du, was passiert, wenn mein Mann erfährt, dass wir eine Affäre haben? Der setzt mich mit gepacktem Koffer vor die Tür oder bringt mich gleich um. Wir dürfen uns eine Weile nicht sehen, bis sich die Aufregung gelegt hat!“
Albert schluckte und begriff nicht, was gerade passierte.
„Willst du die Trennung, ist es das? Da braucht nur der Senator Maybach zu kommen, und du kuschst? Ich hatte gehofft, dass wir nächste Woche zusammen auf die Eröffnungsfeier von Melzers neu gebautem Kinderheim gehen.“
„Wo? Auf Sylt? Bist du übergeschnappt? Damit mein Mann in der Presse lesen kann, dass wir was miteinander haben?“
„Doch nicht als Paar!“
„Sondern?“
„Na, du könntest in meiner Nähe sein und ...“
„Albert, also manchmal denkst du nicht nach. Wie sieht denn das aus? Die Vorsitzende des Parlamentarischen Untersuchungsausschusses trinkt auf Melzers Einweihungsparty Sektchen und nascht Schnittchen. Tolle Schlagzeile. Nein, vielen Dank!“
Albert wusste nicht, was er empfinden sollte. Eine Leere umgab ihn. In sich hineinhorchend fühlte er, wie Panik und Wut langsam seine Glieder hochkrochen und diese verklebten. Er betrachtete seine Geliebte mit leeren Augen und wandte sich zum Gehen. Er musste ihr Vorhaben unbedingt verhindern.
Kapitel 7
22-Zoll-Felge
Das Erste, was Denis Berend fühlte, waren die stechenden Kopfschmerzen, die bei jedem Atemzug so stark gegen seine Schädeldecke hämmerten, dass er meinte, seine Stirn würde zerspringen. Er öffnete die Augen und konnte nicht viel sehen. Es war dunkel im Raum, aber aufgrund einer kleinen, indirekten Lichtquelle im Nebenraum konnte er seine Umgebung wenigstens etwas erfassen. Er versuchte, seinen Kopf in Richtung der Lichtquelle zu drehen, und stellte fest, dass er sich nicht richtig bewegen konnte, da er an Händen und Füßen gefesselt war. In dem massigen, kräftigen Körper verbreitete sich Panik, und jede Pore seiner Haut füllte sich mit Angstschweiß. Denis konnte sie riechen, seine Todesangst, die sich mit dem feucht-modrigen Geruch des Raumes mischte. Er versuchte, sich zu erinnern. Scheiße noch mal, was war passiert? Schemenhaft und vernebelt tauchten Bilder vor seinem inneren Auge auf. Die Autofahrt nach Hemdingen-Bilsen, der Streit mit Albaner-Klaus, der Fausthieb. Der Schmerz der Nasenwurzel trat in sein Bewusstsein. Ansonsten erinnerte er sich an rein gar nichts. Hatte Albaner-Klaus damit zu tun? Oder einer der „Thunder-Arschlöcher“? Denis, konzentriere dich, ermahnte er sich im Stillen. Auf keinen Fall durfte er jetzt panisch werden. Speiübel war ihm, und er unterdrückte angestrengt den Impuls, sich übergeben zu müssen. Er versuchte, seinen Kopf zu drehen. Widerstand. Seine Angst vernebelte ihm das Hirn und breitete sich in seinem Magen aus. Denis’ Kopf war mit einem dicken Lederriemen fixiert. Um dennoch so viel wie möglich von seiner Umgebung sehen zu können, drehte er seine Augen in alle Richtungen und drückte seine Augäpfel so stark gegen das Fett- und Bindegewebepolster, dass es ihm schien, als würden sie jeden Moment aus der knöchernen Augenhöhle herauskugeln. In etwa so, wie eine polierte Stahlkugel in einem alten Flipperautomaten plötzlich aus einer ihrer Spielfeldöffnungen herauskatapultiert wird.
Die Schweißperlen, die sich auf seiner Stirn gesammelt hatten, glitten an seiner Schläfe herab und tropften auf die Liege. Als er versuchte, sich ruckartig aus der Fesselung zu befreien, bemerkte er einen metallenen Gegenstand an seinem blanken Gesäß und realisierte, wie er pinkeln sollte. Nun brannte es an seiner Armbeuge, an der er hinabschaute. Eine Kanüle steckte in seiner Vene. Scheiße, was war hier los? Was passierte mit ihm? Voller Angst schaute er sich um, so gut es der Lederriemen ermöglichte.
Der Raum war eine Art Kellerverlies, mit großen, aluminiumfarbenen Rohren an den Wänden. Außer seiner Fixierungsliege konnte er nichts weiter entdecken, bis auf eine Maus, die oberhalb des Rohres nach Nahrung suchte. Ein Fenster hatte er bisher nicht gefunden. Wieder überkam ihn diese Übelkeit, und er kämpfte gegen den Brechreiz an.
Da war ein Geräusch! Ein Türklappen und Schritte kamen aus Richtung der dunklen Tür, deren Ritze ebenfalls etwas Licht in das Verlies schimmern ließ. Er hörte den „Abendsegen“ von Humperdinck, den er nicht einordnen konnte. Die Schritte entfernten sich wieder. Jetzt schepperte ein Vorhängeschloss gegen die sich öffnende Tür. Denis kniff seine Augen fest zusammen, um möglichst viel von seinem Entführer erkennen zu können. Eine große, schlanke, in Schwarz gekleidete, maskierte Person betrat den Raum und entfernte wortlos die Gesäßpfanne. Dann setzte der Entführer eine Einwegkunststoffspritze an die Kanüle und nahm dem benebelten Opfer Blut ab. Wortlos hielt der maskierte Mann ihm einen Strohhalm hin. Denis, der nicht bemerkt hatte, wie durstig er war, trank das Wasser in tiefen Zügen aus und fiel wenige Sekunden danach in einen leichten Dämmerschlaf. Mit dem Blut des Opfers beschrieb der Entführer eine 60 mal 80 Zentimeter große, weiße Leinwand, die an eine der Kellerwände gelehnt war.
„Denn das Leben des Fleisches ist im Blut und ich habe es euch für den Altar gegeben. Denn das Blut ist es, das durch Leben Versöhnung erwirkt. Im Blut war die Seele und Gott beansprucht die Seele.
3. Mose. 17/11.
Auf dass ihr euch Gott wieder nähern könnt.“
In einer Ecke des Raumes stand ein Eimer, neben dem auf einem Hocker ein Schächtmesser lag, dessen blitzende Klinge der Form eines Lineals glich. Der Entführer drehte die Liege um 180 Grad, sodass Denis, an der Liege fixiert, nur noch zu Boden blicken konnte. Er erwachte kurz aus dem Dämmerschlaf, den Metalleimer direkt unter seinem Kopfbereich sehend. Als er das Schächtmesser im Augenwinkel blitzen sah, fühlte er, wie warmes Urin an seinen Innenbeinen herunterlief. Der Täter nahm das Messer und flüsterte mit eisiger Stimme: „Ich will deine Stimme nicht mehr hören. Du wirst still sein. Für immer.“
Er setzte das Messer an der Halsunterseite an und durchtrennte mit einem Schnitt die Luft- und Speiseröhre. Denis riss in Todesangst die Augen auf. Er verfolgte mit seinen Augen die an ihm vorbeifahrenden gold lackierten 22-Zoll-Felgen seines roten Mercedes Benz AMG Coupé, die sich immer schneller drehten, bis er das Bewusstsein verlor und das Leben aus seinem ausgebluteten Körper wich.
Kapitel 8
3. Mose 17/11
Nora bog mit ihrem Rad knirschend in den weißen Kieselweg ein, der zu ihrem neuen Zuhause in Niendorf führte. Verschwitzt betrat sie ihre frisch renovierte Einliegerwohnung im Souterrain. Wie immer drapierte sie ihren Wohnungsschlüssel so auf dem Tisch, dass er über dem Haustürschlüssel zum Liegen kam. Dann kontrollierte sie die Jacken an der Garderobe, ob sie den richtigen Abstand zueinander hatten. Hierbei ging sie immer gleich vor. Sie legte ihre Hand als Maßband an die Garderobenstange und richtete danach ihre Jacken aus. Jetzt konnte sie endlich Isa begrüßen, die schwanzwedelnd darauf wartete, gestreichelt zu werden. In einer Viertelstunde würde ihr über ihr wohnender Vermieter kommen. Sie waren verabredet. Nora sprang schnell unter die Dusche, ließ „Always on my mind“ von Elvis Presley durch die Boxen dröhnen und dachte über ihren Fall und Melzer nach, während sie leise mitsang.
In Hamburg hatte er es bereits auf die Liste der Hamburger Persönlichkeiten geschafft, denn sein Name war mit dem Bau der Elbphilharmonie und somit eng mit Hamburg verbunden. Allerdings war seine prominente Stellung durch den derzeit durch die Gazetten jagenden Bauskandal um die Elbphilharmonie beschattet.
Nun war er verdächtig, den Baubehördenmitarbeiter Bülow bestochen zu haben, um den Zuschlag für das Bauvorhaben der Elbphilharmonie zu erhalten, was einen erheblichen Imageschaden nach sich ziehen würde, sollte sich dieser Verdacht bewahrheiten. Eine Pressewelle von unglaublicher Schlagkraft und mit nicht zu überschauenden Folgen würde Hamburg überfluten, sollte sich der Vorwurf als richtig erweisen, davon war Nora überzeugt.
Sie hatte im Netz über Melzer recherchiert und herausgefunden, dass er keine Familie hatte und sich engagierte für das Kinderheim „Junge Deerns“, für das er ein Ferienhaus auf Sylt bauen ließ, das kurz vor der Eröffnung stand. Bis auf den Bauskandal zog sich ein tadelloses Profil durch seinen Lebenslauf. Er hatte sich sogar besonders verdient gemacht, als er gemeinsam mit Sabine Spindt, einer ehemaligen Erzieherin des Mädchenheimes „Junge Deerns“, den Skandal aufdeckte, der zur Frühpensionierung der vorherigen Heimleitung geführt hatte. Strukturell bedingte, unwürdige Erziehungsmethoden wurden damals den dort beschäftigten Erzieherinnen vorgeworfen. Die gepeinigten Mädchen bekamen als Strafaktion nichts zu essen oder mussten mitten in der Nacht für mehrere Stunden in einem dunklen Raum im Keller stehen, bis die Beine zu zittern anfingen und sie erschöpft endlich ins Bett gehen durften. Nora schüttelte sich bei der Vorstellung, dass die abhängigen und schutzlosen Mädchen, so schwierig sie vielleicht auch gewesen sein mochten, dieser Quälerei ausgesetzt waren. Melzer hatte sich mit viel Sozialengagement vorbildlich um die Heimbewohnerinnen gekümmert und war sogar, wie Nora ebenfalls im Internet herausgefunden hatte, seit einem Jahr mit der neuen Heimleiterin Sabine Spindt liiert. Alles in allem ein anerkanntes, prominentes Mitglied der Hamburger Gesellschaft, welches lediglich an der einen oder anderen Stelle korrumpierend nachhalf. Wie es wohl die meisten taten, vermutete Nora. Nur Meister passte irgendwie nicht in seine Agenda.
Bevor sie sich einen Rotwein eingießen konnte, klingelte es an der Tür. Sie öffnete sie erwartungsvoll und versuchte gleichzeitig, die bellende Isa zu beruhigen. Vor ihr stand ein älterer Herr, mit schneeweißem Haar, festem, rundem Bauch und einer mit vielen geplatzten Äderchen durchzogenen Knollnase. Er strich sich durch seine lichten Haare und lächelte Nora freundlich an. „Frau Kardinal, herzlich willkommen, ich hoffe, Sie werden sich hier schnell einleben.“
Seine Stimme wirkte aufgrund ihres tiefen Klanges beruhigend auf sie.
„Herr Neumeier, nehme ich an? Ich freue mich sehr, auf gute Nachbarschaft! Stimmt es, dass Sie ein Opernsänger sind?“ Nora trat einen Schritt zurück und bat ihren Vermieter mit einer schwingenden Armbewegung in die Wohnung.
„War, Kindchen, war, meine Stimme ist zu alt. Ach, jetzt singe ich nur noch für mich und meinen Hund.“ Dabei deutete er auf die Pudelmischung zu seinen Füßen. „Oder für Sie, wenn Sie es mögen ...“ Er lachte dröhnend und hielt sich seinen wackelnden Bauch.
„Ich singe auch, also nur so zum Spaß“, sagte Nora verhalten und konnte ihren Blick nicht von dem schwingenden Kugelbauch abwenden. „Ich fahre gleich ins ,Birdland‘, da ist heute Vocalsession.“
„,Birdland‘? Schon mal gehört. Was bedeutet Vocalsession? Wissen Sie, ich bin Klassiker alter Schule.“ Er zuckte mit den Schultern und hob die Augenbrauen.
„Ein Jazzschuppen. Bei der Vocalsession treffen sich die unterschiedlichsten Menschen, die gemeinsam musizieren und singen. Einfach Spaß haben. Mögen Sie mitkommen?“
„Ach, Kindchen, vielleicht ein anderes Mal, heute nicht, aber ich wünsche Ihnen viel Spaß. Wenn was ist, melden Sie sich einfach. Und wenn ich Ihren Hund mal mitnehmen soll, sagen Sie mir ruhig Bescheid. Sie haben sicher viel zu tun.“ Er drehte sich um, hielt sich seinen runden Bauch, hob den Arm nach oben, trällerte die Arie „Nessun Dorma“ und schritt mit seiner älteren Pudeldame würdevoll die Treppe hoch. Oben angekommen, drehte er sich um und zwinkerte ihr zu, wie Peter Frankenfeld auf seiner Showtreppe.
Eine Stunde später radelte Nora los und hörte „Andante Andante“ von Abba. Nora war neben Elvis Presley auch ein großer Fan dieser schwedischen Popgruppe. Durch die Toreinfahrt des „Birdland“ fuhr sie zu den Fahrradständern, schloss ihr Rad an und betrat den Musikclub über die Kellertreppe. An der Garderobe saß eine etwa Mitte fünfzigjährige Frau mit kurzen, grauen Haaren. Sie trug Jeans, einen pinkfarbenen Pullover und lächelte freundlich. Nora zog ihre Kunstfelljacke aus und hängte sie an den Bügel. Sie fasste sich auf den Nasenrücken und bemerkte, dass sie ihre Brille vergessen hatte. Erhobenen Hauptes ging sie durch den Club und lächelte jeden Gast im „Birdland“ an, obwohl sie niemanden erkannt hatte. Nicht, dass es später heißt, die ist aber arrogant geworden, dachte Nora.
Als sie die Ahnengalerie der Jazzkoryphäen an den Wänden erblickte, geriet sie in einen kaum beschreibbaren wohligen Gemütszustand. An der Wand hingen in Öl gemalte, gold gerahmte Bilder von Miles Davis, Billie Holiday, Ella Fitzgerald, Sarah Vaughan und Louis Armstrong. Während Nora über einen der Musiker rätselte, der aussah wie George Clooney in jungen Jahren, stieß sie ein junger Mann an und schaute sie offen an. „Entschuldige, aber du hast mich so freundlich angelächelt, dass ich dich einfach ansprechen musste, aber umrennen wollte ich dich nicht, sorry noch mal. Möchtest du etwas trinken?“
„Ja gerne, einen Primitivo, bitte“, antwortete Nora und fühlte sich etwas überrumpelt, aber die Neugier überwog.
Während sie auf ihr Getränk wartete, erblickte sie die Pianistin für den heutigen Abend, jung, hübsch und mit einem perfekt geschnittenen, akkuraten Pony, nahm sie vor dem schwarzen, glänzenden Flügel Platz. Sie hatte das dunkle, lange Haar zu einem Seitenzopf gebunden und blätterte in ihren Noten. Die Hand des Schlagzeugers ruhte auf ihren Schultern, während er sich an ihr vorbeischlängelte, um sich an sein Schlagzeug setzen zu können. Er lächelte die Pianistin an, hockte sich auf den runden Lederstuhl, nahm die auf der Snare Drum abgelegten Brushes an sich und drehte sie akrobatisch in seinen Händen. Der Kontrabass wurde von einer zierlichen, schwarzhaarigen, in einem schwarzen Chiffonoverall gekleideten Französin gespielt. Nora nahm allen Mut zusammen und ging zur Pianistin.
Sie streckte ihren Arm aus. „Hallo, ich bin Nora, wie läuft die Vocalsession heute ab?“
Die Pianistin hob den Kopf und begrüßte sie. „Hallo Nora, ich bin Julia und begleite heute die Sänger durch den Abend. Hast du Noten für uns dabei?“






