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„Ja, ich möchte ,Can’t help falling in love‘ singen, in einer arrangierten Jazzversion.“
„Vor dir sind noch fünf Sängerinnen dran, und dann kommst du an die Reihe.“ Julia lächelte ermutigend und wandte sich sodann konzentriert ihren eigenen Noten zu.
„Bis gleich“, verabschiedete sich Nora und verließ die Bühne, die durch eine Vielzahl an einer langen Leiste angebrachten runden Glühbirnen erleuchtet war. Während sie sich suchend im Raum umschaute, bemerkte sie, wie sich ein Arm hob und ihr zuprostete. Jetzt erst nahm sie ihre Begegnung von eben genauer wahr. Der Mann, der mit ihrem Glas Primitivo auf sie wartete, sah gut aus, hatte aber für Noras Geschmack einen Rotschopf, der einen flotteren Haarschnitt vertragen könnte sowie einen zu lang geratenen Vollbart. Er war in ihrem Alter und trug ein schwarzes T-Shirt, auf dem ein verknoteter Kabelaufdruck zu sehen war, der an einem viereckigen Kasten hing.
„Hey, arbeitest du für die Telekom?“, wollte Nora scherzhaft wissen und wartete nicht auf seine Antwort. So gelungen fand sie ihre scherzhaft gemeinte Bemerkung nämlich nicht. Wahrscheinlich hörte er das häufiger.
„Wie heißt du?“
„Mike, Mike Hummel, nein, ich arbeite nicht für die Telekom, aber ich bin ein Fan vom CCC. Chaos Computer Club“, fügte er hinzu, ohne dabei belehrend zu wirken. „Und du? Wie nennt man dich?“
„Nora“, antwortete sie, nahm neben Mike an einem kleinen, runden Tisch Platz und legte ihr Handy auf den Tisch. Der Laden war voll mit jungen, aber auch älteren Musikinteressierten. Die Stimmung war vergleichbar mit einer Mischung aus Familientreffen, Abiturfeier und musikalischer Buchlesung. Aufgeregt schnatternde Teenager, wie vor Beginn einer Klassenfahrt, in Begleitung ihrer Familienangehörigen einerseits. Und ältere, intellektuelle Jazzliebhaber, die das Geschehen eher verhalten genossen, andererseits. Nora mochte vor allem das zwanglose Ambiente und fieberte mit jedem Künstler mit. Sie trank einen Schluck von dem beerigen, weichen Wein und schenkte ihre Aufmerksamkeit der ersten Sängerin. Eine ältere, sehr schlanke Frau mit weit aufgerissenen Augen, die ein T-Shirt aus Spitze trug, allerdings ohne Büstenhalter. Sie interpretierte auf dramatische Weise einen Jazzstandard, den Nora nicht kannte. Die Sängerin starrte in die Ferne, und Nora fand, dass sie aufgrund ihres gezierten Blickes wirkte, als sei sie seit Kurzem vom Wahnsinn befallen. Im gleichen Moment, da sie das dachte und sich für die Sängerin fremdschämte, tat es ihr leid. Auch in solchen peinlichen Momenten durfte man nie außer Acht lassen, dass diese Interpreten Respekt verdienten für das, was sie taten. Auch wenn es scheußlich war.
Höfliches Klatschen füllte den Raum, nachdem die Sängerin die Bühne verlassen hatte. Sodann betrat eine junge, zierliche Frau die Bühne, stellte sich an den Kontrabass und stimmte leise auf Französisch „Autumn leaves“ an und verzauberte Nora und die anderen Gäste mit ihrer Darbietung.
Mit Mike verstand sich Nora auf Anhieb, und sie plauderten angeregt. Er erinnerte sie an ihren alten Schulfreund Sepp aus München, der die gleichen spitzbübischen Augen hatte und mit dem sie viel Zeit verbracht hatte. Einmal, als sie zwölf Jahre alt waren, schrieben sie auf kleine Zettel: „Kohl muss weg, hat kein Zweck“, und verteilten diese munter in die Briefkästen der umliegenden Nachbarschaft. Dieses politische Engagement hinderte sie aber nicht daran, sich auf einer CSU-Wahlveranstaltung hungrig mit Würstchen vollzustopfen.
Nora wurde unruhig, da sie gleich an der Reihe sein würde, aber vor allem, weil ihr die Menschenmassen zu schaffen machten. Sie zählte die Birnen in den Leuchtleisten, konnte aber keine Erleichterung erreichen. Ihre unkontrollierbaren Gedanken nahmen erneut von ihr Besitz. Was wäre, wenn ein Einbrecher käme und Isa bellte und ihr etwas zustieße ...?
„Aller guten Dinge sind drei,
sagten drei kleine Dreikäsehoch
und kauften drei Brote,
Schwarzbrot, Graubrot, Weißbrot,
bevor sie sich dreimal bekreuzigten“, murmelte sie leise vor sich hin und bekreuzigte sich dreimal.
„Was hast du?“, fragte Mike. „Wieso bekreuzigst du dich?“ Er legte seine Hand auf ihren Arm und schaute sie an.
Nora antwortete nicht. Jetzt musst du dreimal bis dreißig zählen, und dann wird alles gut, dachte sie und zählte, während eine weitere Sängerin „Cry me a river“ sang, was aber nur wie durch eine dicke Nebelwand zu ihr durchdrang.
Sie wiederholte den Vers wie ein Mantra, zählte dreimal bis dreißig und spürte, wie die Anspannung von ihr abließ und sie ruhiger wurde.
„Mann, Nora, du bist aber echt schräg drauf“, sagte Mike und schaute sie an. „Wirst du heute auch singen?“, wechselte er das Thema und deutete auf ihre Noten.
Nora antwortete nicht und blätterte nervös durch ihre Sheets, während sie die Band betrachtete, die professionell ein Lied nach dem anderen interpretierte und vergnügt zu sein schien.
Sie nahm ihren Mut zusammen, stand ruckartig von ihrem Stuhl auf und betrat den Musikern zugewandt die Bühne. So bemerkte sie nicht, wie sich Mike konzentriert seinem Handy zuwandte.
Dann wollen wir mal schauen, dachte er, wie wir den Trojaner auf dein Handy kriegen ... Mmmh, wo ist deine MAC-Adresse ...
Schnell fand Hummel in seinem Gerät die Kennung 00-60-63-mr-kw-4r, die Adresse, die er vor wenigen Tagen bei Nora mittels WLAN-Sniffing identifiziert hatte. Dazu musste er sie mit seiner Technik bloß eine Weile begleiten. Eigentlich ganz simpel.
Wie schön, du machst es mir einfach, Bluetooth ist aktiviert. Hummels Finger tippten ein letztes Mal über das Display.
So, dieser kleine Trojanerfreund ist für dich, liebe Nora. Nach nur wenigen Minuten hatte Hummel Noras Handy erfolgreich angegriffen.
Mit geschlossenen Augen stand Nora auf der Bühne und sang. Die Zuhörer hatte sie in ihren Bann gezogen, und sie selbst war zu Gast in einer Klangwelt, in der die Musik und die Geschichte des Songs ihren Körper vollständig durchdrangen. Auch Mike hörte dem Rest des Songs zu und ließ sich von der Musik davontragen. Ja, für einen Moment hatte er vergessen, warum er hier war, und ihn überfiel ein schlechtes Gewissen.
Als die letzten Noten verklungen waren, nahm Nora mit geöffneten Augen den Applaus ihres Publikums entgegen. Sie lächelte, bedankte sich bei den Musikern und der Pianistin Julia Berend per Handschlag und plauderte noch eine Weile mit Mike Hummel, bis es fast Mitternacht wurde. Am Ende des Abends sang sie noch für die letzten drei hartgesottenen Clubgäste und Mike Hummel „Will you still love me“ von Carol King, verabschiedete sich von ihm und fuhr, erfüllt von dem Abend, mit dem Song „Thank you for the music“ im Ohr nach Hause. Am scheensten is‘, wenns schee is‘, dachte sie und schlief beseelt ein.
Mike Hummel trat als Letzter aus der Clubtür, zog sein Handy aus der Hosentasche und tippte seine WhatsApp-Nachricht an seinen Kontaktmann Röpke.
Der Adler ist gelandet!
***
Als sich am frühen Sonntagmorgen im Volkspark langsam der Nebel hob und die aufgehende Sonne den gefrorenen Boden erwärmte, reckte sich auf einem Hügel eine mehrere Hundert Jahre alte Eiche mit ihren knorrigen Zweigen dem stahlblauen Himmel entgegen. Durchbrochen wurde die Stille durch das Plaudern und Lachen einer kleinen Rentnergruppe. Deren Kursleiter Rene Schmitz, ein rüstiger älterer Herr mit einem langen weißen Zopf und einer braunen Wollmütze, die mit dem Logo des FC St. Pauli verziert war, legte seinen Rucksack beiseite und ließ die Holzstöcke für die Teilnehmer scheppernd zu Boden fallen. Hastig verließ er die bewegungshungrige Rentnergruppe, die sich noch auf den Kursanfang vorbereitete und die schweren Winterjacken gegen leichtere, wärmende Sportjacken austauschte. Der Kursleiter bestieg den Hügel zur alten Eiche, passierte den in die Jahre gekommenen Baum und trat an eine dichte Strauchreihe, um sich, vor neugierigen Blicken geschützt, zu erleichtern. Selig blickte er in die Ferne, während er seine Notdurft verrichtete. Am Ende stellte er sich kurz auf die Zehenspitzen, schüttelte seinen Arm und verpackte mit einem leichten Hüftschwung sein Geschlechtsteil in seiner Sporthose. Während er seine Kleidung ordnete, drehte er sich um, lief einige Schritte in Richtung der knorrigen Eiche, an der er die auf dem Boden abgelegte Leiche von Denis Berend erblickte. Am Stamm des Baumes war dessen Kopf so drapiert, dass Schmitz ihm direkt auf den aufgeschnittenen Hals schauen konnte. Der Tote war nackt und blass. Nur seine Hüften waren durch einen rosafarbenen Rock bedeckt. Schmitz riss die Augen weit auf und starrte auf seine Entdeckung. Nach einer Weile, ihm kam es wie eine Ewigkeit vor, fiel sein Blick auf eine auf dem Schoß platzierte und an den Oberkörper der Leiche angelehnte Leinwand, die rot beschrieben war. Er las die Zeilen mehrmals, als würde er dadurch besser verstehen können, was dort zu lesen war. Schließlich begann er den Text leise vor sich hin zu murmeln:
„Denn das Leben des Fleisches ist im Blut und ich habe
es euch für den Altar gegeben. Denn das Blut ist es,
das durch Leben Versöhnung erwirkt. Im Blut war die
Seele und Gott beansprucht die Seele.
3. Mos. 17/11.
Auf dass ihr euch Gott wieder nähern könnt!“
Schmitz führte seine Hand in die Hosentasche, kramte nach seinem Handy und drückte hektisch die Tasten. Am anderen Ende hörte er die verschlafene Stimme seines Freundes.
„Mensch, Rene, wie spät ist es? Ich hab frei. Wieso weckst du mich so früh? Ist etwas passiert?“, erkundigte sich sein Freund mit müder Stimme.
„Hör zu! Halt dich fest. Ich habe hier eine Leiche entdeckt, ganz übel zugerichtet, mit einem Bibelspruch versehen. Ich ruf gleich die Polizei an, aber ich dachte, für dich wäre das ein schönes Foto zu einer guten Geschichte. Passiert ja nicht alle Tage. Schnapp’ dir deine Kamera, beweg deinen Hintern und komm zu der Eiche, an der ich immer den Tai-Chi-Kurs mache!“
Peter Hemmlos vom Hamburger Tagesblatt machte einen Satz aus dem Bett, sprang hüpfend in die am Abend zuvor auf den Boden geworfene Hose, verlor das Gleichgewicht und fiel mit einem lauten „Rums“ zu Boden, sodass er befürchtete, dass sich seine ewig nörgelnde Nachbarin sicher bei passender Gelegenheit wieder beschweren würde.
Hemmlos rappelte sich auf, zog sich an, griff mit links seine Kamera, mit rechts seine Jacke und rannte zu seinem Auto.
Keuchend und außer Atem erreichte er die Eiche und registrierte erleichtert, dass die Polizei noch nicht erschienen war. Allerdings stand das Rentnergrüppchen, das sich nicht entgehen lassen wollte, den Grund für den Kursausfall näher zu betrachten, im Halbkreis vor der Eiche. Einer der Kursteilnehmer trat aus der Poleposition einen Schritt zur Seite, nachdem Hemmlos ihn unsanft an der Schulter weggedrückt hatte. Die vor seinem Bauch schaukelnde Kamera nahm er mit einem schnellen Handgriff hoch, kniff ein Auge zu und drückte den Auslöser. Der Shuttersound des Auslösers gab der bizarren Stimmung etwas Reales. Hemmlos sicherte sich in einer Nanosekunde eine Serienaufnahme des schrecklichen Fundes, bevor die jede Sekunde eintreffende Schutzpolizei ihn an seiner Arbeit würde hindern können.
Routiniert sperrten die eingetroffenen Beamten den Fundort ab, informierten die Bereitschaft der Mordkommission und schoben Hemmlos und die verbliebenen Kursteilnehmer, von denen einige Erinnerungsfotos geschossen hatten, zur Seite.
Während Hemmlos in die Redaktion fuhr, um seine Bilder anzubieten, erreichten Nora und ihr Kollege Pieter den Fundort. Nachdem die Spurensicherung ihre Arbeit verrichtet und der Rechtsmediziner Dr. Christian Manz eine erste Leichenschau vorgenommen hatte, näherten sich Nora und Pieter der am Boden abgelegten Leiche.
„So wie der hier sitzt und aufgebahrt ist, war hier sicher nicht der Tatort, dafür muss man kein Profiler sein“, murmelte Nora und fuhr fort: „Das ist ein religiöser Fanatiker. Ach du Scheiße, lies dir diesen alttestamentarischen Scheiß mal durch!“, entfuhr es ihr, und sofort entschuldigte sie sich. „Sorry, aber mit der Religion hab ich es nicht so.“
Pieter winkte mit einer Handbewegung ab. „Alles gut, Nora, das kränkt mich nicht“, entspannte er die Situation. Zum Rechtsmediziner gewandt, sagte er: „Wir versuchen, am Montag früh gleich die richterliche Obduktionsentscheidung zu erwirken. Können wir am Montag am frühen Nachmittag mit den ersten Ergebnissen rechnen, Herr Doktor Manz?“
„Ja, ich versuch es zu schaffen“, antwortete Manz und betrachtete den Hals des Opfers.
„Der Angriff auf den Hals erfolgte mittels scharfer Gewalteinwirkung, aber das seht ihr ja selbst, nehme ich an. Die Leichenstarre scheint vollständig ausgebildet zu sein. Im Kieferbereich löst sie sich bereits. Der Todeseintritt war mutmaßlich vor vierundzwanzig bis achtundvierzig Stunden. Alles Weitere am Montag“, verabschiedete sich Dr. Manz.
„Ich werde es Alexander, so schonend ich kann, beibringen“, sagte Pieter, der den Bruder seines Kollegen vom Sehen kannte, legte seinen Arm um Noras Schultern und zog sie vom Fundort weg.
II. Kalenderwoche 50/51 2015
Kapitel 1
Wilma
„Was für ein atemberaubender Ausblick“, schwärmte Anne Fliege-Schulz und setzte sich mit einem eleganten Hüftschwung an einen der an dem bodentiefen Fenster stehenden Tische der Skyline Bar „20up“. Von ihrer Stadt verzaubert, schaute sie auf die Elbe, den alten Elbtunnel, die Landungsbrücken und die vielen Lichter des Hafens, an denen sie sich nicht sattsehen konnte. Fliege-Schulz nahm die Hand ihres Mannes und küsste sie. Lars Schulz war Brillenträger, Rechtsanwalt und einer dieser Advokaten, die sich wichtiger nahmen als ihr Mandat. Damit war ihn betreffend eigentlich schon alles gesagt. Sein Blick schweifte durch die Bar, die sich ihm in vielen bunt beleuchteten Flaschen präsentierte.
Er zog seine Hand zurück und konfrontierte seine Frau. „Anne, ich weiß, du betrügst mich!“
Fliege-Schulz griff nach ihrer Handtasche und versuchte, Zeit zu gewinnen. Genau das hatte sie immer befürchtet, und ausgerechnet jetzt war sie nicht vorbereitet. Eine Hitzewelle stieg in ihr hoch und schien ihren Schädel zum Kochen zu bringen.
„Wie kommst du darauf?“, stammelte sie seinem Blick ausweichend und kramte in ihrer Handtasche.
„Du fickst mit diesem Architekten, diesem Albert Berend. Und komm erst gar nicht auf die Idee, alles zu bestreiten.“
„Schatz, ich könnte dich niemals betrügen!“
Schulz bückte sich, griff zu seiner kleinen Aktentasche und zog knisternd einen braunen DIN-A4-Umschlag hervor. Wortlos legte er ihn auf den Tisch. Als sich ihre Blicke trafen, zog er seine rechte Augenbraue derart in die Höhe, als wollte er die Torbögen der Alsterarkarden nachzeichnen.
„Hör auf zu leugnen“, herrschte er sie an, und seine Stimme war so schneidend wie ein frisch gewetztes Messer. „Ich lass mir keine Hörner aufsetzen, und ganz bestimmt nicht von dir. Wirf einen Blick in den Umschlag und lass uns lieber darüber reden, wann du unser Haus verlässt. Sonntag bist du verschwunden. Du hast also ein paar Tage, um deine Sachen zu packen. Das dürfte reichen.“
Fliege-Schulz schluckte. Nun sind meine Befürchtungen eingetreten, dachte sie verzweifelt und starrte auf den Umschlag. Sie fürchtete sich vor dem, was sie sehen könnte.
Nacktbilder? Andere kompromittierende Situationen? In ihrem Kopf kreiste alles durcheinander. Eine Trennung wollte sie auf keinen Fall, schon gar nicht nach dem Streit mit Albert. Sie konnte keinen klaren Gedanken fassen. Reiß dich zusammen, dachte sie und versuchte, die Situation zu beherrschen.
Schweigend saßen sie sich eine Weile gegenüber, bis Fliege-Schulz den braunen, verschlossenen Umschlag in die Hand nahm. Sie zögerte einen Moment, riss ihn auf, griff hinein und zog die Hochglanzbilder heraus. Dabei vermied sie es, ihren Mann anzuschauen, und hoffte, möglichst gelassen auszusehen. Sie spürte seinen durchdringenden, intensiven Blick und bereute zum ersten Mal ihren Sprung auf die andere Seite. Ihr Mann prüfte ihre Gesichtsregungen eingehend, aber er konnte sie nicht lesen. In ihren zitternden Händen hielt sie die Bilder, auf denen sie glücklich turtelnd mit Albert in einem Café saß und Weißwein trank.
Bestreiten ist sinnlos, überlegte sie kurz und kommentierte die Bilder mit trockener Stimme. „Das war am Tag der PUA-Sitzung. Da habe ich Melzer und Berend vernommen. Ich möchte dich nicht weiter anlügen, ja, ich habe dich betrogen, aber ich habe die Affäre bereits beendet“, taktierte sie. „Ich liebe dich, und ich begreife nicht, warum ich mich auf Albert eingelassen habe. Ich war allein, du hattest so wenig Zeit für mich, warst nur mit deinen Mandanten beschäftigt. Er hat mir das Gefühl gegeben, jemand Besonderes zu sein ...“
Sie schaute ihn an, um zu sehen, ob ihre Erklärungsversuche Eindruck erwecken würden, aber die Eiseskälte in seinen Augen ließ sie frösteln.
„Ach, hör auf!“, unterbrach er sie mit erhobener Stimme. „Ich bin also dafür verantwortlich? Ist es das, was du mir sagen willst? Ich bin fassungslos. Anne, du ziehst bis Sonntag aus. Das ist mein letztes Wort.“
„Das Haus gehört auch mir“, widersprach sie ihm mit demonstrativ gedämpfter Stimme. „Ich bleibe und werde für unsere Liebe kämpfen. Und bitte schrei nicht so laut, die anderen Gäste drehen sich schon um.“
„Hörst du dir eigentlich selber zu? Mein Gott, was redest du für einen klischeehaften Scheiß. ‚Ich kämpfe für unsere Liebe‘“, äffte er sie nach und wackelte dabei mit dem Kopf hin und her. „Unsere Ehe ist zu Ende“, stellte er fest.
„Wie lange geht das denn schon mit euch oder muss ich sagen‚ ging es mit euch?“, fragte er zynisch.
Fliege-Schulz schwieg. Jetzt durfte sie nichts Falsches sagen, immerhin wusste sie nicht, wie lange er sie schon überwacht hatte. Im Moment würde sie ihn nicht erreichen, das begriff sie. Ein anderer Zeitpunkt war für ihr Vorhaben sicher geeigneter. Bleib gelassen, dachte sie.
„Lass uns nach Hause fahren und erst einmal alles sacken lassen“, versuchte sie ihm auszuweichen.
„Du wirst ausziehen, so oder so“, parierte Schulz, erhob sich und winkte nach dem Kellner, während er seine Börse aus der Hose zog.
***
Schrilles Klingeln durchdrang am Mittwochmorgen eine mit einem schwarzen Samtvorhang abgedunkelte Wohnung am Stadtrand von Hamburg. Es roch nach verbrauchter, stickiger Luft, in die sich der Duft von Lavendel, Urin, Mottenkugeln und alter, verwelkter Haut mischte. Die ahnungslose Bewohnerin schnarchte mit geöffnetem Mund im Schaukelstuhl und ahnte nicht, dass sie heute noch eine wichtige Nachricht erhalten würde.
Es klingelte erneut. Ein Schlüssel drehte sich im Zylinder, und die sich öffnende Tür der im Dachgeschoss gelegenen Wohnung knarrte. Eine Frau von Mitte vierzig betrat die Stube, ging mit zügigen Schritten auf die ehemalige Gemeindeschwester Wilma Hönschemeier zu und rüttelte so fest an ihrem Oberarm, dass diese erschrocken hochfuhr. Sie schaute verwirrt umher, drehte ihren Kopf und sah die Frau mit großen Augen an.
„Was machen Sie hier? Wer sind Sie? Ich rufe die Polizei! Verschwinden Sie!“, keuchte sie.
„Mann, du bescheuertes dummes Weib, ich bin es, Magdalena. Deinen Arsch darf ich putzen, aber erkennen tust du mich nicht?“, herrschte sie die erschrockene Alte mit polnischem Akzent an. Wilma Hönschemeier fing gellend an zu schreien, doch das Klatschen der Ohrfeige und der Schmerz ließen die Greisin verstummen.
„Wenn du nicht ruhig bist, knall ich dir noch eine“, schüchterte Magdalena die verängstigte Rentnerin ein. Sie warf einen Briefumschlag auf den Schoß der Alten und spottete: „Hier, von deinem Verehrer. Deine Lupe bring ich dir.“
Während die dicke Polin in einer uralten, dunkelbraunen Kommode kramte, über der ein riesiges, erdrückendes Kreuz hing, beruhigte sich Wilma Hönschemeier und murmelte Bibelverse vor sich hin.
„Sei froh, dass ich für deine tägliche Pflege so gut bezahlt werde, sonst würde ich dich hier verrecken lassen“, verhöhnte die Polin das alte Weib, warf ihr die Lupe auf den Schoß und verließ pfeifend den Raum. Sie ging in ihr Zimmer nebenan, schenkte sich zufrieden ein Glas Mariacron Weinbrand ein, öffnete eine Jumbotüte Kartoffelchips und griff gierig hinein. Sie schaltete ihren Computer an, setzte die Kopfhörer auf und richtete sich für einen langen Serienmarathon bei Netflix ein. Seitdem der Streaming-Anbieter auch in Deutschland online war, schaute sie kein Fernsehen mehr, sondern tauchte über Stunden in die Serienwelt ein von „Bloodline“ und Co.
Im Nebenzimmer strich sich Wilma Hönschemeier über ihre weißen Haare, welche sie nur noch mithilfe der dicken Polin zu einem Knoten binden konnte. Ihr eingefallenes, runzeliges Gesicht vergrößerte optisch ihre rund geratene Nase. Sie stand auf, ordnete ihr schwarzes, hochgeschlossenes Kleid mit den winzigen weißen Punkten und dem weißen Kragen, das ihr über die Oberschenkel gerutscht war und die dunkelbraunen Stützstrümpfe zum Vorschein brachte. Sie griff zu dem am Schaukelstuhl lehnenden alten Gehstock, humpelte an den kleinen, runden Tisch und ließ sich, immer noch müde, auf den mit Brokat gepolsterten Jugendstilsessel fallen. Die Greisin hielt andächtig den Brief in ihrer zittrigen, mit Altersflecken übersäten Hand. Obwohl ihre Augen von dunklen Ringen gerahmt waren, leuchteten sie beim Anblick des Kuverts. In ihrem durch tiefe Furchen gezeichneten Gesicht, welche sowohl horizontal als auch vertikal verliefen und dem Fell eines chinesischen Faltenhundes glichen, lag ein Lächeln, als sie den Brief öffnete und mit ihrer Lupe las.
Meine geliebte Wilma,
Die Schuldigen werden nun Gott ein Stück näherkommen, so wie du es mich gelehrt hast.
„Denn das Leben des Fleisches ist im Blut und ich habe es euch für den Altar gegeben. Denn das Blut ist es, das durch Leben Versöhnung erwirkt. Im Blut war die Seele und Gott beansprucht die Seele.
3. Mose. 17/11.
Karsten.
Der Alten liefen die Tränen herab und verfingen sich an einem langen Kinnhaar. Sie wischte sie mit ihrer knöchernen Hand ab, erhob sich und stützte sich dabei auf die Lehne ihres Stuhles. Schlurfend ging sie einige Schritte in ihren karierten Filzpantoffeln zum Altar, kniete nieder und betete mit leiser Stimme ihr alltägliches Gebet.
„Gegrüßet seist du, Maria.
Jesus, der für uns Blut geschwitzt hat,
Jesus, der für uns gegeißelt worden ist,
Jesus, der für uns mit Dornen gekrönt worden ist,
Jesus, der für uns das schwere Kreuz getragen hat,
Jesus, der für uns als Menschenopfer gekreuzigt worden ist …“
Die alte Frau brach zusammen und konnte ihren Vers nicht mehr zu Ende sprechen. Sie stürzte zu Boden und riss dabei die auf dem Altar stehende Madonna mit, die am Boden laut scheppernd zerschlug.
Nebenan kreischte die dicke Polin vor Lachen, aber Wilma Hönschemeier konnte sie nicht mehr hören.
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