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Die Macht eines Wortes
Das Wort »Volk« erscheint auch deshalb heute besonders sinnfällig, weil es dem, was viele Bürger*innen undeutlich empfinden, eine Sprache gibt. Während die Begriffe der traditionellen Soziologie, das statistische Vokabular der sozioprofessionellen Kategorien und die Kriterien der Verwaltungsformulare ihnen einer toten Sprache anzugehören scheinen, die weit von ihrem Leben und ihren Erfahrungen entfernt ist. Die Spaltung zwischen dem »Oben« und dem »Unten« der Gesellschaft wird nämlich auch auf ganz existenzielle Weise erlebt. Die Eliten werden beschuldigt, in einer Welt zu leben, die nicht mehr weiß, was vor ihren Türen passiert. Und das Volk definiert sich spiegelbildlich als die Welt der Männer und Frauen, die in den Augen dieser Wichtigtuer namenlos sind. Die soziale Spaltung enthält somit auch eine »kognitive Distanz«, eine Kluft zwischen den »statistischen Wahrheiten«, die die Regierenden anführen, um den Zustand der Gesellschaft zu beschreiben, und den gefühlten Lebensbedingungen. Das beliebige Individuum hat nämlich nichts mit den Durchschnittsmenschen in der heutigen Gesellschaft zu tun: Es ist immer besonders.
Die positive Wiederaufnahme des Wortes »Volk« ist in diesem Kontext zu sehen. Sein neuerlicher Gebrauch verweist nicht mehr auf eine politische Abstraktion oder eine gesichtslose Menge. Gerade in seiner Unbestimmtheit scheint es sich dem konkret fassbaren Leben eines jeden zu öffnen. Es gibt einer Gesellschaft von Individuen aufgrund seiner Empfänglichkeit für Singularitäten eine kollektive Form. Und das umso mehr als die glorreiche Geschichte, die ihm eigen ist, die Stellung derer, die sich beherrscht, unsichtbar gemacht oder in der Besonderheit ihrer Umstände eingesperrt fühlen, in gewisser Weise aufwertet. Man kann so stolz in Anspruch nehmen, zum Volk zu gehören während man sich ein wenig dafür schämt, durch einschränkende Kriterien definiert zu werden (arbeitslos zu sein, vom Mindestlohn zu leben, schlecht über die Runden zu kommen, geringe Schulabschlüsse zu haben …). Das Wort ermöglicht somit gleichzeitig, einen Wutschrei zu artikulieren und einen gewissen Adel zur Schau zu stellen.
Mit dem Gebrauch dieser vorteilhaften und polarisierenden Identifikation geht auch die mögliche Rückkehr zu rhetorischen Figuren und affektiven Ausdrucksformen einher, in denen die alten revolutionären Aversionen gegen die Privilegierten wieder aufscheinen, die als nicht zur Nation gehörig betrachtet werden, sowie jene Art von Dämonisierung des Fremden, die zu Kriegszeiten oft zu beobachten war. Die moralische Disqualifizierung spielt ebenfalls eine entscheidende Rolle beim Zusammenwerfen aller jener zu einer Einheit, die, in den verschiedenen Bedeutungen des Wortes, als korrumpiert gelten. Das Volk bildet dazu den Kontrast: Es ist tugendhaft, hat Verständnis für die Leiden anderer und arbeitet hart für seinen Lebensunterhalt. Die Parallele zur Denkweise Robespierres ist hierbei umso auffälliger, als sich ein Jean-Luc Mélenchon ausdrücklich auf ihn berufen hat.7 Sie ist es übrigens auch unter dem Aspekt der Gleichsetzung politischer Gegner mit ausländischen Agenten, ihrer Beschreibung als Helfershelfer des internationalen Kapitalismus, eines globalisierten Multikulturalismus oder eines technokratischen Europa, das die nationale Souveränität mit Füßen tritt; der Begriff »Neoliberalismus« fasst dabei in einem Wort die politische und soziale Kultur der »Kaste« zusammen. In einem allgemeineren Sinne könnte man sagen, dass das Wort »Volk« doppelgesichtig ist wie Janus. Es knüpft an den Gedanken einer gewissen moralischen Größe an, während es zugleich die finstersten Hassgefühle rechtfertigt.8 Es konstruiert das politische Feld auf eine Weise, dass der Gegner nur ein Feind der Menschheit sein kann. Es dient dazu, dem Unglück einen Namen zu geben und zugleich den Weg zu einer gewissen Art von Wandel zu weisen.
Unter diesen verschiedenen Gesichtspunkten versuchen die populistischen Bewegungen, der Beschwörung eines unauffindbar gewordenen homogenen Volkes eine fassbare Gestalt zurückzugeben, eine Referenzgröße, die zuvor nur ein »schwebender Signifikant«, ja ein »leerer Signifikant« gewesen war, gemäß den bereits zitierten Formulierungen von Ernesto Laclau. Diese Art, »ein Volk zu konstruieren«9, wirft natürlich viele Fragen auf, auf die wir in jenem Teil dieses Buches zurückkommen werden, der den Voraussetzungen einer angemessenen Kritik des Populismus gewidmet ist. Doch gilt es zu betonen, dass sie den Vorteil aufweist, den Bruch oder zumindest die Spannung zwischen dem zivilen Volk und dem sozialen Volk zu reduzieren. Denn beide fallen zusammen mit dem Verweis der Regierenden und der verschiedenen Arten von Eliten oder Oligarchien in dieselbe Kategorie, die der Kaste zum Beispiel. Die Wiederbelebung der Demokratie und die Verbesserung der Lebensbedingungen hängen also, dieser populistischen Perspektive zufolge, von der gleichzeitigen Verabschiedung dieser kleinen, einheitlichen Gruppe von Volksfeinden ab, sodass sich sozialer Kampf und politische Konfrontation überlagern.10 Eben das begründet ihre Stärke.
1Vergleiche dazu die Ausführungen in meiner Vorlesung von 2018 am Collège de France.
2Ich erlaube mir, auf mein Werk Le Peuple introuvable. Histoire de la représentation démocratique en France zu verweisen.
3Chantal Mouffe, Für einen linken Populismus, S.16–17.
4Ernesto Laclau, »Logiques de la construction politique et identités populaires«, S.151. Dieser Text besteht aus Exzerpten von On Populist Reason und stellt eine gute Zusammenfassung seines Buches dar.
5Ebd., S.152.
6Siehe seinen Artikel »Ernesto Laclau: le seul et vrai théoricien de populisme de gauche«, Éléments, Nr. 160, Mai-Juni 2016.
7Siehe sein Gespräch mit Marcel Gauchet in: Philosophie Magazine, Nr. 124, Oktober 2018 (Gauchet hatte gerade Robespierre, l’homme qui nous divise le plus, veröffentlicht). Siehe auch sein mit Cécile Amar verfasstes De la vertu.
8Die Wahrung der eigenen Identität und Würde kann sich beispielsweise in einer Ablehnung als »fremdartig« geltender Religionen äußern (vor allem des Islam).
9Diesen Titel hat Chantal Mouffe einem gemeinsam mit der Nummer zwei von Podemos in Spanien verfassten Buch gegeben (Chantal Mouffe/Íñigo Errejón, Construir Pueblo; frz. Construire un peuple).
10Daher die geringe Aufmerksamkeit, die den Gewerkschaften seitens der populistischen Bewegungen zuteilwird.
2Eine Demokratietheorie: direkt, polarisiert, unmittelbar
Die Populismen sehen sich selbst in der Perspektive einer demokratischen Erneuerung. Sie machen deshalb den bestehenden Demokratien, der Art, wie sie praktisch und theoretisch konzipiert sind, den Prozess. Demokratien, die man als liberal-repräsentative bezeichnen könnte. Liberal, insofern sie Verfahren und Institutionen eingeführt haben, um der Gefahr von Mehrheitstyranneien vorzubeugen, indem sie der Garantie der persönlichen Integrität und Autonomie einen zentralen Stellenwert einräumen. Es handelt sich in den meisten Ländern um verfassungsrechtliche Bestimmungen zur Wahrung der Individualrechte und zur Einschränkung der gesetzgebenden Macht oder um unabhängige Behörden zur Kontrolle der Exekutive oder sogar zur Ausübung mancher ihrer Befugnisse. Repräsentativ, weil sie auf dem Gedanken einer Volksmacht beruhen, die sich, von wenigen Ausnahmen abgesehen, auf den Prozess der Selektion und Bestätigung der Verantwortlichen durch Wahlen beschränkt. Das populistische Demokrativerständnis versucht, eine Alternative zu dieser Auffassung zu entwerfen, und zwar auf Grundlage der Infragestellung dieser beiden als reduktionistisch beurteilten Interpretationen des demokratischen Ideals.
Ein Viktor Orbán oder ein Wladimir Putin haben sich wiederholt als Befürworter eines Bruchs mit der liberalen Demokratie präsentiert, gemäß der Annahme, dass heute ein offener Konflikt zwischen zwei konkurrierenden Auffassungen des demokratischen Projekts existiert. Auf theoretischer Ebene hat Chantal Mouffe, mit dem Appell, zu verstehen, »dass liberale Demokratie aus der Artikulation zweier Logiken resultiert, die in letzter Instanz inkompatibel sind«1, dazu aufgefordert, Demokratie nicht mehr nur mit Rechtsstaat und Verteidigung der Menschenrechte gleichzusetzen – wie es in ihren Augen der Neoliberalismus tut –, sondern das Prinzip der kollektiven Souveränität in den Vordergrund zu stellen. Daher rührt der Zusammenhang zwischen dem Streben nach populistischer Radikalisierung der Demokratie und der intellektuellen Stigmatisierung einer gesellschaftlichen und »menschenrechtlichen« Sichtweise, die beschuldigt wird, einen Kult des Individuums und der Minderheiten zu betreiben, auf Kosten des Bemühens um Stärkung der Volkssouveränität. Daher rührt ebenfalls die theoretische Aufwertung des Illiberalismus des populistischen Projekts als Voraussetzung einer authentischeren Demokratie (auf diesen Punkt werden wir im letzten Teil dieses Werkes ausführlich eingehen).
Die populistische Auffassung von Demokratie weist in diesem Sinne drei Charakteristika auf. Sie versucht zunächst, die direkte Demokratie zu privilegieren, vor allem durch die Vermehrung von Volksabstimmungen; sie vertritt ferner das Projekt einer polarisierten Demokratie, indem sie den undemokratischen Charakter nicht gewählter Behörden und Verfassungsgerichte kritisiert. Sie glorifiziert schließlich, und das ist der Kernpunkt, eine unmittelbare und spontane Auffassung des Volksausdrucks.
Der Kult des Referendums und das Lob der direkten Demokratie
In Frankreich machte der Front national seit Mitte der 1980er Jahre, mit dem Beginn seines Erfolgs an den Wahlurnen, die Ausweitung von Volksabstimmungsverfahren zu einem seiner wichtigsten Kampagnenthemen. Jean-Marie Le Pen rief seinerzeit zu einer »echten französischen Revolution« auf und sprach von einer notwendigen »Erweiterung der Demokratie« in diesem Sinne, um »dem Volk das Wort zu erteilen«.2 Er beschrieb das Referendum als »vollkommensten Ausdruck der Demokratie« und wünschte sich zugleich die Einführung einer besonderen Form, eines »Veto-Referendums«, das dem Volk ermöglichen sollte, das »Inkrafttreten im Parlament beschlossener, aber von ihm missbilligter Gesetze zu verhindern«.3 Einige Jahre später, in seinem Programm für die Parlamentswahlen von 1997, präzisierte der Front seinen Vorschlag, das Referendum zu erweitern, dahingehend, »das französische Volk aus dem Zugriff der politischen Klasse zu befreien«. Ein solches »Volksbegehren« sollte den Bürgern ermöglichen, selbst zu entscheiden, welche Themen ihnen zur Beurteilung vorgelegt werden.4
Die Intellektuellenzirkel, die in dieser Zeit den Aufstieg des Front begleiteten, wie der Club de l’Horologe oder GRECE, beteiligten sich an dieser Glorifizierung der direkten Demokratie, indem sie diese mit der Schweizer Tradition in Verbindung brachten, dem Vorbild einer in ihren Traditionen verwurzelten Demokratie, die großen Wert darauf legte, sich nicht durch fremde Organe entstellen zu lassen. Durch die direkte Demokratie habe das Land sich, ihrer Meinung nach, vor missbräuchlichen Steuern und Masseneinwanderung schützen können.5 Der direkte Appell an das Volk wurde so als Mittel präsentiert, um sich alter politisch-oligarchischer Eliten zu entledigen und gleichzeitig der Gefahr einer Invasion durch »nicht assimilierbare« Migrant*innen vorzubeugen – das traditionelle Repräsentativsystem wurde damit auf eine Art Vorgeschichte der Demokratie zurückgestuft. Alle populistischen Bewegungen übernahmen in der Folge diese Sicht der direkten Demokratie als in ihren Augen wirksames Instrument zur Ausgrenzung korrupter und unfähiger Eliten durch ein unverdorbenes und vollkommen souveränes Volk. Das Referendum weist überdies eine starke performative Besonderheit auf, da mit ihm die Wortergreifung vermeintlich einen unmittelbar tätigen Willen zum Ausdruck bringt, ganz im Gegensatz zu dem ewigen parlamentarischen Hin und Her.
Die Umgehung des Referendums von 2005 über das europäische Verfassungsprojekt durch die parlamentarische Ratifizierung des Lissabonner Vertrages hat in Frankreich einen bleibenden Eindruck hinterlassen. Wollte man den Beginn der sich ausbreitenden populistischen Welle bestimmen, wäre sicherlich dieses symbolische Datum zu nennen. Die Betonung des demokratischen Charakters von Volksabstimmungen wurde seither immer wieder der Neigung des parlamentarisch-repräsentativen Systems entgegengehalten, die Volkssouveränität in Beschlag zu nehmen. Elf Jahre später wurde in Großbritannien die Option der Bevölkerung für den Brexit in vergleichbarer Weise mit den gegenteiligen Bestrebungen der Parlamentsmehrheit kontrastiert. In ganz Europa ist ein wachsendes Interesse populistischer Kreise für die Schweizer Verfahren der Volksinitiative und der Volksabstimmung zu verzeichnen, mit denen es Christoph Blochers SVP wiederholt gelungen ist, dem Land seine Debatten aufzuzwingen. Politische Regime wiederum haben in allen Teilen der Welt häufig zum Mittel des Referendums gegriffen, um ihre Legitimität zu stärken sowie, in den meisten Fällen, die Befugnisse der Exekutive zu erweitern. Referenden nehmen somit oft den Charakter von Plebisziten an. Doch diese Frage ist in rechts- wie in linkspopulistische Zirkeln kaum je reflektiert worden, so tief ist bei ihnen die Überzeugung von der demokratischen Mustergültigkeit dieses Verfahrens verankert.
Die polarisierte Demokratie
Die Regierung der Richter – dieser Ausdruck wurde häufig verwendet um zu stigmatisieren, was als Bedrohung empfunden wurde: das Erstarken einer Judikative, die in vielen Demokratien immer unabhängiger geworden ist. Diese Unabhängigkeit wird in besonderem Maße angeprangert, wenn sie sich in einer Rechtsprechung äußert, die das Gesetz durch seine Interpretation präzisiert. »Die Richter sind dazu da, das Gesetz anzuwenden, nicht um es zu erfinden, nicht um dem Willen des Volkes zu hintertreiben, nicht um an die Stelle des Gesetzgebers zu treten. Ein öffentliches Amt darf seinen Inhaber nicht dazu autorisieren, sich eine Macht anzueignen«, schimpfte beispielsweise Marine Le Pen.6 Manche schrecken nicht einmal vor dem Begriff der »Juridiktatur« zurück, um die Unabhängigkeit der Justiz und die erweiterten Kompetenzen des Verfasssungsgerichts in Frankreich zu benennen,7 und betrachten die Rechtsstaatlichkeit als »zentralen Irrtum« der heutigen Demokratien. Der Gegensatz zwischen Recht und Demokratie ist nicht neu. Er wurde in der Amerikanischen und der Französischen Revolution ausgiebig diskutiert und veranlasste die Mitglieder der Constituante dazu, 1790 das Prinzip der Wählbarkeit von Richtern einzuführen (die anschließend wieder aufgehoben wurde, aber das ganze 19. Jahrhundert eine republikanische Forderung blieb). Zahlreiche amerikanische Bundesstaaten instituierten ihrerseits Mechanismen der Richterwahl, ein System, das noch heute in Kraft ist.8 Doch dieser Gegensatz wurde in der populistischen Sicht radikalisiert. Ihr zufolge ist das Mindeste, was man sagen könne, dass die Justiz sich nur auf eine rein funktionelle Legitimität berufen könne, dass ihr demokratischer Status ein sekundärer sei im Vergleich zu dem der Mandatsträger, die den Segen öffentlicher Wahlen erhalten hätten. Man kann in diesem Fall von einer polarisierten Sicht der Legitimität und der demokratischen Institutionen sprechen, bei der die Wahl zugleich als einziges Mittel des demokratischen Ausdrucks fungiert (was zu der Annahme führt, dass Demokratie im Wesentlichen eine Verfahrensregel sei und keine substanzielle Dimension besitze, die beispielsweise die Qualität einer Institution und ihres Funktionierens charakterisiert).
Dieses Demokratieverständnis hat sich in populistischen Regimen vornehmlich in der Gängelung, wenn nicht Abschaffung unabhängiger Behörden geäußert, wofür die Beschneidung des Zuständigkeitsbereichs der Verfasssungsgerichte das eklatanteste Beispiel darstellt. Bis in die Europäische Union hinein, wo die neue ungarische Verfassung von 2011 für Furore sorgte, so stark waren die Befugnisse des Verfassungsgerichts in der von Victor Orbán initiierten und intellektuell gerechtfertigten Neufassung beschnitten. Auf anderem Wege wurde die Unabhängigkeit dieser Institution auch in Polen ernsthaft gefährdet. Ihre heftige Kritik durch die Brüsseler Instanzen war für diese Länder kein Anlass, einen Rückzieher zu machen. Vielmehr verteidigten sie sich damit, auf diese Weise in besonderem Maße der Volkssouveränität zu dienen. Die weitreichenden Kompetenzen, die ihren Verfassungsgerichten im Moment des postkommunistischen Übergangs zuerkannt worden wären, hätten in einer gefestigten Demokratie, in der das Volk wahrhaft souverän geworden sei, keine Berechtigung mehr. Ähnliche Prozesse fanden in Bolivien und Venezuela, sowie in der Türkei und in Russland statt (es sei erwähnt, dass in letzterem Land der Begriff der »souveränen Demokratie« geprägt wurde, um diesen Polarisierungsmechanismus zu benennen9).
Der unmittelbare Ausdruck des Volkes
Schließlich gibt es in populistischer Perspektive ein implizites Verständnis der Evidenz des Gemeinwillens, sobald der Sieg über die Feinde des Volkes einmal errungen ist. Das entspricht der politischen Philosophie von Carl Schmitt. Für Schmitt10 geht das Bekenntnis zur öffentlichen Akklamation als vollendete Form der Demokratie nämlich einher mit einer Kritik an den mit dem Pluralismus des liberalparlamentarischen Ansatzes verbundenen Illusionen. Denn für ihn war das Volk, das sich im Kampf gegen seine Feinde herausbildet, zwangsläufig homogen und einstimmig. Ohne Schmitts Vorstellung von ethnischer Homogenität zu übernehmen, haben seine »populistischen Leser*innen« wie Chantal Mouffe oder Ernesto Laclau doch seine Idee von Einstimmigkeit als regulatorischer Horizont des demokratischen Ausdrucks bewahrt, mit allem, was dies im Hinblick auf die Ablehnung argumentativer und deliberativer Theorien beinhaltet.11 Politische Teilhabe definiert in diesem Rahmen kein aktives Bürgerengagement, das sich auf die Formulierung persönlicher Meinungen und die Konfrontation der Standpunkte gründet, sie verweist vielmehr auf die Tatsache, sich als Teil einer Gemeinschaft zu fühlen.12 Das ist eine Form von Rousseauismus in Verbindung mit Annahmen über die Vorzüge und Potenziale der Volksspontaneität, des gesunden Menschenverstandes der Massen. »Alle Individuen«, äußerte sich Chávez 2007 in typischer Manier, »erliegen Irrtümern und Verlockungen, nicht aber das Volk, das ein enormes Bewusstsein für das eigene Wohl und das Maß seiner Unabhängigkeit besitzt. Deshalb ist sein Urteil aufrichtig, sein Wille stark, und niemand kann es bestechen oder auch nur bedrohen.«13 Eine Sichtweise, die direkt jenen Passagen des Gesellschaftsvertrags entsprungen scheint, die davon ausgehen, dass der Gemeinwille sich nicht irren könne.
Eine solche unmittelbare Demokratie erfordert keine strukturierten politischen Organisationen, die nach dem Prinzip der internen Demokratie funktionieren; sie fördert vielmehr ein Vorgehen, sich zu einem bestehenden politischen Angebot zu bekennen. Interne Demokratie würde nämlich heißen, dass Strömungen existieren, Strategiedebatten, Konkurrenz zwischen Individuen, auf diese Weise sind Parteien üblicherweise strukturiert. Eine Bewegung kann hingegen nur ein kohärentes und zusammengehöriges Ganzes bilden, nach dem Bild des homogenen Volkes, dessen Geburtshelfer und Ausdruck sie sein will. Deshalb befindet sie sich im Einklang mit der neuen Welt der sozialen Netzwerke, in der sich die Kategorie des followers eingebürgert hat, um die typische Art der Beziehung zwischen den Individuen und einem Initiativpunkt zu bezeichnen.
Die Medienkritik, die im Zentrum der populistischen Rhetorik steht, muss im Hinblick auf dieses Unmittelbarkeitsprinzip verstanden werden. Trumps Beschimpfungen der Journalisten, Orbáns Vorwürfe gegen die Gefolgsleute von George Soros oder Mélenchons Aufrufe zu einem »gesunden und gerechten Hass auf die Medien« sind keine bloßen Wutausbrüche. Sie mögen zwar auch der Verärgerung und dem Groll über widerstrebende Kräfte entspringen, sind aber in erster Linie charakteristisch für eine Theorie unmittelbarer Demokratie, die den Anspruch vermittelnder Organe – und die Presse ist eines der wichtigsten von ihnen –, eine aktive Rolle bei der Gestaltung des öffentlichen Lebens und der Bildung der öffentlichen Meinung zu spielen, als strukturell illegitim zurückweist. Die Medien sind für sie Störfaktoren, die den Ausdruck des Gemeinwillens beeinträchtigen, und keine Organe, die zu seiner Bildung notwendig sind. Eine Illegitimität, die man als funktional bezeichnen könnte – hinsichtlich der Prämisse demokratischer Spontaneität –, verbunden mit einer moralischen Illegitimität, die aus der vermuteten Abhängigkeit von Partikularinteressen und Geldmächten resultiert.
1Chantal Mouffe, Das demokratische Paradox, S.22.
2Jean-Marie Le Pen, »Pour une vraie révolution française«, National Hebdo, 26. September 1985. Er grenzte sich damit von der Maurras’schen und konterrevolutionären Tradition des Rechtsextremismus ab, die den demokratischen Gedanken verwarf. Dieser Artikel markierte auch eine Abwendung von seiner eigenen vorherigen Skepsis eines »Churchilldemokraten«. Vgl. sein vorheriges Manifest Les Français d’abord von 1984.
3Ebd.
4Siehe das Kapitel »Rendre le pouvoir au peuple« des Programms Le Grand Changement, mit einem Vorwort von Jean-Marie Le Pen.
5Siehe exemplarisch Yvan Blot, Les Racines de la liberté (Kap. VIII, »Le modèle suisse«, und Kap. IX »Le recours: la démocratie authentique«) und La Démocratie directe: une chance pour la France.
6Rede im Zenith de Nantes, 26. Februar 2017. Sie sah sich zu diesem Zeitpunkt mit mehreren strafrechtlichen Ermittlungen konfrontiert, die sich sowohl auf die Abläufe in ihrer Partei als auch auf die Tatsache bezogen, dass sie persönliche Mitarbeiter*innen im Front national vom europäischen Parlament hatte bezahlen lassen.
7Siehe den typischen Artikel von Alain de Benoist, »Vers une juridictature«, Éléments, Nr. 178, Mai-Juni 2019. Siehe, in derselben Nummer, das gesamte Dossier »Les juges contre la démocratie. Pour en finir avec la dictature du droit«.
8Vergleiche meine diesbezüglichen Ausführungen (»Historische Anmerkungen zur Richterwahl«) in: Demokratische Legitimität. Unparteilichkeit, Reflexivität, Nähe.
9Die Formel stammt von Wladislaw Surkow, der in den 2000er Jahren die Rolle des organischen Intellektuellen und spin doctors für Putin spielte.
10Carl Schmitt (1888–1985) war einer der großen deutschen Rechtsgelehrten des 20. Jahrhunderts. Als fundierter Kritiker des Liberalismus und Parlamentarismus vertrat er eine realistische Sicht der (als Freund-Feind-Konflikt definierten) Politik und eine rassistische und unanimistische Auffassung des Volkes. Seine Entwicklung in Richtung Nationalsozialismus trug dazu bei, sein Denken zu diskreditieren; aber er wurde in den 1980er Jahren »wiederentdeckt«, von einer extremen Rechten auf der Suche nach Vordenkern und einer extremen Linken, die von seiner antiliberalen Radikalität und seinem Kult der Stärke fasziniert war.
11Siehe dazu Philippe Urfalino, »Un nouveau décisionnisme politique: la philosophie du populisme de gauche«, Archives de philosophie, Januar 2019. Hier ist daran zu erinnern, dass die Kritik an den »diskutierenden Klassen« sich wie ein roter Faden durch das antiliberale (heute würde man sagen, rechtsextreme) Denken zieht, von Donoso Cortés über Barrès und Maurras bis zu Carl Schmitt. Sie ist auch die Wurzel des Antiintellektualismus, der diese Autoren vereint. Ihrer Meinung nach muss die Logik der Intellektuellen zurückstehen hinter dem Instinkt der einfachen Leute, der allein eine richtige Beziehung zur Realität ausdrückt.
12So lautet übrigens die explizite Definition von Alain de Benoist in: Démocratie: le problème.
13Zitiert in dem Werk von Cas Mudde und Cristóbal Rovira Kaltwasser, Populismus: eine sehr kurze Einführung, S.40.






