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3Ein Repräsentationsmodus: der Homme-peuple
Der Populismus preist ein homogenes, in seiner Ablehnung der Eliten und Oligarchien vereintes Volk. Ein Volk auch, das eine politische Kaste verwünscht, die beschuldigt wird, nur Eigeninteressen zu verfolgen und keinen repräsentativen Charakter mehr zu haben. Daher die Ablehnung der Parteiform, die mit der Herrschaft realitätsferner Apparate und Gebetsmühlen gleichgesetzt bzw. beschuldigt wird, durch endlose Machtkämpfe konkurrierender Gruppen gelähmt zu werden. Insofern aus letzterem Grund die Bevorzugung einer anderen Art politischer Organisation: die der Bewegung. Neben ihrem ursprünglichen Anliegen, frisches Blut ins öffentliche Leben zu bringen, unterscheiden sich die populistischen Bewegungen auch strukturell von den Parteien. Waren die Parteien idealiter als organisierter Ausdruck spezifischer, sozial, territorial oder ideologisch definierter Gruppen gedacht, so erheben Bewegungen den Anspruch, die gesamte Gesellschaft zu umfassen.1 Die Repräsentation der Gesellschaft war über die Parteien leicht zu denken, weil diese ja gerade Ausdruck klar definierter, bestehender Realitäten waren (die Arbeiterklasse, die bäuerliche Welt, die Handwerker und Gewerbetreibenden, religiöse Gemeinschaften usw.). Mit den populistischen Bewegungen stellt sich die Sache anders dar. Sie bilden sich zunächst auf eine stärker negative Weise heraus, durch eine Reihe von Ablehnungen und Verwünschungen. Doch parallel dazu sind sie mit dem immer diffuseren Charakter des Volkes konfrontiert, als dessen Vorreiter sie sich verstehen. Der Niedergang der politischen Parteien hängt übrigens teilweise mit dieser Realität zusammen. Sie sind nicht nur Opfer ihrer Antiquiertheit und ihrer Verknöcherung: sie finden ihren Platz nicht mehr in einer Gesellschaft, die sich radikal verändert hat, einer Gesellschaft, in der die sozialen Verhältnisse immer fragmentierter sind.2 Auch in diesem Kontext hat die populistische Botschaft eine positive Aufnahme gefunden, weil ihre Globalisierung das Gefühl vermittelte, sie könne inmitten dieser Zersplitterung etwas Gemeinsames erzeugen. Doch reicht ihr anklägerischer Diskurs nicht aus, um den Repräsentationsmangel zu füllen, der die heutigen Demokratien charakterisiert. Daher die Rolle, die die Führungsfigur spielt, um dieser Botschaft Kohärenz und Wahrhaftigkeit zu verleihen.
Der lateinamerikanische Präzedenzfall
Der lateinamerikanische Populismus hat um die Mitte des 20. Jahrhunderts auf exemplarische Weise diese wesentliche Dimension der heutigen Populismen veranschaulicht. Das ist nicht verwunderlich, denn er tauchte in gering industrialisierten Ländern auf, die weniger in Klassen geteilt als von latifundistischen und oligarchischen Herrschaftsformen bestimmt waren. Der Gegensatz zwischen Volk und Eliten war somit für einen Großteil der Bürger*innen am einleuchtendsten. In diesem Kontext trat die Thematik des Homme-peuple in Erscheinung. »Ich bin kein Mensch, ich bin ein Volk«, dieser bis zum Überdruss wiederholte Satz der kolumbianischen Führerfigur der 1930er und 1940er Jahre, Jorge Eliécer Gaitán3, gab die Richtung vor für die späteren Populismen auf dem ganzen Kontinent. Sein Lebenslauf verdient, einen Augenblick bei ihm zu verweilen, denn in ihm drückt sich die Doppelnatur dieses kommenden Populismus aus, der ebenso vehement antikapitalistisch wie fasziniert von den seinerzeit im Aufstieg befindlichen Faschismen war. Als Student in Rom schrieb er 1926–1927 eine Doktorarbeit bei Enrico Ferri, einem berühmten, vom Sozialismus zum Faschismus gewechselten Kriminologen, der zu seinem Förderer wurde. Gaitán hatte mehrfach Gelegenheit, an Versammlungen von Mussolini teilzunehmen und zeigte sich beeindruckt von dessen Fähigkeit, seine Zuhörer*innen zu beherrschen und die Energie einer Menge zu steuern. Er studierte sogar sorgfältig die Gestik des Duce und seine Art, die Stimme zu modulieren, um sich der Aufmerksamkeit seines Publikums zu versichern – Techniken, die er für sein eigenes politisches Handeln in Kolumbien übernahm. Als »Kandidat des Volkes« wurde Gaitán, zugleich Antikapitalist und Gegner der traditionellen Oligarchie, im Vorfeld der Präsidentschaftswahlen von 1948 ermordet (wir kommen später auf sein Werk zurück). Seit dieser Zeit steht sein Name symbolisch für den lateinamerikanischen Populismus, in seiner Sprache wie in seinem antioligarchischen Engagement, mitsamt seinen Ambiguitäten. Er wurde von Fidel Castro ebenso bewundert wie von Juan Perón. Perón, der sich ebenfalls als Homme-peuple verstand, der von »Depersonalisierung« sprach, um die Pläne zu bezeichnen, die die Revolution in ihm angelegt habe4, und davon überzeugt war, dass seine Individualität in der der Argentinier*innen aufgegangen sei.
Hugo Chávez, der sich ausdrücklich auf Gaitán bezog, bekräftigte diese Formel im venezuelanischen Präsidentschaftswahlkampf von 2012. »Wenn ich euch sehe«, wandte er sich üblicherweise an die versammelten Massen, »wenn ihr mich seht, dann fühle ich, dann sagt mir etwas: ›Chávez, du bist nicht mehr Chávez, du bist ein Volk. Ich bin tatsächlich nicht mehr ich, ich bin ein Volk, und ich folge euch, so empfinde ich es, ich habe mich in euch verkörpert. Ich habe es gesagt und wiederhole es: Wir sind Millionen Chávez; auch du, venezuelanische Frau, bist Chávez; und du, venezuelanischer Soldat, bist Chávez; du auch, Fischer, Ackersmann, Bauer, Händler, bist Chávez. Denn Chávez ist nicht mehr ich, Chávez ist ein ganzes Volk!«5 So lebte die alte Idee einer spiegelbildlichen Repräsentation6 wieder auf. In seiner ersten Antrittsrede als Staatspräsident hatte Chávez 1999 seinem Publikum zugerufen: »Heute verwandle ich mich in euer Werkzeug. Ich existiere kaum, und ich erfülle das Mandat, das ihr mir anvertraut habt. Bereitet euch aufs Regieren vor!«7
Die organische Führungsfigur
Die lateinamerikanischen Beispiele hatten noch bis vor Kurzem einen »exotischen« Charakter. Doch das Erstarken der Populismen zeigt eindeutig, dass dieses Verständnis der Führungsfigur als »Hommepeuple« für eine Sicht der politischen Repräsentation steht, die ihnen allen gemeinsam ist. Während des französischen Präsidentschaftswahlkampfs von 1995 hatte der Front national folgenden Spruch auf seine Plakate gedruckt: »Le Pen, le peuple«. Die Frage wurde später von denen explizit theoretisiert, die als die organischen Intellektuellen jener bereits erwähnten Strömung der Linken gelten, Ernesto Laclau und Chantal Mouffe. »Der Populismus«, betonte Ersterer, »erfordert als seine Entstehungsbedingung eine neuartige Vertikalität. Das Volk als Kollektivakteur muss sich um eine gewisse Identität herum bilden. Doch diese Identität ist nicht automatisch gegeben: Sie muss erzeugt werden.«8 Das bedeutet für ihn, dass neben der »horizontalen Ausdehnung demokratischer Äquivalenzen« eine »vertikale Verbindung mit einem hegemonialen Signifikanten« treten muss, »der zumeist der Name einer Führungspersönlichkeit ist«.9 Die gleiche Einschätzung findet sich bei Chantal Mouffe: »Um aus heterogenen Forderungen einen Kollektivwillen zu erzeugen«, schreibt sie, »braucht es eine Person, die ihre Einheit repräsentieren kann. Ein populistisches Moment ohne Führungsfigur kann es also nicht geben, so viel ist klar.«10
Von links aus formuliert, sorgten solche Thesen für eine gewisse Verwirrung. Sie wurden jedoch von ihren Verfasser*innen vehement verteidigt. Indem diese zunächst der von ihnen erwünschten Führungsfigur von dem »sehr autoritären Verhältnis« abgrenzten, das die Beziehungen zwischen Volk und Führer im Rechtspopulismus charakterisiere. Doch stand das Argument auf schwachen Füßen, weil es auf einem bloßen Apriori beruhte. Interessanter waren ihre Überlegungen zur allgemeinen Besonderheit des Homme-peuple. Dieser war für sie eine Führungsfigur, die als solche nur existiert, wenn sie tatsächlich das Leben und die Forderungen der Repräsentierten verkörpert; wenn sie, kurz gesagt, eine wirkliche Macht zur Verkörperung aufweist. In diesem Fall kann man sagen, dass sie idealerweise eine depersonalisierte Führungsfigur ist, eine reine Repräsentantin, eine total in ihrer Funktionalität aufgehende Figur ist, himmelweit entfernt also von jeglicher Form von Personenkult, mitsamt dem darin enthaltenen Herrschaftsverhältnis.11 Idealerweise, wohlgemerkt. Die Führungsfigur kann hier als reines Organ des Volkes betrachtet werden.12 Er ist nicht mehr nur der Gewählte oder Delegierte, das heißt der Repräsentant im verfahrenstechnischen Sinne: es ist derjenige, der das Volk präsent macht, im übertragenen Sinne des Wortes, der ihm Form und Aussehen gibt. Die zunehmende Personalisierung des politischen Lebens ist zwar ein universelles Faktum, das mit der von der Exekutive errungenen Vormachtstellung zusammenhängt (während die Legislative stets eine plurale Körperschaft ist), doch gibt es in der Figur der organischen Führungsfigur etwas spezifisch Populistisches.
In dieser Hinsicht sind die unverhohlenen Äußerungen eines Jean-Luc Mélenchon aufschlussreich, der seinen Gegnern ins Gesicht sagte: »Ich gehöre zum Volk. Ich bin niemals mehr gewesen und will es auch nicht sein; ich verachte jeden, der das Bestreben hat, mehr zu sein.«13 Eines Mélenchon, der 2017 beim Besuch des Forum Romanum ausgerufen hatte: »Cäsar stand dem Volk nahe. Es waren die Patrizier, die Feinde des Volkes, die ihn ermordeten. Das Interessante ist, Cäsar als eine volkstümliche Gestalt zu sehen.«14 Eines Mélenchon, der feststellte, dass Politik mehr denn je impliziere, »einen kollektiven Affekt zu erzeugen«, aber gleichzeitig der Ansicht war, dieser müsse »abgebaut werden, um rationale Optionen zu verankern«. Eines Mélenchon, der die Personalisierung der Macht ehrlich für »unerträglich« hält, sich aber gleichzeitig wünscht, »den tribunizischen Weg weiterzugehen«. Eines Mélenchon, der nachdenklich und zugleich entschlossen ist, die Kleider jenes Homme-peuple zu tragen, mit denen er den Populismus betreten hat. Auf die Frage, wie er denn meine, dass die einfachen Leute ihm folgen könnten, antwortete er: »Sie können sich mit mir identifizieren […]. Die Leute, denen ich auf der Straße, im Bus, in der Metro begegne, spüren instinktiv, wer ›mit ihnen‹ ist.«15 Eine solche Auffassung der Repräsentation als Verkörperung ist allgegenwärtig in der populistischen Galaxie. Selbst ein Donald Trump hatte in seiner Antrittsrede als Präsidentschaftskandidat vor dem republikanischen Konvent nicht vor den Worten zurückgeschreckt: »Ich bin eure Stimme.«16 Die Vornahme einer solchen Identifikation ist selbst schon ein Programm. Jenseits der Formulierung von Reformvorschlägen ist somit das Besondere populistischer Politik die Gründung auf ein fleischgewordenes Wort, dem eine sozusagen existenzielle Dimension innewohnt. Es wendet sich an die Affekte ebenso wie an den Verstand, wir werden auf diesen zentralen Punkt zurückkommen.
1Bezeichnenderweise sagt Jean-Luc Mélenchon über La France insoumise: »Wir wollen keine Partei sein. Die Partei ist das Werkzeug der Klasse. Die Bewegung ist die organisierte Form des Volkes«, Le 1 Hebdo, Nr. 174, 18. Oktober 2017.
2Vergleiche dazu mein Werk Le Peuple introuvable. Histoire de la représentation démocratique en France.
3Siehe Jorge Eliécer Gaitán, Escritos politicos.
4Rede vom 1. Mai 1974, in Juan Domingo Perón, El modelo argentino, Gualeguaychú 2011, S.11.
5Rede vom 12. Juli 2012. Wortwörtlich wiederholt am 9. und 24. September 2012.
6Erwähnt sei, dass der Subcommandante Marcos das permanente Tragen einer Sturmhaube seit seiner Flucht nach Chiapas (Mexiko) in diesem Sinne rechtfertigte: Als man ihn fragte, wer sich hinter der Maske verberge, antwortete er: »Wenn du wissen willst, wer Marcos ist, nimm einen Spiegel, das Gesicht, das du darin siehst, ist das von Marcos. Denn Marcos bist du, Frau, bist du, Mann; bist du, Indigener, Bauer, Soldat, Student … Wir alle sind Marcos, ein ganzes aufständisches Volk« (zitiert bei Ignacio Ramonet, Marcos, la dignité rebelle. Conversations avec le sous-commandant Marcos; Hervorhebung von mir).
7Hugo Chávez, Seis discursos del Presidente constitucional de Venezuela, S.47.
8Ernesto Laclau, »Logiques de construction politique et identités populaires«, S.153.
9Ebd., S.156.
10Chantal Mouffe/Iñigo Errejón, Construire un peuple. Pour une radicalisation de la démocratie, S.169.
11Hinsichtlich der Einführung des Führers in ein linkspolitisches Denken kann man sich auf das Werk von Jean-Claude Monod, Qu’est-ce qu’un chef en démocratie? Politiques du charisme, beziehen. Siehe auch das Nachwort zur Neuauflage in der Sammlung »Point« von 2017.
12Die Leser*innen, die diesen Begriff vertiefen möchten, können sich auf die Theorie des Organs im deutschen Staatsrecht Ende des 19. Jahrhunderts beziehen, bzw. die entsprechenden Ausführungen bei Raymond Carré de Malberg in seiner meisterlichen Contribution à la théorie générale de l’État. Im Populismus liegt somit eine implizite Übertragung dieser Theorie des Organs auf die Figur des Führers vor (während Carré de Malberg das Parlament zum Organ einer an sich nicht repräsentierbaren Nation machte).
13Robespierre-Zitat von Jean-Luc Mélenchon in seinem Buch L’Ère du peuple, S.31.
14Wiedergegeben in Lilian Alemagna und Stéphane Alliès, Melenchon à la conquête du peuple, S.410. Die folgenden Zitate sind demselben Werk entnommen.
15Interview in Le 1 Hebdo, Nr. 174, 18. Oktober 2017. Man könnte auch erwähnen, dass er, während der turbulenten Haussuchung in den Räumlichkeiten von La France insoumise am 16. Oktober 2018, nicht vor der Behauptung zurückschreckte: »Die Republik bin ich«, »Meine Person ist heilig« oder: »Ich bin mehr als Jean-Luc Mélenchon, ich bin 7 Millionen Personen« (wiedergegeben in: Le Monde, 19. Oktober 2018).
16Rede vom 22. Juli 2016.
4Eine Wirtschaftspolitik und -philosophie: der Nationalprotektionismus
Die Geschichte moderner Wirtschaften folgte einem langfristigen Trend: dem zur Ausdehnung des Handelsverkehrs auf inländischer wie auf internationaler Ebene. Die zunehmende Spezialisierung von Produktionstätigkeiten und die Kostenvorteile durch Massenproduktion begünstigten also die Ablösung der Wirtschaften von einem bestimmten Territorium und die Bildung eines Weltmarktes. Doch wurden die von dieser Tendenz in Richtung Freihandel erwarteten Vorteile immer wieder hinterfragt. Schon zu Beginn des 19. Jahrhunderts wurde der Optimismus eines Adam Smith oder David Ricardo wegen der Abstraktheit der ihm zugrunde liegenden Vorstellung vom Wohlstand der Nationen kritisiert. In Frankreich, Deutschland und den Vereinigten Staaten stießen deshalb Appelle zur Einführung eines gezielten Protektionismus bei den Regierungen auf offene Ohren, und zwar aus sozialen und politischen ebenso wie aus wirtschaftlichen Gründen. »In Sachen Industrie sind wir Bewahrer und Beschützer«, sagte beispielsweise ein Guizot, führender Vertreter des politischen Liberalismus im Frankreich dieser Tage.1 Er fürchtete in der Tat, dass der Freihandel, wie er sich ausdrückte, »Unruhe in die bestehende Ordnung bringt«, und verteidigte deshalb, mit seinen Freunden, die »nationale Arbeit« gegen die »kosmopolitische Konkurrenz«. In Deutschland veröffentlichte der Wirtschaftswissenschaftler Friedrich List 1841 sein Nationales System der Politischen Ökonomie, das die Zukunft seines Heimatlandes nachhaltig beeinflusste. Er schlug darin die Bildung eines Zollvereins vor, um die politische Einigung des Landes auf Grundlage einer wirtschaftlichen Schutzzone voranzutreiben. Seine Sichtweise hatte nichts Doktrinäres: Protektionismus war für ihn ein umstandsbedingtes Instrument zur »industriellen Erziehung der Nation«2. Das Gleiche galt für Amerika, das in den letzten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts seine ausländischen Importe drosselte, um den Aufschwung seiner verarbeitenden Industrie zu fördern.
Diese Besorgnisse und Vorbeugemaßnahmen bilden seit zwei Jahrhunderten die Grundlage für eine Art ständigen Wechsel zwischen Wellen des Protektionismus und des Freihandels auf nationaler Ebene. Sie stehen immer noch im Mittelpunkt der Debatten, wie die Kontroversen von 2019 über die europäischen Handelsabkommen mit Kanada und dem Mercosur bezeugen oder die wiederkehrenden Fragen, wie man der Unausgewogenheit der Handelsbeziehungen mit China begegnen solle. Doch in all diesen Fällen, vergangenen wie aktuellen, wurde die Frage des richtigen Maßes an Protektionismus zumeist aus pragmatischer Sicht behandelt. Was variierte, war allein die wahrgenommene Dringlichkeit der Frage oder die Art der zu berücksichtigenden Probleme (die ökologischen Kosten eines weltweiten Freihandels haben beispielsweise eine ganz neue Bedeutung angenommen). Die Verteidigung des Protektionismus, die im Zentrum der ökonomischen Betrachtungsweise vieler populistischer Bewegungen steht, ist hingegen von anderer Art. Sie hat eine viel umfassendere Dimension. Sie verweist zugleich auf eine Auffassung von Souveränität und politischem Willen, eine Philosophie der Gleichheit und ein Verständnis von Sicherheit.
Die Rückkehr des politischen Willens
Aus protektionistischer Perspektive wird die Herrschaft des Freihandels und der ihn begleitenden Globalisierung nicht nur im Hinblick auf die wirtschaftliche und soziale Bilanz bewertet, die man aus ihnen ziehen könnte, ob im globalen Rahmen oder an spezifischen Punkten. Sie werden zunächst als Urheber einer Zerstörung des politischen Willens angeprangert. Denn sie gehen mit der Übertragung der Regierungsmacht auf anonyme Mechanismen einher und verabschieden so die Möglichkeit einer souveränen Bestimmung der Völker über ihr Schicksal. Sie entwerfen eine vermeintlich von »objektiven« Regeln regierte Welt, die bereits dem Gedanken an eine Alternative zur bestehenden Ordnung jede Grundlage entzieht.3 Diese Enteignung wird noch verschärft durch den Aufstieg unabhängiger Behörden, die sich überall in ihrem Gefolge ausbreiten. Für die europäischen Populismen erscheint die Europäische Union als Symbol und Labor dieser perversen Vereinnahmung der Volksmacht durch Expert*innenwissen und die unsichtbare Hand des Marktes. Sie veranschaulicht in ihren Augen auf exemplarische Weise die Einführung einer »Regierung durch Zahlen«, die an die Stelle der Ausübung des politischen Willens tritt.4
Diese Kritik bildete die Grundlage für den Erfolg des Brexit-Votums in Großbritannien von 2016, bei dem sich Boris Johnson und Nigel Farage als Vorkämpfer des »Can do« (Man kann es schaffen) durch Wiederherstellung einer aktiven (und wohltuenden) Souveränität des britischen Volkes über sein Schicksal präsentierten. Zwar befürworteten Johnson und Farage auch einen gewissen Liberalismus im Bereich des Außenhandels, doch blieb dieser ganz einer nationalistischen Sicht der Wirtschaft verpflichtet. In Frankreich wird Marine Le Pen nicht müde, auf der gleichen Basis die anonyme Macht des »göttlichen Marktes« zu kritisieren, und sieht in der Europäischen Union, der »Avantgarde der Globalisierung«, die exemplarische Illustration eines »Verzichtshorizonts«.5 Der Verantwortliche für das Wirtschaftsprogramm von Jean-Luc Mélenchon wiederum publizierte zur selben Zeit ein Werk mit dem sprechenden Titel Nous, on peut!6 und dem noch expliziteren Untertitel »Warum und wie ein Land gegenüber den Märkten, den Banken, den Krisen stets agieren kann, wie es will«. Dieses Plädoyer zugunsten des Nationalprotektionismus verstand sich somit klar und deutlich als Teil einer demokratischen Erneuerung, weit hinaus über die bloße Thematisierung der Frage unter wirtschaftspolitischen Aspekten. Es ist deshalb einer der Grundpfeiler der populistischen Sicht des politischen Willens.
Dieses demokratietheoretische Verständnis des Protektionismus ist in der populistischen Denkweise unmittelbar mit der Analyse der Immigration verknüpft. Deren Zunahme wird nämlich als ein Prozess beschrieben, der dem Land von den herrschenden Klassen, die nach billiger Arbeitskraft streben, aufgezwungen wird; ohne dass irgendeine demokratische Entscheidung ihn explizit gutgeheißen hätte.7 Es liegt also auf diesem Gebiet für die Populist*innen eine nicht akzeptable Umgehung des Volkswillens vor, als Produkt einer kapitalistischen Strategie, die zu einer Deklassierung und Schwächung der einheimischen Volksschichten geführt hat. Erweitert auf die Wiedererlangung der Kontrolle über die Migrationsströme wird das protektionistische Gebot somit auch als Teil einer Stärkung der Volkssouveränität betrachtet. Der politische Souveränitätsbegriff ist auch hier, in populistischer Sicht, absolut untrennbar vom Verständnis wirtschaftlicher und sozialer Fragen.
Eine Auffassung von Gerechtigkeit und Gleichheit
Es gibt zwei Arten, Gerechtigkeit und Gleichheit zu verstehen. Zum einen, indem man die relativen Positionen der Individuen berücksichtigt, das heißt in erster Linie der verschiedenen Kategorien von Ungleichheiten, die sie charakterisieren, ob unter dem Gesichtspunkt der Einkommen, der Vermögen oder der Chancen. Ziel wäre in diesem Fall, Differenzen, die eventuell zu rechtfertigen wären, von solchen zu unterscheiden, die durch steuer- und umverteilungspolitische Maßnahmen oder durch die Erhöhung des individuellen Humankapitals reduziert werden müssen. Das ist die geläufigste Art, das demokratische Gleichheitsgebot zu interpretieren. Es gibt aber noch eine andere, mindestens ebenso wichtige, die aber vielleicht weniger im Fokus der Aufmerksamkeit steht: nämlich Gleichheit als Qualität einer zwischenmenschlichen Beziehung zu betrachten (die Gleichheit zwischen Mann und Frau definiert sich somit durch die Tatsache, als Gleiche zusammenzuleben und nicht nur unter Verteilungsgesichtspunkten) sowie als Qualität einer menschlichen Gemeinschaft (die Tatsache, dass jeder anerkannt wird, dass eine Art Harmonie zwischen ihren Angehörigen existiert, dass sie ein aktives Gemeinwesen bilden).8 Diese beiden Dimensionen der Gleichheit sind untrennbar: Es ist keine Gemeinschaft von Bürger*innen möglich, wenn ihre Lebensbedingungen dafür sorgen, dass sie sich in vollkommen getrennten Welten bewegen. Vielmehr sind sie gleichzeitig mit Arten von Institutionen und spezifischen Politiken verbunden, die ihnen Konsistenz verleihen.
Die spezielle populistische Sicht dieses Gleichheitsgebots ist durch zwei wesentliche Merkmale gekennzeichnet. Sie fokussiert sich zunächst auf die Kluft zwischen dem 1% und den 99% in Sachen Verteilungsgleichheit und tendiert zugleich dazu, die übrigen Äußerungen von Ungleichheit innerhalb der Welt der 99%, die doch alles andere als homogen ist, in den Hintergrund zu rücken (und umgekehrt die Einheit des 1%-Universums vorauszusetzen). Des Weiteren legt sie den Hauptakzent auf die eigentlich zivile oder gesellschaftliche Dimension der Gleichheit, die von den herrschenden Herangehensweisen an diese Frage oft vernachlässigt wird. Aber sie tut dies auf eine spezielle Weise. Sie wertet nämlich die Begriffe der Identität und Homogenität auf, um die Beschaffenheit einer »guten Gesellschaft« zu beschreiben, die eine demokratische Nation bildet. Und auf diese Weise verknüpft sich die Sicht der Gleichheit mit dem nationalprotektionistischen Verständnis der Wirtschaft. Die protektionistische Vorstellung setzt nämlich voraus, dass es eine gut entwickelte Einheit gibt, die zu verteidigen wäre, eine Einheit, die sich eindeutig von dem unterscheidet, was ihr äußerlich wäre. Der Begriff der Gleichheit verschmilzt also in diesem Fall mit dem der Einbeziehung in ein homogenes Ganzes. In diesem Sinne verstanden, bildet die Zugehörigkeit zur Nation eine Form negativer Gleichheit, die eine als Distanzgemeinschaft definierte Gruppe erzeugt. Mit Ausländer*innen, in juristisch offenkundiger Weise, aber im weiteren Sinne mit allen Arten von Unerwünschten oder Feinden, die am Ende mit ihnen gleichgesetzt werden. Das Gefühl der Gleichheit speist sich in diesem Fall aus der ständigen Notwendigkeit, diese Distanz wiederzubeleben. Das trägt dazu bei, die »internen« Ungleichheiten zu relativieren und sie im Wesentlichen als Folge der Globalisierung zu betrachten, mit der Ausdehnung der Marktsphäre, der gesteigerten individuellen Mobilität, der Verschärfung der Konkurrenz und der liberalen Wertschätzung der sich daraus ergebenden Differenzen.






