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Demgegenüber wird in der deutschen Literatur die These vertreten, dass die Betreuungen (d. h. die Beistandschaften des deutschen Rechts) weitgehend kein Eingriffssozialrecht darstellen würden. Wenn man davon ausgehen könne, dass Sinn und Zweck der Massnahmen auf die altruistisch geprägte Teilhabe am Geschäftsverkehr bzw. am gesellschaftlichen Leben abzielen würden, dann werde mit der Massnahme nicht in die Persönlichkeitsrechte eingegriffen, sondern diese würden verwirklicht. Die Betreuung ermögliche die gleichberechtigte Teilhabe. So sei es auch Aufgabe der Betreuungsperson, die betreute Person vor unangemessenen staatlichen Eingriffen zu schützen. Nur dort, wo die eigenverantwortliche Entscheidung des Grundrechtsträgers missachtet würde, gehe es um grundrechtlich relevante Eingriffe. Damit würde aber die Betreuungsperson – zumindest nach deutschem Recht – seine Kompetenzen überschreiten.[20] Dementsprechend seien weder die Betreuung noch die einzelnen Handlungen der Betreuungsperson grundrechtlich relevant.[21] Trotzdem bestehe latent die Gefahr, dass die Betreuungsperson im Einzelfall potenziell in die Grundrechte eingreife – insbesondere dort, wo es um irreversible Eingriffe im Bereich der Tathandlungen gehe. Deshalb hätten die materiellen und verfahrensrechtlichen Regeln freiheitssichernde Funktion, und die Betreuungsperson tue gut daran, ihr Verhalten an den grundrechtlichen Voraussetzungen auszurichten.[22] Daraus kann geschlossen werden, dass selbst hier die Anordnung der Massnahme und auch die Handlungen der Betreuungsperson grundrechtsähnlich im Sinne eines «vorbeugenden Grundrechtsschutzes»[23] erfolgen sollten.
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Für die schweizerische Rechtsordnung erscheint diese Auffassung nur bedingt zutreffend. Zwar ermöglicht die altruistisch geprägte Beistandschaft die Teilhabe an der Gesellschaft bzw. am Rechtsverkehr. Daneben besteht aber die Aufgabe des Beistandes auch darin, die betroffene Person vor selbstschädigenden Handlungen zu schützen.[24] Damit verbunden sind im Einzelfall mehr oder minder starke Kontrolle bzw. auch Fremdbestimmung. Im Unterschied zum deutschen Recht kann bzw. muss der Beistand durchaus auch gegen den Willen einer urteilsfähigen Person entscheiden. So können nach schweizerischem Recht auch Beistandschaften gegenüber urteilsfähigen Personen angeordnet werden. Bei der Begleit- oder Mitwirkungsbeistandschaft ist die Urteilsfähigkeit sogar Voraussetzung der Massnahmeerrichtung, und trotzdem rechtfertigt der Schutz diesen Eingriff.[25] Folglich handelt es sich beim behördlichen Erwachsenenschutz potenziell massgeblich um Fremdbestimmung,[26] und die schweizerische Lehre und Rechtsprechung gehen von einem Grundrechtseingriff bei Beistandschaften aus.[27] Hinzu kommt die faktische und rechtliche Nähe des Erwachsenenschutzes zum Verwaltungsrecht und dort die Zuordnung zur Eingriffsverwaltung.[28]
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Im Rahmen des revidierten Erwachsenenschutzrechtes gehören primär die behördlichen Massnahmen zum Eingriffssozialrecht. Daneben finden sich aber auch weitere Bereiche des revidierten Rechts, die dem Eingriffssozialrecht zuzuordnen sind, wie z. B. das Einschreiten der Erwachsenenschutzbehörde beim Vorsorgeauftrag (Art. 368 ZGB) oder bei bewegungseinschränkenden Massnahmen (Art. 385 ZGB). Inwieweit die Begleitbeistandschaft aufgrund ihres Zustimmungserfordernisses auch dazu gehört, wird weiter unten beim Grundrechtsverzicht vertiefend erörtert.[29]
4. Erwachsenenschutzrecht als Teil des Personen- und Familienrechts
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Zivilrechtlicher Erwachsenenschutzrecht ist formal Privatrecht.[30] Es findet sich im zweiten Titel des Zivilgesetzbuches im Familienrecht, und zwar in der dritten Abteilung mit dem Titel Erwachsenenschutz respektive ehemals Vormundschaft. Privatrechtlich geprägt sind im revidierten Recht insbesondere die Bestimmungen über die eigene Vorsorge, also die Patientenverfügung gemäss Art. 370 ff. ZGB, der Vorsorgeauftrag gemäss Art. 360 ff. ZGB sowie die gesetzlichen Vertretungsrechte gemäss Art. 374 ff. ZGB. Sie sind allesamt nicht von Amtes wegen durchsetzbare Regeln für Rechtsbeziehungen unter Privatpersonen, bei denen im Konfliktfall die Erwachsenenschutzbehörde entscheidet.[31] Ebenso unterliegen die schutzbedürftigen Personen nicht dem direkten staatlichen Zugriff.
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Der vom Staat eingesetzte, mit einer gewissen Unabhängigkeit ausgestattete Beistand handelt Dritten gegenüber privatrechtlich für die schutzbedürftige Person.[32] Auch die Bestimmungen, welche die Handlungsfähigkeit respektive die Einschränkung der Handlungsfähigkeit konkretisieren, gehören dem Privatrecht an. Sie ergänzen das Handlungsfähigkeitsrecht des Personenrechts.[33] Hiervon ausgeschlossen sind einzig behördliche Massnahmen, welche die Handlungsfähigkeit nicht berühren, wie die fürsorgerische Unterbringung und die Begleitbeistandschaft,[34] aber auch die Vertretungsbeistandschaft ohne Beschränkung der Handlungsfähigkeit.[35] Deshalb ist der Verweis auf den Zusammenhang von Handlungsfähigkeitsrecht und Erwachsenenschutz nicht in jedem Fall ausreichend. Erwachsenenschutz hat entsprechend eine weitergehende Aufgabe, als lediglich Mankos im Handlungsfähigkeitsrecht zu überbrücken.
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Erwachsenenschutzrecht ergänzt zwar in Bezug auf die Beschränkung der Handlungsfähigkeit das Personenrecht; Anknüpfungspunkt ist jedoch ein anderer: Beim Erwachsenenschutzrecht wird die Anordnung behördlicher Massnahmen in jedem Fall auf eine Schutzbedürftigkeit zurückgeführt, die auf einem Schwächezustand basiert.[36] Dabei kann die (teilweise) fehlende Urteilsfähigkeit durchaus einen Schwächezustand begründen. Dies ist aber nicht zwingend, da selbst unter umfassender Beistandschaft stehende Personen urteilsfähig sein können.[37] Damit zeigt sich, dass Erwachsenenschutz auch gegenüber urteilsfähigen Menschen möglich ist. Diese Perspektive deutet demnach eher auf einen öffentlich-rechtlichen Bezug hin.[38] Trotzdem gehen Lehre und Rechtsprechung davon aus, dass das Verhältnis der Beistandsperson zur verbeiständeten Person überwiegend privatrechtlich geprägt ist.[39]
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Die inhaltliche Begründung, weshalb Erwachsenenschutzrecht dem Familienrecht zugeordnet wird, findet sich in seiner historischen Nähe zum Familienrecht. Die Massnahmen des Erwachsenenschutzes wurden massgeblich von denjenigen über Minderjährige und gegenüber den damals nicht selbstständigen Frauen abgeleitet.[40] Dies zeigt sich insbesondere bei der Vermögens- und der Personensorge, bei denen die Bestimmungen über die Erziehung Minderjähriger Vorbild für die Normen im Erwachsenenschutz waren.[41]
5. Erwachsenenschutzrecht als Teil des Verwaltungsrechts
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Erwachsenenschutzrecht wird als Mischgebilde von privatem und öffentlichem Recht gesehen.[42] Dort, wo es rechtstheoretisch öffentliches Recht darstellt, ist es in der Regel Verwaltungsrecht.[43]
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Die grundrechtlichen Überlegungen zum Eingriffssozialrecht[44] schaffen eine besondere Nähe zum Verwaltungsrecht. Fragt man nach der Wirkungsweise der Verwaltungstätigkeit oder danach, mit welchen Mitteln und in welchem Mass die Verwaltungshandlung zur Erfüllung von Verwaltungsaufgaben beiträgt,[45] so wird üblicherweise zwischen Leistungs- und Eingriffsverwaltung unterschieden.[46] Im Rahmen der Leistungsverwaltung gewährt der Verwaltungsträger Privaten staatliche, insbesondere wirtschaftliche und soziale Leistungen, namentlich Sach–, Geld- oder Dienstleistungen. Die Verwaltung tritt hier fördernd und unterstützend auf. Typische Bereiche sind die Sozialversicherungen, die Sozialhilfe sowie die Förderung der Landwirtschaft.[47] Demgegenüber liegt Eingriffsverwaltung vor, wenn Rechte und Freiheiten von Privaten beschränkt werden bzw. in diese Rechte und Freiheiten eingegriffen wird. Dem Bürger werden Verpflichtungen oder Belastungen auferlegt; dieser muss die Einschränkungen seiner Freiheit gemäss dem öffentlichen Interesse dulden. Der Verwaltungsträger tritt befehlend bzw. hoheitlich auf und begründet entsprechende Rechtsverhältnisse in der Regel mit Verfügungen.[48] Die Unterscheidung in Leistungs- und Eingriffsverwaltung fokussiert die Wirkung der eingesetzten Massnahmen: «Der Blick richtet sich darauf, wie das Verwaltungshandeln beim Adressaten ‹ankommt› – ob als Belastung oder Begünstigung.»[49] Die Kategorisierung ist nicht trennscharf auseinander zu halten und somit typologisch, da beide Elemente durchaus auch in Kombination auftreten können (z. B. Sozialhilfe und Kürzung der Sozialhilfe).[50]
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Das Erwachsenenschutzrecht will schutzbedürftigen Menschen, die an einem Schwächezustand leiden, nötigenfalls gegen ihren Willen helfen. Das gesamte Verfahren ist hoheitlich geprägt und sieht u. a. auch Zwang vor,[51] wenngleich Massnahmen durchaus auch von der betroffenen Person beantragt werden können.[52] Die gesamte staatliche Tätigkeit wird aber in aller Regel als Eingriff wahrgenommen.[53] Dementsprechend ist die behördliche Tätigkeit im Erwachsenenschutz der Eingriffsverwaltung zuzuordnen.
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Wichtig ist die Kategorisierung in Bezug auf das Legalitätsprinzip, das bei der Leistungsverwaltung z. T. weniger streng gehandhabt werden kann, so beim Umfang der möglichen und zulässigen Handlungsformen, welche bei den Leistungen etwas breiter sind sowie beim Widerruf belastender Verfügungen, der z.T. leichter möglich ist als bei begünstigenden.[54]
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Hinzu kommt, dass die Kindes- und Erwachsenenschutzbehörde hoheitlich auftritt, was ebenfalls ein typischer Hinweis auf Verwaltungsrecht ist. Die Behörde handelt einseitig aufgrund eines Subordinationsverhältnisses zu den Rechtsunterworfenen.[55] Dazu passen die im Zivilgesetzbuch hierfür verankerte Offizialmaxime und Untersuchungsmaxime gemäss Art. 446 ZGB.
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Betrachtet man die Ausstattung der Beistandschaften, so kann daraus durchaus auch ein verwaltungsrechtlicher Charakter abgeleitet werden, und zwar in Bezug auf den Inhalt der Massnahme, aber auch in Bezug auf ihre Erscheinung durch den eingesetzten Beistand. Dies gilt massgeblich auch bezüglich der auf begleitende Unterstützung ausgerichtete Begleitbeistandschaft: Die Unterscheidungskriterien zwischen Beratungsdienstleistungen im Rahmen der freiwilligen Beratung der dem Verwaltungsrecht zugeordneten Sozialhilfe und derjenigen durch einen Begleitbeistand sind kaum zu erkennen.[56] Hinzu kommt, dass der (private und professionelle) Beistand gegen aussen in aller Regel auch das Gemeinwesen vertritt und als Repräsentant des Staates im Rahmen seiner Aufgabenerfüllung erscheint. Dies zeigen auch die Entlassungsgründe gemäss Art. 423 Ziff. 2 ZGB, die nicht ausschliesslich die Handlungskompetenz in Bezug auf die Beistandschaft anbelangen, sondern auch die Zahlungsunfähigkeit oder unehrenhaften Lebenswandel[57] betreffen können. Neben diesen Aspekten lassen aber auch die nicht dispositiven Pflichten des Beistandes gemäss Art. 405 ff. ZGB, die Beschwerdemöglichkeiten der schutzbedürftigen Person gemäss Art. 419 ZGB sowie die aufsichtsrechtlichen Instrumente gemäss Art. 415 ZGB und der Haftung gemäss Art. 454 ZGB darauf schliessen, dass auch das Verhältnis von Beistandsperson zu verbeiständeter Person im Erwachsenenschutz massgeblich dem Verwaltungsrecht zuzuordnen ist, welches analog anzuwenden ist,[58] auch wenn die herrschende Lehre und Rechtsprechung das Verhältnis schwerpunktmässig dem Privatrecht zuordnet.[59] Diese schwerpunktmässige Zuordnung hat im Unterschied zu derjenigen zur Eingriffs- oder Leistungsverwaltung keine wesentliche praktische Auswirkung, weil die Folgen der Zuordnung weitgehend im Zivilgesetzbuch geregelt sind.[60]
6. Erwachsenenschutzrecht als Teil der Sozialen Arbeit im Zwangskontext
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Gegenstand des Erwachsenenschutzes sind Menschen mit einem Schwächezustand und einem Schutzbedarf. Zur Klärung der Frage, wie diese Menschen in Zukunft am besten unterstützt werden können, bedarf es einer bio-psycho-sozialen Herangehensweise.[61] Dementsprechend ist das Recht auf Nachbarsdisziplinen angewiesen, wie Medizin, Psychiatrie, Treuhand, Psychologie und insbesondere die Soziale Arbeit.[62]
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In der Regel sind es Sozialarbeitende, die im Auftrag der Erwachsenenschutzbehörde Personen und deren Situation hinsichtlich der Schutzbedürftigkeit abklären, aber auch die angeordneten Beistandschaften als Berufsbeistände führen. Dies insbesondere deshalb, weil Soziale Arbeit sich gerade mit der Bewältigung sozialer Probleme im Kontext des sozialen Wandels und sozialer Beziehungen beschäftigt.[63] Soziale Arbeit in diesem deutlich juristisch geprägten Umfeld wird gesetzliche Soziale Arbeit genannt. Da es sich um gesetzliche Soziale Arbeit im Rahmen angeordneter Massnahmen handelt, spricht man auch von Sozialer Arbeit im Zwangskontext.[64] Die Klienten, die nicht aus eigenem Antrieb die Dienstleistungen in Anspruch nehmen, sondern auf Druck des Umfeldes oder sogar gegen ihren Willen, sind Pflichtklienten.[65] Diese Ausgangslage stellt für die sozialarbeiterische Tätigkeit eine Herausforderung dar, weil zunächst in aller Regel an der Vertrauensbildung und Motivation für die Bearbeitung der sozialen Problemlagen gearbeitet werden muss, bevor das konkrete Problem angegangen werden kann.[66] Somit bedarf es in diesem Bereich neben Kenntnisse des rechtlichen Rahmens viel methodischen Wissens und Erfahrung im Umgang mit Widerstand.[67]
1. Einleitung
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Das revidierte Erwachsenenschutzrecht kann nicht ohne Bezugnahme zum vorrevidierten Recht verstanden und interpretiert werden. Es steht am vorläufigen Ende einer rechtshistorischen Entwicklung, die es zu berücksichtigen gilt. Deshalb wird im Rahmen der Grundlagen auch auf diese rechtshistorische Entwicklung eingegangen. Im Hinblick auf die Begleitbeistandschaft steht gemäss dem Gesetzestext des Art. 393 ZGB die «begleitende Unterstützung» im Vordergrund.[68] Diese Form der Hilfestellung bezieht sich weniger auf vermögensrechtliches und Vertretungshandeln, sondern auf die Personensorge.[69] Deshalb soll auch die rechtshistorische Hinführung unter besonderer Berücksichtigung der Personensorge erfolgen. So wird im Folgenden nach einer kurzen (vorläufigen) Erläuterung des Begriffs der Personensorge in einem ersten Schritt ein kurzer Überblick über die rechtshistorische Entwicklung des Erwachsenenschutzes unter besonderer Berücksichtigung der Personensorge dargestellt, um in einem zweiten Schritt konkret auf die Entwicklung des Erwachsenenschutzes und insbesondere der Personensorge im 20. Jahrhundert einzugehen. Schließlich werden grundlegende Schlussfolgerungen für die Personensorge im revidierten Recht gezogen.
2. Personensorge, Vermögenssorge und Vertretung als grundlegende Dreiheit
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Der Begriff «Personensorge» wird im alten und im revidierten Recht unterschiedlich verwendet. Synonym zur Personensorge finden sich die Ausdrücke persönliche Fürsorge, persönliche Betreuung oder persönliche Hilfe. In der vorliegenden Arbeit wird der Begriff Personensorge verwendet, zumal dieser auch im Kindesschutz Verwendung findet.[70]
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Die «Zweiheit» Personensorge und Vermögenssorge bzw. zum Teil die «Dreiheit» der Personensorge, Vermögenssorge und der Vertretung sind eine typologische Strukturierungshilfe für Formen der Schutzbedürftigkeit. Sie umschreiben die geschützten Rechtsgüter im Erwachsenenschutz, welche sich in Lehre und Praxis eingebürgert haben. SCHNYDER/MURER weisen in Bezug auf diese «Zwei»- bzw. «Dreiheit» zu Recht darauf hin, dass es letztlich nur ein geschütztes Rechtsgut gibt, nämlich die (schutzbedürftige) Person selbst.[71] Gleichzeitig stellen sie fest, dass Personen- und Vermögenssorge nicht trennscharf unterschieden werden können; es bestünden Wechselbeziehungen.[72] So kann der Abschluss eines Arbeitsvertrages die Personensorge betreffen (Integration in den Arbeitsmarkt), aber auch die Vermögenssorge (Lohnerwerb), und kann gleichzeitig auch Vertretungshandeln sein, soweit der Mandatsträger hier vertretungsweise unterzeichnet. Es handelt sich somit um eine typologische Unterscheidung.
3. Rechtshistorische Entwicklung
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Bereits das römische Recht kannte die Vormundschaft, die tutela. Sie bezog sich entweder auf Frauen, die unabhängig von ihrem Alter nicht unter einer Hausgewalt (patria potestas) oder unter Manus-Ehe standen, oder aber auf Minderjährige, deren männliche Vorfahren verstorben waren. Der Vormund konnte für Kinder im Alter von unter sieben Jahren selbstständig handeln. Kinder ab dem achten Altersjahr bis zur Geschlechtsreife (Mädchen ab zwölf Jahren, Knaben ab vierzehn Jahren), sog. impuberes infantia maiores, konnten hingegen selbstständig Rechtshandlungen vornehmen; die Rechtswirkungen traten aber nur ein, wenn diese zum Vorteil der Kinder gereichten. Andernfalls war die Zustimmung des Vormundes notwendig. Vormund wurde man entweder von Gesetzes wegen oder aufgrund einer testamentarischen Anordnung.[73] Der Vormund hatte über die Personen und das Vermögen eine Schutzgewalt – ähnlich der patria potestas – und somit ein Herrschaftsrecht, das aber durch den Schutzzweck zugunsten des Mündels (pupillus) eingeschränkt war.[74] Sie war treuhänderisch gedacht, und der Tutor hatte kein Recht über Leben und Tod (ius vitae necisque).[75] Die altrömische Vormundschaft gegenüber Minderjährigen war eigen- und fremdnützig zugleich.[76] Da der Tutor in seiner Funktion gleichzeitig nächster Erbe war, falls das Mündel innerhalb der Mandatszeit verstarb, verwaltete er das Vermögen zwar primär für das Mündel, sekundär aber auch für sich selbst.[77] In der Republik und der späteren Kaiserzeit verschob sich dieses Verhältnis, indem die Eigennützigkeit zurücktrat und das im öffentlichen Interesse auferlegte Amt im Sinne eines Zwangsdienstes (munus) in den Vordergrund gerückt wurde.[78] Die Herrschaft über die Person trat bald hinter die Pflicht, für Unterhalt und Erziehung besorgt zu sein, dies aber vor allem in finanzieller Hinsicht, indem vorab die hierfür erforderlichen Mittel bereitgestellt werden mussten. Die Durchführung der eigentlichen Erziehung im Sinne der Personensorge wurde weitgehend den Müttern überlassen.[79] Gegen die Handlungen des Vormundes waren zum Rechtsschutz des Mündels diverse Klagen vorgesehen und waren entsprechend den Aufgaben des Vormundes auf die Sorgfaltspflichten im Rahmen der Vermögenssorge ausgerichtet.[80]
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Diese der geltenden rechtlichen Regelung schon relativ nahekommende Normierung[81] galt ganz ähnlich auch für die sog. Pflegschaft (cura oder curatio). Sie findet sich bereits in der Mitte des 5. Jahrhunderts v. Chr. im Zwölftafelgesetz und sieht vor, dass bei Geisteskrankheit und Verschwendungssucht eine solche eingerichtet werden musste. Im Anschluss an die Lex Laetoria (ca. 200 v. Chr.) wird sie auf alle volljährigen, aber gewaltfreien Personen, die das 25. Lebensjahr noch nicht beendet haben (Minores), ausgeweitet. Die Minores sind unter der cura minorum zwar bereits vollumfänglich geschäftsfähig; sofern sie aber Verpflichtungen eingehen, die sich für sie als nachteilig erweisen, können sie diese anfechten und die Rückerstattung schon erbrachter Leistungen verlangen. Rechtsgültig ist eine Verpflichtung nur, wenn der Pfleger (curator) zugestimmt hat. Der Pfleger wird eingesetzt vom Magistrat (Prätor) auf eigenen Antrag des Minor – anfänglich nur im Einzelfall mit beschränktem Aufgabenkreis, später regelmässig und ähnlich einem Vormund mit umfassendem Sorgerecht. Die Zustimmung respektive der Antrag des Minores war seit Diokletian ebenfalls Wirksamkeitsvoraussetzung für die Massnahme.[82]
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Die Pflegschaft, die den volljährigen Mann betrifft, der nicht mehr unter patria potestas steht, wird als eine Ausnahme angesehen und auf ihren Zweck beschränkt, sodass sie beim Geisteskranken (furiosus) die Person[83] und das Vermögen, beim Verschwender aber nur das ererbte Familiengut betrifft.[84] Hier finden sich somit erste Elemente einer Massschneiderung und der Personensorge.[85] Diese Reduktion des Aufgabenfeldes auf die Zwecksetzung als Handlungen im Interesse des Mündels ist dann auch der massgebliche Unterschied der curatio zur tutela, wird aber von der cura minorum und deren grosser Bedeutung wieder überdeckt.[86]
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Die cura furiosi sieht vor, dass zunächst die gradnächsten Nachkommen (Agnati) und, wenn es keine solchen gibt, die weiteren Angehörigen der patrilinearen Verwandschaft (Gentilen), die Pflegegewalt erhalten. Die Regelung der Berechtigung zur Pflegegewalt deckt sich mit derjenigen der Intestarerbfolge, wodurch die cura furiosi – ähnlich der tutela impuberum – zugleich fremd- und eigennützig ist. So kann der curator auch nicht testamentarisch eingesetzt werden und bedarf stets einer behördlichen Anordnung.[87] Die cura wegen Verschwendung (cura prodigi) setzt – im Unterschied zur cura furiosi – die Entmündigung voraus (interdictio).[88] Neben diesen regelmässig vorkommenden Massnahmen fanden sich im klassischen Recht auch Cura aus besonderem Anlass, wie die sog. cura debilium personarum, z. B. für Stumme, Taube, Gebrechliche etc., die ihre Angelegenheiten nicht ordnungsgemäss erledigen konnten und auf Antrag vom Prätor einen curator erhielten. Eine Einschränkung der Geschäftsfähigkeit trat jedoch nicht ein.[89] Faktisch wurde die Handlungsfähigkeit aber beschränkt.[90]
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Im vorstaatlichen germanischen Recht kommt die Grossfamilie im Rahmen ihrer umfassenden Hausherrschaft (Munt) für die schutzbedürftigen Mitglieder auf.[91] Munt ist etymologisch mit manus verwandt und beinhaltet somit neben der Herrschafts- auch die Schutzfunktion im Sinne des «Hand darüber Haltens». Den Rechten des Muntherrn stehen entsprechende Pflichten gegenüber. In extremis besteht sogar die Möglichkeit, den Muntherrn zu verstossen, wenn er seinen auferlegten Pflichten nicht nachkommt.[92]
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Die Muntgewalt ersetzt die noch nicht ausgebildete Staatsgewalt[93] und fokussiert die Angehörigen der eigenen Familie und der Sippe. Sie erhält erst in fränkischer Zeit (fünftes bis neuntes Jahrhundert) ansatzweise Gemeinwohlcharakter, indem der König die Muntgewalt im Rahmen seines Stammesverbandes über alle beansprucht, die muntlos geworden sind, vor allem Witwen und Waisen. Aus der Munt bildeten sich sodann staatliche Funktionen aus. Hier finden sich bereits erste Ansätze für die spätere staatliche Obervormundschaft.[94]
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Ab dem dreizehnten Jahrhundert verstärkt sich die Verlagerung der Hausgewalt von den Rechten zu den Pflichten. Hintergrund dessen ist, dass die alte Familienorganisation mit Hausgewalt und Sippenverband zerbricht. Die Kleinfamilie bleibt übrig. Das Individuum löst sich heraus, und die öffentliche Gewalt beansprucht fortan die Rechte, die dem Sippenverband zugestanden waren.[95] Damit verändert sich auch die Stellung des Vormundes. Die Vormundschaft entwickelt sich immer mehr zur Ersatzvaterschaft:[96] aus Herrschaft wird Fürsorge, aus Recht Pflicht, und der schutzbedürftigen Person wird die Handlungsfähigkeit entzogen; sein Vormund wird gesetzlicher Vertreter.[97] Dadurch wird automatisch auch die Personensorge gestärkt und wichtiger. Die Städte, Landeshoheiten und Grundherrschaften übernehmen aufgrund der theologisch begründeten Fürsorge die Obervormundschaft. Sie organisieren die Aufsicht, die Inventarisierung des Mündelgutes, die Rechnungsablegung, nehmen Beschwerden entgegen und wirken bei wichtigen Massnahmen mit.[98] Die Verantwortlichkeit gegenüber dem fehlerhaften Vormund wird gleichzeitig ausgebaut.[99] Des vormundschaftlichen Schutzes bedürfen in jener Zeit Minderjährige ohne Vater, Frauen, «Narren», «Sinnlose», Geisteskranke, Gebrechliche, Verschwender, Abwesende, Dirnen, vereinzelt auch noch Priester[100] etc.[101] In den ländlichen Territorien entstehen der Obervormundschaft nachgebildete Vormundschaftsämter, die teilweise nach ständischen Gesichtspunkten aufgespaltet waren.[102]
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Das Vormundschaftsrecht als amtsgebundenes Massnahmensystem unterliegt in der Neuzeit keinem grundlegenden Wandel mehr.[103] Es ist nun stark polizeilich geprägt[104] und setzt deutlich auf Kontrolle bis in die Einzelheiten der Amtsführung. Anzeichen dafür sind die Erweiterung der Entmündigungsgründe, die Heraufsetzung des Mündigkeitsalters bis auf 23 oder 24 Jahre, und die Obervormundschaft, die faktisch eine Polizeiinstanz wird. Polizei- und Verwaltungsrecht des aufgeklärten Absolutismus deuten somit das bisher familienrechtlich geprägte Vormundschaftsrecht zumindest teilweise um.[105]






