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Chaja litt darunter, dass sie ihre Eltern enttäuschte, aber sie war nicht bereit, ihr Leben unter der Fuchtel eines Ehemannes zu verbringen, der womöglich ein Mensch wäre wie Schmuel, vom Schadchen jüngst vorbeigeschickt. Schmuel war doppelt so alt wie Chaja, dick und kahl, wie sollte sie sich zu einem zweiten Blick auf ihn durchringen – von einem Jawort ganz zu schweigen. Der einzige junge Mann, der schön genug gewesen war, um für Chaja als Ehemann in Frage zu kommen, hieß Stanislaw – und der war unerreichbar für sie. Ach, ihr war das Haus in der Szerokastraße, war Kazimierz, ja ganz Krakau schon längst zu eng geworden, und wann immer sie sich im alten Rosenholzbett vorm Einschlafen in Gedanken verlor, sah sie sich – woanders. Weit weg. Vielleicht in Wien. Oder auf einem Ozeandampfer, unterwegs zu einem fernen Kontinent. Sie wusste, die Mutter hatte Verständnis. Ihr würde sie sich anvertrauen.
Als Gitel vernahm, dass ihre Große das Haus verlassen wollte, ohne zu heiraten, war sie einerseits erleichtert, das Mädchen sein Geschick in die eigenen Hände nehmen zu sehen, andrerseits besorgt, denn sie hätte sich für Chaja nichts so innig gewünscht wie einen Gatten. Es gab aber für ehescheue Mädchen immer den Ausweg, als Haushaltshilfe oder Kinderfrau in anderen Familien unterzukommen, und wenn das nun Chajas Wunsch war, sollte es so sein. Hertzel würde sein Einverständnis verweigern, dachte sie, aber sie würde ihm zureden. Tante Rosa, die in der Nähe wohnte, hätte wohl nichts dagegen, ihre Nichte bei sich aufzunehmen. Und dann könnte sie, Gitel, endlich darangehen, sich nach einem Heiratskandidaten für Pauline umzusehen.
„Nein, Mutter, zu Tante Rosa möchte ich auf keinen Fall“, sagte Chaja. „Ich will ja gerade raus aus Krakau. Wie wäre es mit Tante Chaja Silberfeld, die in Wien lebt? Der könnte ich behilflich sein – und ich könnte Deutsch lernen! Magst du ihr nicht einen Brief schicken und sie fragen, ob sie eine Hilfe braucht?“
Gitel überlegte. „Deine Namenspatronin heißt inzwischen Splitter“, sagte sie, „Schwager Liebisch betreibt ein gut gehendes Pelzgeschäft. Ja, das wäre eine Möglichkeit. Hilfe im Geschäft ist immer willkommen. Und du, meine Große, verstehst dich ja sogar auf Buchführung. Ich setze mich gleich hin und schreibe ihr.“
Die Familiensolidarität bewährte sich. Gitels Schwester fand sich bereit, die Nichte bei sich aufzunehmen. Chaja jubelte. Mutter freute sich, und Vater musste es hinnehmen.

Das junge Fräulein Rubinstein reiste mit großem Gepäck, denn was sie da vorhatte, war keine Spritztour, sondern ein Auszug. In Wien sollte ein neues Leben für die Vierundzwanzigjährige beginnen. Sie verstaute all ihre feinen, selbst genähten Kleider in großen Reisekisten, dazu ihre Wäsche, Hüte, Stiefeletten, die Spitzenkrägen der Großmutter Rebecca und den Sonnenschirm. Insgeheim hoffte Gitel, ihre Älteste würde in der Residenzstadt endlich den richtigen Mann finden. Der Vater brummelte zum Lebewohl ein paar Worte, ohne seine Tochter anzusehen.
Der war es gleichwohl leicht ums Herz. „Ich zählte die Tage bis zu meiner Abreise“, schrieb sie in ihren Erinnerungen. Sie sehnte sich danach, es den Ihren und sich selbst zu beweisen, dass sie auf eigenen Füßen stehen und vorangehen konnte. Und die Tante und der Onkel waren sehr freundlich zu ihr. Sie zeigten ihr Wien, das mit seinen barocken Palästen, verwunschenen Parks und vornehmen Cafés eine so ganz andere Ausstrahlung besaß als das provinzielle Krakau. Chaja machte große Augen angesichts all dieser Pracht, aber sie hatte nicht die Absicht, sich selbst in den Cafés und Tanzbars umzutun. Die Eltern waren für ihre Reisekosten aufgekommen und hatten ihr etwas Zehrgeld für die erste Zeit mitgegeben, das hielt sie zusammen. Zuerst wollte sie Geld verdienen, dann konnte auch etwas ausgegeben werden. Und sie bat schon bald nach ihrer Ankunft, im Pelzgeschäft arbeiten zu dürfen.
Tante und Onkel staunten nicht schlecht, als sie sahen, wie sich Chaja im Laden machte. Sie wusste die Ware zu drapieren, die Kunden zu empfangen und die Kasse im Auge zu behalten. Schon bald überließ ihr der Onkel die Kundenberatung ganz, denn darin war die kleine Nichte richtig professionell. So zurückhaltend sie sonst war und so unsicher in der deutschen Sprache – wenn es darum ging, einer Dame, die sich für einen Pelz interessierte, die Ware zu erklären, sie über Herkunft und Verarbeitung zu informieren und ihr dann vielleicht einen ganz anderen Mantel als passenderen zu empfehlen, war Chaja so einfallsreich und beredt, dass einem die Ohren klingen konnten. Sie vermied es, Kundinnen etwas aufzuschwatzen, sie versuchte immer, den richtigen Pelz für die jeweilige Dame herauszufinden, sie erzeugte eine Atmosphäre der Freude an schönen Dingen, die es den Damen – aber auch Herren kauften bei Splitter Geschenke ein – erleichterte, ihre Wahl zu treffen. „Die Kleine ist eine geborene Verkäuferin“, sagte Liebisch zu seiner Frau. „Wir können Gott danken, dass sie zu uns gekommen ist.“ Chaja schrieb nach Hause, dass sie sich im Geschäft unentbehrlich gemacht habe – was der Wahrheit entsprach.
Nach zwei Jahren allerdings ging die ersprießliche Zusammenarbeit der Splitters mit ihrer Nichte zu Ende. Die Splitters entschieden sich für eine Verlegung des Geschäfts nach Antwerpen, und im dortigen Laden, auch in der vorläufigen Unterkunft, war für ihre Verwandte kein Platz. Dennoch wollten die Splitters sie gerne mitnehmen, sie überlegten hin und her, ob es wohl möglich sein könnte, sie bei der Buchführung einzusetzen, bis Chaja sagte:
„Ich danke euch für alles. Ich habe viel gelernt. Ich möchte in Antwerpen keine Last für euch sein. Tante Chaja, deine Brüder Bernhard und Louis leben in Australien. Ich habe schon oft daran gedacht, die Onkel zu besuchen und vielleicht auch – dort zu bleiben. Es heißt, dass es drüben Arbeit für alle gibt. Was meint ihr?“
Tante Chaja und Onkel Liebisch sahen einander an und dann der Nichte ins Gesicht, um rauszufinden, ob sie das ernst meinte. Sie meinte es ernst. Sie hatte schon länger darüber nachgedacht. Ihre Wanderlust hatte sich wieder geregt. Mit Macht.
„Wir werden deine Eltern fragen müssen“, sagte die Tante. „Wenn du wirklich entschlossen bist … Aber bedenke, mein Kind: Onkel Bernhard züchtet Schafe!“
„Ich weiß. Er ist Witwer und braucht bestimmt Hilfe im Haushalt. Was ich suche, versteht mich, ist das Unbekannte und die Herausforderung. So bin ich nun mal. Australien!“

Chaja hatte eigentlich keine rechte Vorstellung von Australien. Sie hatte von der enormen Weite des Landes gehört, von der Hitze, der Wildnis und auch von den schnell wachsenden Städten. Sie dachte, wenn sie Weite und Wildnis hörte, an Freiheit. Nachdem die Eltern ihrem Auswanderungsplan zugestimmt hatten, setzte sie einen langen Brief an den Onkel Bernhard Silberfeld auf mit der Bitte, bei ihm in Coleraine wohnen und sich nützlich machen zu dürfen. Es dauerte eine Weile, bis die Antwort kam; sie war positiv. Bernhard Silberfeld, Schafzüchter und Besitzer eines Ladens mit Waren für den täglichen Bedarf, war bereit, seine Nichte bei sich aufzunehmen. Wenngleich er sich doch fragte, ob diese staubige einsame Gegend für eine junge Frau aus der Stadt das Richtige sei. Noch dazu so weit weg von zu Hause, hier kannte sie doch niemanden. Chaja selbst aber stellte sich diese Fragen nicht.
Ihre Eltern taten es auch nicht. Hertzel und Gitel wussten: Die Tochter hatte keinen Beruf gelernt. Und sie war ohne Mitgift. Sämtliche Bewerber um ihre Hand hatte sie brüsk zurückgewiesen. Sie war praktisch nicht vermittelbar, weder auf dem Heirats- noch auf dem Arbeitsmarkt. Für eine junge Frau in ihrer Lage war Auswandern sehr wohl eine Möglichkeit, die sie und auch ihre Familie das Gesicht wahren ließ – es war eine Notlösung. Chaja hatte keine Ahnung, was sie auf dem fernen fünften Kontinent erwartete, sie war jedoch willens und bereit, ein neues Leben anzufangen. Ihre Mutter verkaufte eines ihrer letzten Schmuckstücke und schickte der Tochter das Geld nach Wien – mitsamt zwölf Tiegeln ihrer kostbaren Gesichtscreme nach dem Rezept des Jakob Lykusky. Die Splitters, Silberfelds und Rubinsteins, die Großeltern, weitere Verwandte und Bekannte gaben Geld für die lange Überfahrt. Damit kam Chaja als allein reisende Frau in der Kabinenklasse unter, was jeden Zweifel an ihrer Ehrbarkeit zerstreute. Sie packte abermals ihre Sachen, auch das weiße Faltenkleid kam in den Koffer, die Schuhe mit den hohen Absätzen, der Pelzkragen – ein Geschenk von der Tante – und der Sonnenschirm. Zunächst ging es per Zug nach Genua und von dort mit der Prinzregent Luitpold, einem Reichspostdampfer der Bremer Reederei Norddeutscher Lloyd, durch den Suezkanal über den Indischen Ozean nach Australien, in den Hafen von Melbourne.

Auf dieser Reise, die insgesamt drei Monate dauert, da das Postschiff auf großer Fahrt öfter anlegt, etwa in Neapel, Alexandria, Aden und Bombay, lernt Fräulein Rubinstein drei junge Männer kennen, die ihr sogar Heiratsanträge machen: zwei kleine Italiener, mit denen sie sich überhaupt nicht verständigen kann, und einen schnauzbärtigen Engländer. Ihre Deutschkenntnisse, so fragmentarisch sie sind, ermöglichen ihr den Kontakt zu Schweizern, Österreichern und Deutschen. Sie ist beliebt unter den Passagieren, man unterhält sich gern mit ihr. Aber man rätselt. Was ist das für ein Mädchen, das da ohne Anstandsdame im Schlepptau reist? Meist sind es leichtlebige Tänzerinnen oder Prostituierte, die ohne Begleitung unterwegs sind – auf der Flucht vor wem auch immer. Oder einsame Frauen, die mehr oder weniger verzweifelt einen Mann suchen. Dieses Fräulein namens Helena Rubinstein aber ist weder das eine noch das andere. Sie ist allein, aber sie kann sich behaupten. Ihr eignet eine gewisse Unnahbarkeit, etwas Resolutes, ja fast Gebieterisches.
Helena? Ja, die junge Frau nutzt die Gelegenheit, sich fern der Heimat und der sozialen Kontrolle gänzlich neu zu erfinden. Ein neuer Name ist da sehr hilfreich. Helena Rubinstein, mit diesem Namen hat sie sich in die Passagierliste eingetragen, damit ersetzte sie den hebräischen Namen Chaja, der strahlendes Leben bedeutete, durch das griechische Helena, das dieselbe Bedeutung hat. Sie spricht es seltsam aus, mit polnisch-jiddischem Akzent. Helena ist in der griechischen Mythologie die schönste Frau ihrer Zeit. So schön, dass jeder Mann sie besitzen möchte. Doch die schöne Helena aus Krakau ist nicht auf Männerjagd. Soll sie sich etwa Gefahren wie Schiffbruch, Unfall und Krankheit aussetzen, nur um schließlich im Hafen der Ehe zu landen? Doch sie fällt nicht nur auf, weil sie allein unterwegs ist. Sie ist schon auch eine besondere Erscheinung. Wegen ihrer geringen Größe hält man sie trotz ihres Alters für ein junges Mädchen, obwohl ihre weiblichen Rundungen ausgeprägt sind. Aus praktischen Gründen und wohl auch, weil sie es von der Mutter kennt, bindet sie die Haare zu einem Chignon, das lässt sie strenger wirken. Meist trägt sie ein Kleid mit Stiefeletten, einen Spitzenkragen und einen Sonnenschirm. Ihre Haut ist zart und hell wie Porzellan, diesen blassen Teint schützt sie sorgfältig gegen die Sonne. Auf dem Schiff macht sie die Bekanntschaft zweier Engländerinnen, die ihr hübsches Gesicht bewundern und sich ihrer ein wenig annehmen. Lady Susanna, die mit dem Sekretär des Gouverneurs von Queensland verheiratet ist – und Helen McDonald, die in Melbourne heiraten will. Beider Adressen vermerkt sie in ihrem Notizbuch, man kann ja nie wissen.
Im Hafen von Melbourne angekommen, fährt sie die restlichen 350 Kilometer weiter mit der Postkutsche bis nach Coleraine im Bundesstaat Victoria. Der kleine Ort mit seinen knapp zweitausend Einwohnern wurde erst fünfzig Jahre zuvor gegründet. Onkel Bernhard holt sie von der Station ab.
„Hallo Chaja, hier bin ich!“
„Ich heiße jetzt Helena, bitte nenn mich nur noch so.“
„Na gut, mir soll’s recht sein. – Ist dir nicht zu warm in der langärmeligen Bluse? Dein Schirm wird bald ziemlich schmutzig aussehen, und mit diesen hochhackigen Schuhen wirst du nicht weit kommen.“ Der Onkel spuckt ein Stück Kautabak aus und greift sich das Gepäck.
„Kannst du reiten?“ Als sie verneint, seufzt er und knurrt: „Als Erstes besorgen wir dir ein Paar Gummistiefel.“

Im Städtchen Coleraine, das lernt Helena bald, dreht sich alles um Schafe. Der Mensch kommt an zweiter Stelle, und er ist bäuerlich gekleidet, an Stil denkt hier niemand. Die Frauen in der Nachbarschaft tragen grobe Leinenkleider mit schmutzigen Säumen. Alle sprechen Englisch, Onkel Bernhard ziemlich radebrechend und mit Jiddisch vermischt, obwohl er schon viele Jahre hier lebt. So schnell wie möglich will Helena die Landessprache lernen. Dem Onkel ist dieser Ehrgeiz suspekt, er meint, die Schafe verstünden eh kein Wort. Er wünscht sich die Hilfe seiner Nichte auf der Farm. Da braucht sie nicht zu reden, und sie muss Gummistiefel tragen.
Die junge Einwanderin aber möchte sich lieber auf andere Art nützlich machen. Wie steht es denn um Silberfelds Laden – wie wäre es, wenn sie dort bediente und die Bücher führte? Dass sie das kann, hat sie doch schon in Splitters Wiener Pelzhandlung bewiesen. Außerdem will sie irgendwo einen Kurs belegen – um Englisch zu lernen. Der Onkel misst die zierliche Gestalt im weißen Kleid mit seinem Blick und zuckt die Achseln. „Diese Kleine ist wirklich nicht für die Viehwirtschaft geschaffen“, denkt er bei sich. Soll sie im Laden aushelfen und im Haushalt anpacken. Er will nicht mit ihr streiten, sondern den Familienauftrag erfüllen und sie so bald wie möglich an den Mann bringen. Er tut ihr den Gefallen und meldet sie in der Schule von Coleraine an. Sie darf dort am Englischunterricht teilnehmen.
Helena bezieht ein eigenes Zimmer im geräumigen Haus des Onkels, sie hilft der Haushälterin in der Küche und sortiert im Laden die Waren – sie kommt zurecht. Und in der ersten Zeit hat sie mit den Englischstunden, mit neuen Bekanntschaften in der Nachbarschaft und mit Besuchen im nahen Merino, wo Onkel Louis wohnt, auch allerlei Abwechslung. Aber nach einigen Monaten findet sie ihr Leben reichlich öde. Und als der Onkel, der sonst nicht viel redet, anfängt, einen gewissen jungen Mann aus der jüdischen Gemeinde öfter und mit Nachdruck zu erwähnen und auch noch zum Essen einzuladen, begreift Helena, was die Stunde geschlagen hat. Es ist die alte Leier: Sie soll heiraten.
„Ich mag diesen Galgenvogel nicht, Onkel“, mault sie. „Da ist nichts zu machen.“
„Ob du ihn magst oder nicht: Er ist Sattler. Sein Handwerk blüht. Alle bestellen bei ihm.“
„Umso besser für ihn. Was soll er da mit einer Frau?“
„Aber du weißt schon, Helena, dass deine Mutter sehnsüchtig auf eine gewisse Nachricht von mir wartet? Du wirst bald dreißig.“
„Das weiß ich selbst.“
„Worauf wartest du? Willst du einen Goj heiraten? Am Ende einen Goldsucher? Oder einen entlaufenen Sträfling?“
Helena steht auf und atmet tief durch. Jetzt wird sie dem Onkel ein für alle Mal klar machen müssen, dass sie nicht gedenkt zu heiraten. Und dass sie keine Lust hat, ihn noch weiter in die Synagoge zu begleiten. Ja, sie wird ehrlich mit ihm sein. An Kazimierz erinnert sie sich gern, sie hat als Kind in der Synagoge andächtig den Gesängen gelauscht. Auch die stille Frömmigkeit der Eltern konnte sie von Herzen respektieren. Doch als sie heranwuchs, hat sie festgestellt, dass etwas in ihr gegen Gott und Glauben aufbegehrte. Das muss sie dem Onkel erklären. Und sie tut es. Der Onkel schaut sie lange an.
„Kind, du machst dich unglücklich. Kein Glaube. Kein Mann. Wo soll das enden?“
„Wenn es einen Gott gibt“, sagt Helena, „dann hat er mich so gemacht, wie ich bin. Ohne Verlangen nach Gebet und ohne Verlangen nach Ehe. Auch ich bin sein Werk. Das solltest du anerkennen!“
Der Onkel schüttelt empört den Kopf. Er denkt weiter. Wenn die Nichte sich weigert, einen Mann zu nehmen, wird sie ihm zur Last fallen. So war das aber nicht gedacht. Er kann sie nicht ewig durchfüttern. Außerdem vermindert eine junge Frau im Haus seine Chancen auf eine Wiederverheiratung. Er wird mit Bruder Louis darüber reden müssen.
Der andere Onkel, der aus Merino, ist auch Schafzüchter. Er versucht, seiner Nichte das Reiten beizubringen. Talentiert, das sieht er gleich, ist sie nicht. Als er jetzt von Bernhard hört, wie renitent sie außerdem ist, sieht er sie mit anderen Augen. Im Pferdestall tritt er hinter sie und greift ihr mit beiden Händen an die Brust. Helena erstarrt. Dann dreht sie sich um, holt aus und schlägt dem Onkel mit ihrem Sonnenschirm nach Kräften auf den Kopf. Und stürzt davon. Ein Ochsenkarren nimmt sie mit zurück nach Coleraine. Der Mann auf dem Bock fragt nicht, und so kann Helena in Ruhe heulen.
Lange hat sie es nicht verspürt, und nun kommt es doch: das Heimweh. Wie rau, hart und brutal ist diese Welt, wie ungehobelt sind die Menschen. Da war doch das glänzende Wien etwas ganz Anderes, selbst Krakau besaß urbanes Flair im Vergleich zu Coleraine. Und die Menschen hatten Manieren. Großmutter Rebecca würde im Boden versinken, wenn sie erführe, was ihr Sohn Louis sich herausgenommen hat! Die Briefe, die Helena nach Hause schreibt und die sie von dort empfängt, trösten sie nicht mehr, sie denkt an Heimkehr. Aber wie würde sie sich fühlen daheim in Krakau, wenn sie bei den Ihren auf der Schwelle stünde – eine Verliererin, die es in der weiten Welt zu nichts gebracht hat? Nein, sie kann nicht zurück. Sie sieht ihre Schwestern vor sich, eine Hochzeit ist in Vorbereitung, die Mutter ganz aufgeregt. Bald wird sie die ersehnten Enkel wiegen – und ihre Älteste wird vergessen sein. Vergessen? Helena, allein im Geschäft und mit Abrechnungen beschäftigt, fühlt Tränen aufsteigen. Sie ist immer tapfer gewesen, all die Jahre in der Fremde, aber jetzt verlassen sie die Kräfte.
Da kommt eine Kundin in den Laden, eine Frau aus der Nachbarschaft. Helena putzt sich die Nase und winkt kurz mit der Hand.
„Hallo“, grüßt die Kundin und tritt näher. „Darf ich … darf ich Ihnen eine persönliche Frage stellen?“
„Nur zu.“
„Was tun Sie, meine Liebe, dass Sie eine so wunderbar faltenfreie, helle Haut haben?“
Helena lächelt. „Ich meide die Sonne, benutze einen Sonnenschirm oder trage einen Hut. Wenn Sie da drüben mal schauen wollen. Wir haben eine große Auswahl. Der rote dort müsste Ihnen passen.“
Die Dame probiert den Hut und nickt. Sie zahlt und geht, und als sie an der Tür steht, ruft Helena: „Bitte kommen Sie morgen wieder. Ich habe noch etwas anderes für Sie.“
Von den zwölf Dosen mit Lykusky-Creme hat Helena noch einige übrig. Ihr kommt die Idee, diese Creme im Geschäft anzubieten, damit die Bewohnerinnen von Coleraine nicht länger Gesichter haben wie Seemänner und mit dreißig ausschauen wie fünfzig. Sie schließt den Laden und geht schnellen Schrittes heim. Ihre Cremedosen hat sie kühl gestellt – in Onkel Bernhards Keller. Lykuskys Wundermittel ist ergiebig, ein Tiegel langt für viele Monate. Wenn Helena den Inhalt der restlichen Dosen auf viele kleinere Töpfchen verteilt, hat sie noch ein ordentliches Angebot, das sie ins Schaufenster stellen und mit Preisschildern versehen kann. Wäre doch gelacht, wenn die Kundinnen nicht zuschlügen und Helena zu einem kleinen Extraverdienst verhülfen. Und tatsächlich, es spricht sich schnell herum, dass es bei Silberfeld etwas Besonderes zu kaufen gibt. Bald sind die Cremetöpfe ausverkauft. Helena ist es zufrieden. Und sie hat einen Plan.
Ich werde damit weitermachen, sagt sie zu sich. Ich werde Mutter bitten, mir noch mehr Dosen zu schicken. Aber wie lange wird es dauern, bis das Paket hier ist? Drei Monate? Und wenn ich es selbst versuche? Mir in der Apotheke von Sandford die Ingredienzien besorge und die Creme selbst anrühre? Ja, das könnte gehen. Mit der Mutter hat sie einmal darüber gesprochen, woraus die Creme denn wohl bestehe, sie weiß also, was sie zu besorgen hat. Zu der Apotheke im Nachbarort fährt der Onkel von Zeit zu Zeit, um sich ein Pflaster gegen Rückenschmerzen zu besorgen, dann nimmt er Helena mit. Mr Henderson, der Inhaber, ist ein freundlicher alter Mann, immer zu Scherzen aufgelegt. Ja, sie wird bei ihm einkaufen und die Creme selbst herstellen. Die Nachbarin war neulich schon wieder im Laden und wollte eine Dose als Geburtstagsgeschenk für ihre Schwester. Und es war keine mehr da. Helena weiß: Der Absatz wird nicht das Problem sein. Allein die Zufuhr. Wenn es ihr gelingt, die Creme selbst herzustellen, könnte sie irgendwann so weit kommen, sich mit einem Laden selbständig zu machen. Ihr schwindelt ein wenig, zugleich aber empfindet sie eine große Erleichterung und sogar Freude, denn endlich sieht sie vor sich einen Weg. Und der führt sie – nach Melbourne! Dort ist sie einst an Land gegangen und hat sich vor der Weiterfahrt nach Coleraine ein wenig umgeschaut. In Melbourne gibt es Leute, die gut aussehen wollen – wie in Wien. Schafe hat sie dort keine gesehen, dafür die neueste Mode. Helena hat ein Ziel.

Ihre Versuche, in des Onkels Küche eine Creme zu produzieren, schlugen indes fehl. Entweder war die Mischung aus Ölen, Kräutern, Wasser und Parfum zu flüssig oder zu fest, auch wollten sich die Bestandteile nicht recht verbinden, und Helena gab auf. Ich brauche mehr Wissen über Chemie, dachte sie. Und wer ihr da weiterhelfen konnte, war niemand anders als Mr Henderson. Wie der Alte in seinem weißen Kittel zwischen den Pülverchen und Pastillen hantierte, wirkte er sehr kompetent, und Helena hatte auch nie eine Hilfskraft in den nach Eukalyptus duftenden Räumen bemerkt. Ob er womöglich …? Bei der nächsten Gelegenheit bat sie ihn geradeheraus um eine Anstellung. Der Apotheker sah sie zweifelnd an und fragte: „Was sagt denn der Onkel dazu?“, doch Helena glaubte zu bemerken, dass er die Idee gut fand.
Als sie ihm ihr Leid mit den Inhaltsstoffen der Creme klagte, die sich nicht vermischen wollten, lachte er und dozierte:
„Emulsionen sind eine Wissenschaft für sich. Öl und Wasser stoßen sich ja ab – wie kriegt man es also hin, sie so zu mischen, dass eine glatte Konsistenz dabei herauskommt? Wenn Sie bei mir anfangen wollen, Miss Rubinstein, kann ich es Ihnen zeigen.“
Onkel Bernhard wurde von Helena vor vollendete Tatsachen gestellt. Eigentlich wollte er erst einmal an Vater Rubinstein schreiben, hatte auch, wie er zugab, einen weiteren Heiratskandidaten an der Hand, aber Helena war jetzt nicht mehr aufzuhalten. Von Onkel Louis’ Übergriff hatte sie noch nichts erzählt, sie war aber entschlossen, damit rauszurücken, wenn Onkel Bernhard sich ihr in den Weg stellte. Doch was sollte der machen – er ließ sie ziehen.

Helena hatte sich eine Mitfahrgelegenheit nach Sandford organisiert – ein Nachbar brachte sie mit der Kutsche dorthin, denn Onkel Bernhard krümmte keinen Finger. „Du bist starrköpfig wie ein Schaf!“ Er gab ihr noch ein paar unschöne Bemerkungen auf Jiddisch mit auf den Weg, und das war’s.
Apotheker Henderson zahlte seinem neuen Lehrling einen kargen Lohn, verlangte aber umso größeren Einsatz. Helena konnte auf dem Dachboden über dem Laden mietfrei wohnen, mit dieser Übereinkunft war sie zufrieden. Sie konnte viel von ihrem Lehrherrn lernen, sie war unabhängiger als je zuvor, und das war es schließlich, weswegen sie nach Australien ausgewandert war. Bei Henderson stand Helena lange Tage im Geschäft hinter dem Tresen, auch am Wochenende. Sie musste ihm beim Verkauf zur Hand gehen, die Chargen auflisten und die Gerätschaften in Ordnung halten. Natürlich hatte sie auch alle Hilfsdienste zu erledigen, die eine Lehre so mit sich bringt: schwere Kisten schleppen, waschen und trocknen, aufräumen und saubermachen, den Müll entsorgen, Einkäufe erledigen. Das alles machte ihr nichts aus, beim Onkel hatte sie doch auch den Haushalt in Schuss halten müssen, noch dazu ohne Bezahlung. Schwere Arbeit schreckte sie nicht. Und als Mädchen für alles hatte sie stets das große Ganze im Blick. Sie führte die Bücher, organisierte die Abläufe, dokumentierte und analysierte Rezepte und Versuchsanordnungen, kümmerte sich um die Werbung. Kurz: sie schlüpfte in die Rolle einer Unternehmerin. Von der Mutter aus Krakau trafen neue Cremetöpfe ein. Helena setzte den Preis ein wenig herauf und arrangierte die Dosen mit einem Blumenstrauß im Schaufenster der Apotheke.