Erwin Rosenberger: In indischen Liebesgassen - Prostitution in Bombay - Aus dem Tagebuch eines Schiffsarztes

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Dann Erinnerungen an Passagierinnen der eben beendeten Seefahrt, Erinnerungen und Stimmungen, die mit der Meinung der Hindu-Mädchen, als müssten sechzehn Meerfahrt-Tage eine Zeit entsagungsvoller Askese sein, nicht ganz im Einklang sind.
Überdies wäre es möglich, dass ich nicht mehr vollständig frei bin von der Suggestion des Wortes „Native“ Native – das ist: Der Eingeborene: etwas von der geringschätzigen Klangfarbe, womit der Engländer vom Native, vom Einheimischen, vom Inder spricht, könnte mir im Ohr haften geblieben sein. Semper aliquid haeret (irgendwas klebt immer).
Tatsache ist, dass gar mancher Europäer, der den Orient aufsucht, anfangs die eingeborenen asiatischen Landeskinder mit sehr freundlichen Augen betrachtet, man sieht in den dunkelhäutigen, morgenländisch gekleideten Leuten sympathische Kuriosa und lässt ihnen ein ähnliches Wohlwollen zuteilwerden, wie man's in den Ausstellungsgärten europäischer Hauptstädte einem Somali-Dorf widmet, einer Aschanti-Truppe und allem, was man für kindlich und naiv hält. Die Kinder der fernen, fernen Fremde bringen die romantische Saite in uns zum Klingen und die zum Mitschwingen rasch bereite Saite sympathisierender Wohlgeneigtheit.
Wenn dann der Europäer im Orient heimischer wird, schleicht sich in diese freundliche Zuneigung nach und nach eine Abkühlung ein, es entwickeln sich im europäischen Gemüt Gefühle, die sich mehr oder minder der nicht gar liebreichen Stimmung nähern, womit der Herr von Indien, der Engländer, das Wort „Native“ ausspricht.
Wer die Schuld trägt? Vermutlich beide Teile; sowohl der Europäer wie der Eingeborene. Die Situation entwickelt sich wohl auf Grund des folgenden Circulus:
– Europäer: Ich bin dir nicht übermäßig zugetan, weil ich weiß, dass du mir nicht allzu hold gesinnt bist.
= Inder: Ich bin dir nicht allzu hold gesinnt, weil ich weiß, dass du mir nicht übermäßig zugetan bist.
Und so weiter im Kreise, mit Steigerung der gegenseitigen Verstimmung.
Die Besatzung unseres Dampfers bedient sich nicht der englischen, sondern der italienischen Umgangssprache, (Triest, der Heimathafen des Dampfers, liegt in einem Gebiet italienischer Verkehrssprache), die „Natives“ werden an Bord unseres Schiffes als „Indiani“ bezeichnet; und unser Herr Küchengehilfe oder Herr Kellner legt in das Wort „Indiani“ eine ungefähr ebenso geringschätzige Tonfarbe, wie irgendein englischer Passagier erster Klasse in sein „Natives“.
So haben denn auch die indischen Mädchen, die im Dienste der Liebe aufs Schiff kommen, ihren Anteil an der spezifischen Geringschätzung, die man den „Indiani“, zumal den Indern der unteren Bevölkerungsschichten, widmet.
Und es ist ein sonderbarer Widerspruch, dass diese Hindu-Mädchen das bisschen Gewogenheit, dessen sie an Bord teilhaftig werden, just einer Eigenschaft verdanken, die in der „Gesellschaft“ unerbittliche Achtung nach sich zieht: ihrem Buhlgewerbe.
Aus der unverfänglichen Eigenschaft „Indiana“ ersteht ihnen Misswertung, aus einem sonst missgeschätzten Metier ernten sie eine Sympathie.
* * *
Bombay, Viktoria-Dock des Hafens, 9¼ abends.
Ich sitze hier mutterseelenallein beim Licht einer Stehlampe im einsamen Speisezimmer auf dem Hinterdeck unseres Dampfers und lasse den stenographierenden Bleistift über die Seiten meines Tagebuches eilen.
Vor einer Viertelstunde wurde an Bord das elektrische Licht außer Tätigkeit gesetzt, Petroleumlampen und Kerzen bemühen sich, Ersatz zu sein. Leider ist mit der Quelle des elektrischen Lichtes auch die Kraftquelle versiegt, welche den Ventilatoren unserer Kabinen Bewegung gibt; die wackeren kleinen Maschinen, die uns mit ihren metallenen Windmühl-Flügeln während des Tages Kühlung zugewirbelt und einigermaßen für den Luftwechsel gesorgt haben, sind jetzt still und regungslos, und mit Unbehagen denke ich an die bevorstehende Nacht, an die kleine schwüle Kabine, die durch die kleine runde Fensteröffnung kein Übermaß an frischer Luft erhält.
– Es wäre keine üble Idee, jetzt abendlicherweile einen Ausflug nach Kamatipura in das Stadtviertel der Freudenmädchen von Bombay zu unternehmen.
Ich will aber die Exkursion doch lieber auf morgen Abend verschieben. Heute, am Ankunftstag, wird wahrscheinlich die Besatzung unseres Dampfers draußen in Kamatipura reichlich vertreten sein und ich habe immer noch die Schwäche, „mich zu genieren“, wenn ich von Bekannten an derlei „verrufenen“ Orten gesehen werde.
Eine Schwäche, ein Zugeständnis an die Beschränkten, so da alles, was mit Hetärentum zusammenhängt, für etwas Beschimpfendes erklären, wenngleich sie selber zu Zeiten insgeheim recht gerne nach „verrufenen“ Orten pilgern.
Immerhin, ich werde erst morgen Abend, wenn der Andrang unserer Schiffsleute schwächer sein wird, mich in die Nativetown, nach Kamatipura, begeben. Und ich hoffe, im Interesse meines „Prestiges“, dass ich morgen weniger der Möglichkeit ausgesetzt bin, von den Matrosen oder sonstigen Mannen unseres Dampfers an so kompromittierenden Örtlichkeiten erblickt zu werden.
* * *
In Kamatipura – Japanische Freudenmädchen – Inderinnen und Europäerinnen – Auf dem Stadtplan
In Kamatipura – Japanische Freudenmädchen – Inderinnen und Europäerinnen – Auf dem Stadtplan
https://www.projekt-gutenberg.org/rosenerw/liebesga/chap003.html
Bombay, Viktoria-Dock.
Ich hab' mich mit meiner Schreibtasche und mit einem Päckchen Tagebücher, die aus früheren Jahren stammen, aufs luftige Achterdeck unseres Dampfers zurückgezogen. Ein Tagebuch, dem ich vor Jahren die Eindrücke meiner ersten Bombay-Reise anvertraut habe, erzählt mir folgenden Bericht über meinen ersten Besuch in Kamatipura, in dem Bezirk von Bombay, der die Freudenmädchen beherbergt:
Bombay, .. Februar 19..
Gestern Abend waren wir im Stadtteil der Hetären, in Kamatipura.

Herr S. fungierte als Führer.
Er brachte uns in eine Gasse des Eingeborenen-Quartiers, welche gewissermaßen die Zentrale des Freuden-Distriktes ist.
Am Anfang der Gasse steigen wir aus dem Wagen und promenieren gemächlichen Schrittes, nach rechts und links mit Interesse auslugend, zwischen den beiden Häuserreihen dahin. Mich mag die Sache stärker interessieren als Herrn S.; er kennt diese Gasse seit Jahr und Tag, ich bin zum ersten Mal hier.
Es fallen drei Hauptgruppen von Freudenmädchen auf: Inderinnen, Japanerinnen und Europäerinnen.
Die Inderinnen als solche zu identifizieren war nicht schwierig, da ich ja dieser Tage den Typus der Hindu-Frau oft und oft in den Straßen von Bombay gesehen habe, hingegen hatte ich gestern keinen rechten Anhaltspunkt, um mit Bestimmtheit feststellen zu können: die Mädchen dort sind Japanerinnen!
Ich bin einstweilen noch nicht in Japan gewesen, die Japanerin kannte ich nur aus bildlichen Darstellungen, die Kleidung und Haartracht der Japanerin überdies aus – europäisch-heimatlichen Fasching-Kostümfesten; und aus sonstigen Gelegenheiten der Maskerade und des Rampenlichtes.

Mir war's also gestern Abend ein sensationelles Erlebnis, als Herr S. zu den Fenstern eines Häuschens hinauf deutete und sagte: „Da haben Sie japanische Mädchen.“
Zum ersten Mal im Leben wirkliche, echte Japanerinnen!
Sie sitzen an den Fenstern im ersten Stockwerk und warten auf irgendeinen, der willens wäre, ihre Liebesdienste entgegenzunehmen.
Die Gesichter der Japanerinnen erscheinen, von der Gasse aus gesehen, jugendlich und kindlichen Ausdruckes. Ich frage meinen Geschmack, wie ihm diese japanischen Mädchenköpfe gefallen; er antwortet: Sie sind eher unhübsch als schön. En face nehmen sie sich besser aus, als wenn das Profil sichtbar ist. Einzelne, die sich der europäischen Gesichtsbildung nähern, sind ganz sympathisch. – – – Diese letzte Bemerkung macht mich ein bisschen misstrauisch gegen die Aussagen meines Geschmackes. Im Banne der Gewohnheit hält er offenbar die Europäerin für das feststehende Schönheitsideal, für den ästhetischen Maßstab, an dem alle Töchter der Erde abzuschätzen sind.
Etliche Japanerinnen sind ausgiebig weiß gepudert, vermutlich um dem Geschmack europäischer Männer ein Zugeständnis zu machen. Koloristische Annäherungsversuche an den hellen Teint der Europäerin.
Die Japanerinnen winken und locken mit lauten Zurufen: „Come here! – Come inside! – Come here!“
Da wir hier in Bombay auf englischem Kolonialgebiete sind und da in großen Gebieten Asiens die englische Sprache den Eingeborenen als das wichtigste europäische Idiom gilt, so übermitteln uns die Japanerinnen den Lockruf: „Komm' her! – Komm' herein! – Komm' her!“ in englischen Worten.
Ein japanisches Mädchen ruft in hohen dringlichen Tönen: “I speak! – I speak!“ – Mit diesem „Ich spreche! – Ich spreche!“ will sie uns offenbar andeuten, dass sie der englischen Sprache kundig ist; also ein anpreisender Hinweis auf eine Tugend, welche die Möglichkeit bietet, dass der Gast durch eine Konversation auch ein bisschen in seelischen Kontakt mit dem Mädchen komme. – – Ich spreche, – ich bin nicht bloß stummes Werkzeug der Liebe, – das soll mich dir begehrenswert machen!
Eine andere Japanerin hält ein Saiteninstrument in den Händen, ohne zu spielen; das Musikgerät ist wohl nur ein Zierrat, der dem Mädchen eine poetische Verklärung geben soll.
Die Beleuchtung empfangen die am Fenster sitzenden japanischen Freudenmädchen von großen Laternen, die außen an der Hauswand vor den Fenstern angebracht sind, und einigermaßen kommt auch Beleuchtung von den Lampen ihrer gut erhellten Zimmer.
Ich sage: „Fenster“; es sind aber nur leere, scheibenlose Fensteröffnungen. Die Abwesenheit der Glasscheiben, die unter anderem durch die klimatischen Verhältnisse erklärt wird, ist dem Fremden, der an die Gebäude Mittel-Europas gewöhnt ist, etwas Auffallendes.
Manche Japanerinnen blicken wie teilnahmslos, sozusagen „verträumt“ auf die Straße hinab, sie lächeln nicht, winken nicht; gemahnen an aufgeputzte Puppen in Verkaufsauslagen.
Wir sehen, während wir durch die Gasse wandeln, dass Japanerinnen sowohl in den ersten Stockwerken, als auch im Parterre weilen, winken und werbend rufen.
Unter den Nicht-Europäerinnen machen die japanischen Mädchen den verhältnismäßig günstigsten Eindruck, vermutlich wegen ihrer sorgfältig geordneten Haartracht und wahrscheinlich auch vermöge ihrer Kleidung, deren Einzelheiten gestern meiner Aufmerksamkeit zwar entgangen sind, aber eine Gesamt-Erinnerung an nette Gewähltheit der Toilette hinterlassen haben.
Und als empfehlender Hintergrund wirkt das Zimmer der Japanerin; die Räume erscheinen dem durch die Gasse Promenierenden wohnlich und sauber, – sehr im Gegensatze zu den Behausungen der indischen Freudenmädchen.
Die meisten Inderinnen, welche hier ihr Freudengewerbe ausüben, tun dies in Häuschen, in Hütten, die nur aus dem Erdgeschoß bestehen und außen und innen recht ärmlich und von zweifelhafter Sauberkeit sind.
In einem zellen-ähnlichen kleinen Raum, hinter einer primitiven Gittertür, sitzen diese dunkelfarbigen Töchter Indiens, wie in einem Käfig. Mit ihren dunklen Augen spähen sie zwischen den Gitterstäben auf die Gasse hinaus und locken durch Wink und Wort die vorübergehenden Männer. Wie Gefangene, die gleichwohl jemanden fangen wollen.
Sie verwenden gelegentlich die gleichen englischen Lockrufe wie die Japanerinnen.
Wenn man in eine solche trübselige Freuden-Zelle indischer Mädchen durch die Gittertür hineinschaut, empfindet man ein Unlustgefühl, das nicht eben geeignet ist, die Zwecke, denen die Zelle dienen will, begehrenswert erscheinen zu lassen. Schon die Vorstellung, man müsste mit irgendeinem Gegenstande der Hütten-Ausstattung in Berührung kommen, erweckt eine Regung des Widerwillens. –
Die Europäerinnen sehen mir danach aus, als wären sie die Abfälle abendländischen Hetärentums, die sich in gar vielen Venusbergen des Okzidents und des Morgenlandes herumgetrieben haben, ehe sie hierher an den Strand Indiens verschlagen wurden.
– – – Ich habe gestern Abend während des kurzen Spaziergangs den Sehenswürdigkeiten der Gasse keine gründliche Aufmerksamkeit gewidmet, zumal da ich vermutete, dass dies vielleicht nicht mein letzter Besuch in Kamatipura sein werde, meine gestrigen Eindrücke haben also wohl nur eine vorläufige Gültigkeit.
* * *

Mit Hilfe der Karte, des Stadtplans von Bombay, habe ich mich heute über die Lage des Freudenmädchen-Quartiers, das wir gestern besucht haben, zu unterrichten gesucht.
Wenn unsere Schiffs-Angehörigen von diesem Quartier sprechen, so gebrauchen sie den Namen „Kamatipura“ oder „Grant-Road“.
Auch die Verballhornung „Kamapura“ oder „Kamatapura“ hört man.
Die Grant-Road ist, wie ich aus der Karte ersehe, eine große Straße, die sich in west-östlicher Richtung durch die Eingeborenen-Stadt von Bombay, durch die „Black-town“, zieht. Ein Stadtteil nordöstlich von der Grant-Road ist als Kamatipura auf dem Stadtplan bezeichnet. – Da bin ich also an der richtigen Schmiede. Hier dürfte die Gasse liegen, die wir gestern durchstreift haben.
* * *
Ein zweiter Besuch
Ein zweiter Besuch
https://www.projekt-gutenberg.org/rosenerw/liebesga/chap004.html
Bombay, im Februar 19..
Gestern Abend war ich wieder in Kamatipura und in der gewissen Gasse. Diesmal mit Offizieren unseres Dampfers.
Das Namenschild dieser Gasse, in der die Hauptansiedlung der Freudenmädchen ist, zeigt die Aufschrift „Suklajistreet“.
Wir schlenderten langsam durch die Gasse, blieben da und dort verweilend stehen, wenn uns eine Einzelheit lebhafter interessierte.
Alsbald schloss sich uns ein Inder an und erbot sich mit einigen englischen Wort-Brocken, er wolle uns zu empfehlenswerten Mädchen hinführen.
Meine Begleiter, die, wie es scheint, im allgemeinen auf die Zunft der Kuppler nicht gut zu sprechen sind, weisen den Mann nicht gerade höflich ab.
Es ist ersichtlich, dass hier in der Suklajistreet, gemäß der landesüblichen Wertung, der „Europäer“ unter allen Besuchern der Gasse der angesehenste und begehrteste ist.
Eingeborene Männer gibt's zwar genug in der Suklajistreet, – sie sind entweder unbeteiligte, durch die Gasse schreitende Passanten oder sie sind aus Schaulust hergekommen oder vielleicht um der Hütte einer Inderin einen Besuch abzustatten, – aber diese Inder oder sonstigen „Natives“ werden von den Mädchen gar nicht beachtet, zum mindesten nicht von den „höheren“ Kategorien, nämlich von den Europäerinnen und Japanerinnen.
Die Freudenmädchen haben eben mit den meisten ehrbaren Mitgliedern der menschlichen Gesellschaft die Eigenheit gemein, dass sie den Leuten mehr oder weniger Beachtung schenken, je nachdem die Leute mehr oder weniger Geld zu besitzen scheinen. Der braune, mit zweifelhaft weißem Weißzeug dürftig bekleidete Inder ist ja nicht so zahlungswillig oder zahlungskräftig wie der Europäer. Und überdies ist er ein „Native“, also etwas a priori minder Wünschenswertes.
Solange nur Inder vorbeigehen, sind die Europäerinnen, Japanerinnen und im Allgemeinen auch die Inderinnen bloß ruhige Beobachterinnen der Gasse, harrend einer würdigeren Beute. Erst wenn ein Europäer auftaucht, hebt das Konzert der Werberufe und das Wink-Gebärdenspiel an.
Die Europäer! Die Repräsentanten des Europäertums, welche diese Gasse aufsuchen, sind zumeist Seeleute verschiedentlicher Grade und Nationen, ferner Soldaten der englischen Garnison von Bombay; in vereinzelten Exemplaren sind auch Männer zu sehen, die den europäisch-bürgerlichen Kreisen von Bombay anzugehören scheinen.
Weder gestern, noch vorgestern waren übrigens die europäischen Besucher allzu reichlich vertreten.
Die meisten Häuschen der Gasse sind von Freudenmädchen okkupiert. Hie und da im Erdgeschoß eines Häuschens der ärmliche Geschäftsladen oder die dürftige Werkstätte eines Eingeborenen.
Europäische Mädchen halten gleich die ersten Häuschen links nahe dem Anfang der Gasse besetzt, vielleicht in der Absicht: wer zuerst lockt, lockt am erfolgreichsten.
Eine Europäerin hat sich auf einem Sessel vor ihrem Häuschen so zurechtgesetzt, dass die Form des bestrumpften Beines genügende Publizität erhält. Im großen Ganzen sind jedoch die Mädchen von Kamatipura nicht darauf aus, zu Werbezwecken eine bewusste ungemäßigte Exhibition zu verwenden, in größerem Ausmaße „sich eine Blöße zu geben“. Die Europäerinnen der Suklajistreet, die da vor ihren Freudenhütten sitzen oder stehen, sind verhältnismäßig züchtig gekleidet. Zwar sind viele dieser Europäerinnen in einer Tracht, in der sie nicht durch die Straßen europäischer Städte gehen könnten, – sie sind ausgiebig dekolletiert, – doch auf europäischen Bällen könnten sie erscheinen, ohne Aufsehen zu erregen, auf europäischen Tanz- und anderen Unterhaltungen, bei Festtafeln, auf den Brettern und bei sonstigen öffentlichen Gelegenheiten, wo die Dame der guten europäischen Gesellschaft ihrem Dekolleté auch keine größeren und keine kleineren Raumüberschreitungen gestattet als die europäischen öffentlichen Mädchen hier in der Freudengasse von Bombay.
Hier in der Suklajistreet haben manche der europäischen Freudenmädchen zudem ziemlich kurze Röcke; ziemlich „unziemlich“.
An der Tracht der Japanerinnen merkt der europäische Besucher der Suklajistreet keinerlei erotische Intentionen. Die Europäerin sucht durch ein Manko ihrer Bekleidung, durch ein Minus der Verhüllung auf den Mann Eindruck zu machen, die Japanerin hingegen durch eine Reichlichkeit der Gewandung, durch eine Vollständigkeit der Bedeckung mit einem sichtlichen Willen zur Prunkhaftigkeit. Wenn die japanischen Mädchen regungslos, ohne zu winken und zu rufen, vom Fenster niederblicken, hat man eigentlich kein rechtes Anzeichen, ihren Beruf zu ersehen.
Die Inderinnen der Suklajistreet, unserer Freudengasse, sind nicht mehr entblößt als die ehrbaren Hindu-Mädchen, die man in den belebtesten Straßen von Bombay sieht.
– Die Freudengasse, in der wir gestern waren, gibt uns reichlich Anregung, über das Kapitel „Schamhaftigkeit und Ungeniertheit“ Betrachtungen anzustellen. An einzelnen Stellen der Gasse geht's recht ungezwungen zu, man sieht manchmal Situationen, welche dartun, dass Männlein und Weiblein, europäische und asiatische, hier unter Umständen keine übermäßige Scheu vor dem Auge allfälliger Beobachter haben.
Hinter den Gitterstäben einer Hütte sitzt in zärtlicher Umarmung mit einer Inderin ein Weißer, der, seinem Habitus nach, einer unteren Seefahrerklasse angehören mag. Er liebkost mit heiterer – oder angeheiterter – Gemütlichkeit sein schwarzbraunes Mädchen und schert sich nicht im Geringsten um sämtliche Zeugen, weiße und dunklen, die draußen vor dem Gitter vorbeispazieren.
Eine andere Hütte birgt – vielmehr zeigt – einen Europäer (dem Anschein nach ebenfalls ein Seemann), der gerade dabei ist, in kompletter Straßentoilette das Lager einer Inderin aufzusuchen; er schlägt einen der vier Vorhänge zurück, die eine Art Zelt über dem Bett bilden, und verschwindet im Innern des Vorhang-Geheges.
Das vollzieht sich nahezu in der Öffentlichkeit, denn jeder Vorübergehende hat direkten Einblick durch die Gittertür in die kleine stallartige Behausung, in die einzige Räumlichkeit der Hütte.
Hm, es ist eine gewisse Logik in solcher Ungeniertheit; (von der ästhetischen Seite und vom Reinlichkeitsstandpunkt der Angelegenheit wollen wir schweigen;) wer durch derlei Schauspiele in den Zorn des Tugendhaften versetzt wird, der braucht eben nicht in die Hütten hineinzuschauen, der braucht überhaupt nicht nach Kamatipura herauszukommen. Kommt und schaut er dennoch, nun so hat er sich's selber zuzuschreiben, dass er genötigt ist, die gewisse moralische Entrüstung zu simulieren.
Ähnlichen Erwägungen sind wohl auch die britischen Verwaltungsorgane zugänglich, die hier in Bombay, innerhalb und außerhalb des Freudenmädchen-Quartiers, dem Satz „Naturalia non sunt turpia – Natürlichkeiten sind nicht schändlich“ eine Berechtigung zugestehen, die sie ihm bekanntlich ansonsten nicht immer einzuräumen pflegen.
Die klügliche britische Taktik! – Im Kolonialgebiet werden herkömmliche Einrichtungen, die Bräuche des Eingeborenen, Bekleidungssitten, Religion und andere Kulturerscheinungen nicht angetastet, sofern sie harmlos sind; harmlos, das heißt: wenn sie die englische Herrschaft nicht bedrohen. Zu Hause, in der englischen Heimat, hat, wie man weiß, der gewisse Mr. Cant manchmal noch andere Ansichten über Harmlos und Nicht-harmlos.
– – – Um den Geschmack der Schiffsoffiziere, mit denen ich dahinspaziere, zu erkunden, frage ich, welche Spezies der Mädchen ihnen verhältnismäßig am meisten zusage. Sie antworten, am nettesten sähen die Europäerinnen aus.
Es scheint, dass in jedem Häuschen der Japanerinnen ungefähr ein halbes Dutzend Mädchen untergebracht ist. An je einem Fenster sitzen zwei japanische Mädchen; manchmal hat nur ein einziges Mädchen ein Fenster inne. Ich glaube, dass durchschnittlich auf ein Stockwerk drei Fenster entfallen mögen. Wenn bei einem Fenster nur eine Japanerin sitzt, so ist das gelegentlich vielleicht darauf zurückzuführen, dass die andere Fensterkollegin gerade im Innern der Häuslichkeit irgendeiner Beschäftigung obliegt.
Während wir, durch die Gasse promenierend, zu einer Wohnung japanischer Mädchen emporschauen, bemerke ich, dass sich dort oben im Zimmer zwei interessante Gäste aufhalten, interessant für mich, den Reise-Neuling: nämlich zwei regelrechte Chinesen. Sie stehen in der Nähe des Fensters und plaudern mit den Japanerinnen. Die beiden Söhne des Reiches der Mitte sind in eleganter dunkler Tracht, ein rundes schwarzes Käppchen ist die Kopfbedeckung. Glatte feiste Gesichter. Der eine ist augenscheinlich mehr vorurteilslos-zynisch veranlagt, der andere, der Jüngere, mehr schüchtern-verschämt. Der Zyniker blickt durch die Gläser seiner Brille mit breitem Lächeln aus dem Fenster zur Gasse nieder, macht einige Züge aus seiner Zigarre, wendet sich wie scherzend zu den Mädchen und scheint sich zu amüsieren, dass er der Gegenstand unserer Aufmerksamkeit ist. Der Schüchterne kommt ans Fenster, erblickt die Hinaufgaffer und tritt, als würde er sich geniert fühlen, in den Hintergrund des Zimmers zurück.
Es ist zu vermuten, dass die beiden Chinesen auf einer Durchreise begriffen hier in Bombay Halt gemacht haben. Während sie Kamatipura, eine Sehenswürdigkeit von Bombay, besichtigten, hat sie die Lust angewandelt, mit den Vertreterinnen mongoloiden Menschentums, den Japanerinnen, Beziehungen anzuknüpfen.
In Bombay sieht man ansonsten selten Chinesen.
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Ajame
Ajame
Während ich gestern Abend nach Kamatipura hinausfuhr, da war in mir eine Ahnung, dass ich zuguterletzt im Zimmer eines Freudenmädchens landen würde.
Wird die Ahnung recht behalten?
Durch die Suklajistreet wandelnd stellte ich Betrachtungen an über die daselbst ansässige Damenwelt: Es sind in dieser Liebesgasse hauptsächlich drei Mädchengruppen vertreten, Europäerinnen, Inderinnen, Japanerinnen; – welche ist die wünschenswerteste?
Die Europäerin? – Nein! Die ist mir nicht genug unbekannt! – Neu-gierig, neu-süchtig reist man aus Europa in die Ferne.
Also eine Inderin? – Nun ja, – die Inderin selbst, die Inderin an sich ist ja sicherlich recht anziehend, sie war umhüllt vom Duft des Märchens und romantischer Träume, als wir noch daheim in Europa weilten, aber leider sitzt sie, die Inderin, im gegenwärtigen Augenblick hinter Käfigstäben in einer gar nicht anmutigen Hütte und ihre Liebeskammer samt Freudenbett ist alles eher als einladend. Gewiss, das indische Mädchen ist das Kind einer fernen, fremden Welt, im Gegensatz zur wohlvertrauten Europäerin, doch bedauerlicherweise ist die Umwelt dieser indischen Halbwelt ziemlich unerquicklich.