Viva la carpa! Als die Mafia den Aischgründer Spiegelkarpfen haben wollte

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»Finde und töte sie«, hatte er seinem Schwiegersohn vor Monaten gesagt. »Wenn du die Prüfung bestehst, wirst du einer von uns.« Dann hatte er ihm die Colt 1911 A1, Kaliber 45, in die Hand gedrückt und ihn nochmals ermahnt. »Sprich mit niemandem darüber, auch nicht mit Francesca.« Il Tedesco hatte die Prüfung mit Bravour bestanden, wie sich nun zeigte. Nicht dass Calippo daran auch nur die geringsten Zweifel gehabt hätte, aber die Professionalität und Geschwindigkeit, die sein Schwiegersohn an den Tag legte, machten ihn sichtlich stolz. Nun stand der Aufnahme von Il Tedesco in die Ehrenwerte Gesellschaft nichts mehr im Wege.
Roserls Mörder hatte andeutungsweise zwar schon oft von den unterirdischen Gängen, Geheimtüren und Fluchtwegen gehört, aber Hörensagen ist die eine Seite, etwas selbst erleben die andere. Er hatte den Eindruck, als wäre das gesamte Bergmassiv des Aspromonte durchlöchert wie ein Schweizer Käse, als er die unterirdischen Gänge zum ersten Mal betrat. Nun kniete er inmitten einer fackelbeleuchteten Höhle vor seinem Schwiegervater nieder. Fünf Führer anderer Familienclans verfolgten das Aufnahmeritual als Zeugen. »Buon vespro«, begrüßten sie ihn. »Buon vespro«, grüßte er zurück. »Ich schwöre auf die ehemaligen Führer der italienischen Einigungsbewegung, auf Guiseppe Garibaldi, Guiseppe Mazzini und Alfonso Marmora«, hörte er sich sagen. »Ich schwöre wieder und wieder alles zu leugnen bis zur siebten Generation, um die Ehre meiner weisen Brüder zu bewahren. Ich schwöre die sieben Prinzipien der Heiligen Gesellschaft zu ehren, zu beachten, einzuhalten und die Efferatezza gegenüber den Betroffenen umzusetzen.« Dann hielt ihm sein Schwiegervater einen Dolch vor die Brust. Il Tedesco drückte einen Daumen auf den rasiermesserscharfen, glänzenden Stahl. Sein Blut tropfte auf ein Heiligenbild des Erzengels Michael, welches sein Schwiegervater unter das schwere Messer hielt. Sofort wurde der Blutstropfen von dem trockenen Papier aufgesogen. Dann hielt Calippo Antonelli das Heiligenbild an eine brennende Fackel. Er hielt es zwischen Daumen und Zeigefinger, bis es halb verbrannt war. Dann forderte er seinen Schwiegersohn auf: »Nimm es in deine Hände und zerdrücke die Flammen!« Il Tedesco tat, wie ihm geheißen wurde. Ohne Zaudern, ohne das geringste Zucken vor Schmerz, erstickte er die Flammen mit den bloßen Händen.
»Nun gehörst du zu uns«, erklärte ihm Calippo Antonelli, »nimm das Bild mit dem Erzengel. Es ist dein neuer Ausweis. Du wirst es tragen bis zum Ende deines Lebens.«
»In der Stille der Nacht, unter dem Licht der Fackeln und im Angesicht der ehrhaften Familie werde ich Teil der heiligen Kette«, bekannte Il Tedesco, »ich gelobe Gehorsam, Treue und Aufrichtigkeit.«
»Nun bist du ein vollwertiges Mitglied unserer heiligen Gesellschaft«, verkündete sein Schwiegervater erneut und küsste ihn auf die Stirn. »«Du bist wie eine Feder im Wind, die der Ehrenwerten Gesellschaft Bericht erstattet. Ich erhebe dich in den Stand eines Vangelista.«
»So soll es sein«, murmelten die anderen fünf Familienoberhäupter.
*
Zwei Wochen lang verbrachten Il Tedesco, seine Frau Francesca und die beiden Söhne einen gemeinsamen Urlaub in Platì, dann machte sich das neue Mafia-Mitglied, der neue Vangelista, wieder auf die lange Reise zurück nach Franken. Immer wieder erläuterte ihm Calippo Antonelli auf langen, ausgedehnten Spaziergängen durch die Olivenhaine seine zukünftigen Aufgaben.
»Unser Kerngeschäft ist der weltweite Kokainhandel«, teilte ihm sein Schwiegervater mit. »In den letzten Jahren haben wir die kolumbianischen Kartelle längst hinter uns gelassen, weil wir zuverlässig und unauffällig sind. Was wir versprechen, halten wir. Gibt es Probleme, lösen wir sie. Wir kaufen die Kokablätter direkt bei den Bauern, verarbeiten diese chemisch in eigenen Laboratorien zu einer Kokapaste, aus der anschließend das lösliche Kokainsalz gewonnen wird. Den Stoff bringen wir in einem Reinheitsgrad zwischen zwanzig und achtzig Prozent auf die Märkte. Auch Crack, mit Backpulver aufgekochtes Kokain, produzieren wir – speziell für die Endverbraucher, die lieber ein Pfeifchen rauchen, als sich eine Linie in die Nase ziehen. Durch die eigene Verarbeitung lässt sich ein deutlich höherer Gewinn erzielen. Verbleiben die Risiken und Kosten für den Transport in die Weltmärkte. Der Verkauf von Kokain hat uns liquide Mittel in unsere Kassen gespült, von denen du nicht zu träumen wagst. Langsam bekommen wir Probleme das Geld reinzuwaschen. Das können wir nur im großen Stil, wenn wir – vorzugsweise im Ausland – kräftig investieren, am besten in neue, legale Geschäftsfelder. Gleichzeitig denken wir aber auch daran, das Kokaingeschäft weiter zu perfektionieren. Das heißt, die Kosten weiter zu drosseln und das Transportrisiko zu minimieren. In letzter Konsequenz müssen wir unseren Stoff näher am Endverbraucher herstellen und … risikomindernd vermarkten. Hast du das so weit verstanden oder hast du Fragen dazu?«
»Das Prinzip der Geschäftsoptimierung ist mir klar und ich kann deine Worte gut nachvollziehen«, bestätigte Il Tedesco, »aber von welcher Größenordnung sprichst du?«
»Du meinst weltweit?«, vergewisserte sich sein Schwiegervater.
»Zum Beispiel.«
»Um dir eine ungefähre Zahl zu geben, wir setzen derzeit weltweit ungefähr dreiundfünfzig Milliarden Euro um, aus dem Kokaingeschäft allein circa neun Millionen Euro pro Tag.«
»Wahnsinn. Was ist mit möglichen neuen Geschäftsfeldern, die du erwähnt hast? Ich meine, das ganze Geld muss doch gewaschen, muss sauber werden. Das geht doch, wie du sagst, am einfachsten über Investitionen.«
»Mein lieber Schwiegersohn«, lächelte Calippo Antonelli, »ich bewundere deinen Scharfsinn. Du hast genau den Punkt getroffen. Genau dafür brauchen wir dich. Wir haben beschlossen, unser Geschäft nach Nordbayern auszudehnen. Die Gegend ist gut, ländlich abgelegen. Genau die richtige für uns, sie hat eine hohe Kaufkraft und die Arbeitslosigkeit ist niedrig. Für unser geplantes Vorhaben benötigen wir einen intelligenten und geschickten Unternehmertyp, Finanzverwalter und Führer vor Ort. Jemand, der unser Geld in großem Rahmen reinwäscht und in neue Geschäfte investiert. Jemand, der Kontakte zur Regionalpolitik aufbaut und unterhält. So manche deutsche Staatsbeamte sind nicht minder korrupt als italienische Politiker. Wenn das nicht so wäre, wären wir nicht in Deutschland. Geldwaschen ist in Deutschland viel einfacher als bei uns.«
»Und warum ist das so?«, wollte das neue Mitglied der Ndrangheta wissen. »Wo liegen da die Unterschiede?«
»Schau«, klärte ihn sein Schwiegervater auf, »in Italien haben wir das System der Beweislastumkehr. Das bedeutet, du musst nachweisen woher das Geld stammt, welches du investieren willst. Das macht die ganze Angelegenheit etwas kompliziert. Ihr in Deutschland habt da ein ganz anderes System. Bei euch gilt die sogenannte Unschuldsvermutung. Der deutsche Staat ist da viel toleranter. Ich würde sagen, etwas blauäugiger.«
»Das habe ich auch verstanden. Und in welche neuen Geschäfte wollt ihr in Nordbayern investieren?«
»Kannst du dir das nicht vorstellen?«, stellte ihm sein Schwiegervater amüsiert die Gegenfrage. »Du selbst hast uns auf die Idee gebracht.«
*
Am 17. August hieß es Abschied nehmen. Frühmorgens, bevor die Sonne über den östlichen Horizont kroch und der Lkw-Verkehr auf den engen Straßen die Pkw-Fahrer zur Weißglut bringen konnte, setzte sich Il Tedesco in seinen Audi. Er hatte eine lange Rückfahrt nach Franken vor sich. Er wollte die Dinge, welche er mit seinem Schwiegervater besprochen hatte, sofort angehen, und er freute sich darauf, die geplanten Renovierungsarbeiten an der alten Mühle endlich in Angriff zu nehmen. In zwei Wochen würden Francesca und die Kinder nachkommen. Nicht mal zwei Flugstunden und sie erreichten Frankfurt am Main.
Das neue Mafia-Mitglied kam auf seinem Weg nach Norden gut voran. Zweimal legte er unterwegs zum Pinkeln und Essen knappe Pausen ein. Die Rückfahrt war langweilig und ermüdend. Er freute sich auf den Stopp in Malcesine am Gardasee. Im Hotel Majestic Palace, fast am Ende der Straße, welche an der Seilbahnstation zum Monte Baldo vorbeiführte, hatte er für die Nacht ein Luxuszimmer gebucht. Knapp einhundert Kilometer hatte er bis dorthin noch vor sich. In seinen Gedanken sah er bereits den riesigen Biergarten der Tiroler Speckstube, welcher nur einen kurzen Spaziergang vom Hotel entfernt lag. Er wusste, heute würde er sündigen. Er würde sich die knusprige Schweinshaxe vom Buchenholzgrill ohne jegliche Gewissensbisse schmecken lassen. Er sah auf sein Navi. Die Schweinshaxe war noch dreiundneunzig Kilometer entfernt, da fielen ihm die Worte seines Schwiegervaters wieder ein, als er ihn gefragt hatte, in welches neue Geschäftsfeld die Ndrangheta in Nordbayern investieren wolle.
»Du hast mir so oft von euren Spiegelkarpfen aus dem Aischgrund vorgeschwärmt«, hatte Calippo geantwortet. »Von einem der bedeutendsten Fischzuchtgebiete in Deutschland hast du gesprochen. Hast mir erzählt, was für ein Run von September bis April auf die dortigen Gaststätten alljährlich stattfindet, nachdem die Karpfensaison eröffnet ist. Ich habe dies mit den anderen Familienoberhäuptern diskutiert und wir haben Erkundigungen eingezogen, haben uns schlau gemacht. Dann haben wir eine Entscheidung getroffen und die ersten Schritte eingeleitet. Wir investieren in das Fischzuchtgeschäft in eurem Aischgrund.«
»Aber …«, versuchte Il Tedesco zu intervenieren.
»Hör mich erst an«, unterbrach ihn sein Schwiegervater. »Wir haben in Franken einen seit Jahren leer stehenden Supermarkt gekauft. Ein Projekt, das einen deutschen Investor in der Nähe von Stuttgart vor Jahren in die Insolvenz getrieben hat. Dazu gehört ein zweites, nebenstehendes Gebäude, eine riesige Lagerhalle. Wir haben beides gekauft.«
»Wo stehen die Gebäude?«, hatte er Calippo gefragt.
»in einem kleinen Kaff. Müsstest du eventuell kennen. Liegt gar nicht so weit von eurer Mühle entfernt. Röttenbach. Schon mal gehört? Liegt auch im Karpfenland Aischgrund. Na ja, schon etwas abseits.«
»Röttenbach?«, hatte er amüsiert nachgefragt, um sich zu vergewissern, dass er seinen Schwiegervater auch richtig verstanden hatte, »meinst du das Röttenbach zwischen Erlangen und Höchstadt an der Aisch?«
»Du kennst das Dorf?«, kam es aus Calippos Mund.
»Na klar, wer kennt Röttenbach nicht? Die Fischküche Fuchs, zum Beispiel. Da gibt es die besten gebackenen Aischgründer Spiegelkarpfen in der Region. Der Wirt züchtet sie in eigenen Weihern. Wenn du da am Wochenende einkehren willst, ohne reserviert zu haben … Kannst du vergessen, sage ich dir.«
»Verrückt!«, war das Einzige, was sein Schwiegervater dazu bemerkte. »Die Welt ist doch wirklich klein. Hör zu, der Supermarkt und die Lagerhalle werden derzeit umgebaut. Auf den ehemaligen Verkaufsflächen des Supermarkts errichten wir ein Restaurant der Spitzenklasse. Mediterrane Küche. Sonnenterrasse, künstliche Teichanlage mit Springbrunnen und sonstigen, exklusiven Schnickschnack. Eine Wohlfühloase. Nichts für den kleinen Geldbeutel. Ende September ist Eröffnung.«
»Wow! Verstanden. Und was habt ihr mit der Lagerhalle vor?«
»Die Umbauarbeiten werden bereits in den nächsten Tagen abgeschlossen. Darin züchten und verarbeiten wir Kokapflanzen. Aber das ist noch nicht alles. Ich denke auch an die Herstellung von Kokatee. Wie gesagt, wir wollen in großem Stil in die Karpfenzucht in eurem Aischgrund investieren. In der Gegend gibt es ungefähr siebentausend größere und kleinere Fischteiche, das hast du mir so oft erzählt. Mehr als dreitausend Hektar sollen es sein. Na schön habe ich mir gedacht und habe mich über die Karpfenzucht im Aischgrund informiert. Alles sehr ländlich verträumt, in dieser Gegend. Eigentlich ideal für unsere Geschäfte. Na ja, die anderen Clan-Oberhäupter sehen das genauso. Wir haben noch so viel Geld in Deutschland gebunkert, das wir rein waschen wollen und müssen. Ergo ist ein Großprojekt genau das, was wir jetzt brauchen. Dann, nach langen Diskussionen, haben wir beschlossen, dass das Karpfengeschäft der richtige Ansatz für uns ist. Nichts Aufregendes, es ist eher unauffällig, wenn wir uns dort beteiligen. Schritt für Schritt, aber insgesamt mit einem hohen Investitionsvolumen. Niemand wird damit rechnen, dass wir in die Fischzucht einsteigen.«
»Aber die Karpfenteiche befinden sich alle in Privatbesitz«, brachte Calippos Schwiegersohn nun seine Einwände an. »Mehr als eintausend Teichwirte sollen es sein, sagt man.«
»Das ist richtig«, bestätigte ihm sein Schwiegervater, »aber nach eigenen Recherchen betreiben sehr viele die Fischzucht nur als Nebenerwerb. Hier müssen wir ansetzen. Wenn wir denen einen anständigen Preis bieten …?«
»Und wenn sie dennoch nicht verkaufen wollen?«
»Dann hilfst du nach und unterbreitest ihnen ein Angebot, das sie nicht ablehnen können. Das wird dir sowieso nicht erspart bleiben, denn die großen Teichwirte, die, welche ausschließlich von der Fischzucht leben, werden ihre Weiher bestimmt nicht so leicht abgeben wollen. Egal, kauf alles auf, was du kriegen kannst. Wenn nötig … du weißt schon. Sei nicht zimperlich. In fünf Jahren wollen wir der größte Fischproduzent in der Gegend sein und den Markt beherrschen. Dann werden wir die Preispolitik gestalten. Glaub mir, wir haben das Projekt bis ins kleinste Detail analysiert. Gründe Strohfirmen, die als potentielle Aufkäufer der Fischteiche auftreten. Irgendwann später gründen wir unsere eigene Genossenschaft, in die wir dann die zwischenzeitlich zugekauften Karpfenzuchtbetriebe integrieren.«
»Eine solche Genossenschaft mit Hunderten von Mitgliedern gibt es auch schon.«
»Weiß ich auch, aber nicht mehr lange. Sorge dafür. Auch das gehört zu deinen Aufgaben. Wer sich uns in den Weg stellt … na ja, du weißt schon … Du bist unser Mann vor Ort. Und vergiss nicht, kümmere dich auch um die Aufzucht, Verarbeitung und Vermarktung der Kokapflanzen in Röttenbach. Sieh auch zu, dass das Geschäft in dem neuen Restaurant flutscht. Wenn du Hilfe brauchst, melde dich rechtzeitig. Du kriegst jegliche Unterstützung. Viva la carpa!«, rief Calippo begeistert und klopfte seinem Schwiegersohn aufmunternd auf die linke Schulter.
»Ja, es lebe der Karpfen!«, wiederholte der.
4
Am Spätnachmittag des 18. August fuhr ein riesiger Umzugs-Lkw samt Anhänger in die umgebaute, gigantische Lagerhalle in Röttenbach ein, er kam direkt aus Hamburg. Dort, am Schuppen 54, hatte letzte Nacht die MS Venezia festgemacht. Der vorletzte Hafen, in dem sie vorher Ladung aufgenommen hatte, war Catania auf Sizilien, bevor es über Marseille weiter in die Hansestadt ging. Die fünf dunkelhäutigen Gestalten aus Bogotá hatten schon sehnsüchtig auf die Ankunft des Lkws gewartet, der die in Catania zugeladenen Olivenbäumchen bringen sollte. Offiziell waren die fünf Italiener, mit exzellent gefälschten Pässen ausgestattet und Mitarbeiter der Italo-Gewürztee GmbH, als deren Hauptgesellschafter die Italo-Import- und Export GmbH mit Sitz in Zürich zeichnete. Die fünf mit den pomadig pechschwarzen Haaren und der von Wind und Wetter gegerbten Haut galten daheim in Bogotá als Meister der Koka-Zucht. Ihre Frauen und Kinder mussten sie zu Hause zurücklassen. Die Ndrangheta wachte über ihre Familien. Nur für den Fall, dass die fünf im fernen Deutschland auf dumme Gedanken kommen sollten.
Die vielen hundert zwei- bis dreijährigen Kokapflanzen, welche in den wirren Gängen des Aspromonte-Bergmassives unter künstlichem Licht herangezogen worden waren, waren schnell abgeladen und an ihre zukünftigen Standorte in den Regalen der Lagerhalle gebracht worden. Die Kolumbianer hatten gute, schnelle Arbeit geleistet. Über den prächtigen Pflanzen strahlten nun die Natrium-Hochdruckdampflampen und versprühten ihr monochromatisches Licht. Noch war die Lagerkapazität der riesigen Halle bei Weitem nicht ausgereizt. Also karrten die fünf Männer am nächsten Tag unzählige Blumentöpfe, Humussäcke, Düngerbehälter und Substrate herbei. Nachdem alle Kokasträucher ordentlich befeuchtet und mit Dünger versorgt waren, gingen die fünf an ihre eigentliche Arbeit. Sie hatten einen Blick für die reifen Früchte, welche an den jungen Pflanzen ihre volle Reife entwickelt hatten. Schnell waren sie geerntet und schlummerten nun in einem großen Sammelkorb. Weich und matschig mussten sie werden, bevor die fünf Experten wieder Hand an sie legen würden.
Dann galt es nämlich, das matschige Fruchtfleisch gründlich abzuwaschen und die Samen ausgiebig trocknen zu lassen. Trotz aller Erfahrung und Sorgfalt bei der Auslese der Samenkörner wussten die fünf, dass sie schlechte Körner erst aussortieren mussten, um die Effizienz ihrer Arbeit nicht zu gefährden. Sie schmissen alle Samenkörner in einen Eimer Wasser. Die schlechten, nicht verwertbaren Samenkörner trieben sofort an der Wasseroberfläche. Sie wurden abgeschöpft und landeten im Müll. Erst nach diesem Auslesevorgang ging es ans Pflanzen. Die fünf Koka-Spezialisten bedienten sich an den Perlite-, Humus-, Substrat-, Kies- und Düngersäcken und stellten die passenden Blumentöpfe in Reih und Glied. Mindestens sechs Zentimeter mussten sie hoch sein. Einer der fünf Arbeiter füllte eine ein bis zwei Zentimeter dicke Schicht Aquariumkies in die Blumentöpfe. Sie diente als Drainage, damit übermäßiges Wasser schnell abfließen konnte. Die jungen Keimlinge sollten – obwohl sie warme Feuchtigkeit liebten – keine nassen Füße bekommen, ihre zarten Wurzeln sollten nicht verfaulen. Der zweite Arbeiter mischte Humus und Perlite im richtigen Verhältnis und verteilte jeweils ein Samenkorn auf die Anzuchttöpfe. Der dritte schließlich füllte die Blumentöpfe mit der Anzuchtmischung und bewässerte sie. Die beiden anderen verteilten die bepflanzten Blumentöpfe auf ihre halbschattigen Standorte in der riesigen Halle. Einen Monat würde es ungefähr dauern, bis die Keimlinge – die richtige Pflege vorausgesetzt – ihr zartes Grün durch die Erde stoßen würden. Noch war es nicht so weit, aber dann hieß es die Keimlinge mit mehr Licht und erneut mit Dünger zu versorgen. Nach zwei Monaten, wenn die Pflanzen eine Größe von circa zwanzig Zentimeter erreicht haben würden, mussten sie umgetopft werden. Die Wurzeln brauchten nun mehr Platz, um sich kräftig entwickeln zu können. Immer wieder wollten sie gewässert und feucht gehalten werden. Ein- bis zweimal pro Monat verlangten sie nach Universaldünger, um prächtig zu gedeihen. Das waren die Voraussetzungen, die beste Aussichten versprachen, dass sie sich kräftig entwickeln würden. Aber Wachstum würden die fünf aus Bogotá nicht unbegrenzt zulassen. Sobald die Kokasträucher eine Höhe von zwei Metern überschritten, würden sie abgeschnitten werden. Nur so waren pro Jahr bis zu drei Ernten möglich. Il Tedesco verfolgte die Arbeiten der fünf Südamerikaner mit Argusaugen. Immer wieder tauchte er unangemeldet auf und kontrollierte, ob die Arbeiten im Zeitplan lagen. Schluderei wollte er erst gar nicht aufkommen lassen.
*
»Schau mer vorbei, wenn der neue Italiener aufmacht?«, wollte die Retta von ihrer Freundin am Telefon wissen.
»Was für a Italiener?«, schnaubte die Kunni zurück. »Wo vorbei?« Sie ärgerte sich, dass ihre Freundin offensichtlich schon wieder etwas wusste, was ihr entgangen war. Dass Retta sich dann auch noch genießerisch in Rätseln artikulierte, konnte sie sowieso nicht verputzen.
»Hast wohl des Gemeindeblatt nunni glesen, Kunigunde Holzmann?«, reagierte die Retta halb vorwurfsvoll, halb belustigt. »Bist deiner Zeit hinten nach? Genau wie der Leitmayr?«, klang es schnippisch aus dem Telefonhörer. »Am Mittwoch, den dreiazwanzigstn September macht a neuer Italiener bei uns auf. Steht doch heut im Gemeindeblatt. Des Calabrese.«
»Mein Gott«, stöhnte die Kunni, »des is ja erscht in fünf Wochn. Außerdem waßt du doch genau, dass des italienische Gefress net so mei Ding is. Pizza, Spaghetti, Risotto … also ich waß net so recht …«
»Des wird a Edel-Italiener«, klärte die Retta sie auf, »Ossobuco, Seezungenfilet in Zitronensoße, Calamari vom Grill …«
»Igitt, hör mer fei damit auf! Calamari! Na, frittierte Radiergummis moch ich fei net.«
»Also, der Dirk hat mich eigladn«, fügte die Retta kokett hinzu und wartete auf Kunnis Reaktion.
»Aha, seit ihr zwa etz doch so weit? Dann will er bestimmt was vo dir. Hastn gwieß scharf gmacht, den arma Kerl?«
»Was haßt do armer Kerl?«, schnaubte die Retta durchs Telefon.
»Na ja, der waß bestimmt net, was da auf ihn zukumma tät! Den müsst doch der Schloch treffn, wenn …«
»Warum soll den der Schloch treffn?«
»Etz geh, Retta. Sei doch ehrlich zu dir selber. Wenn du dei Reizwäsch ablegn tätst … der arme Dirk … der müsst doch mana, der Tod vo Forchheim steht vor ihm. A Biafra-Kind is gegn dich doch der reinste Fettsack. Selbst wenn der Dirk a ganze Großpackung vo seine blaue Pilln auf amol fressn tät, selbst dann tät sich do bei ihm wahrscheinli nix rührn …«
Pause. Margarethe Bauer war für den Moment sprachlos und musste sich zuerst von den Worten ihrer Freundin erholen. Es hatte ihr regelrecht die Sprache verschlagen, was ansonsten äußerst selten vorkommt. Dann, nach weiteren Sekunden, stieß sie einen heftigen Schrei in den Telefonhörer: »K u n n i …« Aber Kunigunde Holzmann hatte genau auf diesen Moment gewartet und ließ ihrer Freundin nicht die geringste Chance, ließ diese erst gar nicht erneut zu Wort kommen. »Na danke. Da geh ich lieber nächste Wochn, am sechsazwanzigstn August, zur Eröffnung der Karpfenschmeckerwochen. Bin nämlich a eingladn.«
»Wo gehst du hie?« Rettas Gedanken wirbelten soeben in einem heillosen Chaos durcheinander. Die Kunni hatte sie völlig aus der Fassung gebracht. Eigentlich wollte sie ihrer Freundin gehörig die Meinung sagen und ein paar neue Unfreundlichkeiten von sich geben, aber dann, innerhalb von Sekundenbruchteilen, gewann, wie immer, ihre Neugierde die Oberhand.
»Zur Eröffnung der Karpfenschmeckerwochen 2015«, wiederholte die Kunni genüsslich. »Aber des wird dir bestimmt nix sagn! Schaust ja normalerweise, genau wie der Batic, net über dein Tellerrand drüber naus. Sacht dir der Landkreis Neustadt an der Aisch/Bad Windsheim eigentlich was? Scho mal was davon ghört? Nu net, gell? Na ja, macht nix. Jedenfalls die liegen a im Aischgrund und züchtn a Karpfen. Und am sechsazwanzigstn August feiern die mit großn Brimborium die Auftaktveranstaltung zu ihren Karpfenschmeckerwochn. Mitn Landrat, Burchermaster, Vertreter der Karpfengastronomie und so weiter. Übrigens, die Aischgründer Karpfenkönigin, Katrin die Erste, is a mit dabei. In Adelsdorf«, setzte die Kunni noch hinzu.
»Adelsdorf?«, spie die Retta erbost in den Telefonhörer, »Landkreis Neustadt an der Aisch? Hä? Spinnst etz? Liebe Kunni Holzmann, scheinst selber ka Ahnung von unserer Geometrie zu ham, genauso wie der Leitmayr!«
»Geografie, Retta. Geografie haßt des«, stoppte sie die Kunni in ihrem Redeschwall.
»Scheiß drauf«, reagierte die Retta erbost, »bist a net die Gscheiteste. Adelsdorf licht im Aischgrund, im Landkreis Höchstadt an der Aisch! Net im Landkreis Neustadt an der Aisch. Alte Dolln.«
»Sach ich doch«, entgegnete die Kunni ruhig und voller Ironie, »Tellerrand, Batic. Der Apfel fällt net weit vom Stamm! Bled bleibt bled! Im Zenngrund gibts auch a Adelsdorf. Nu nix davon ghört, Margarethe Bauer, gell? Na ja, kann mer vo dir ja a net erwartn. Net weit vo Langazenn, bei Markt Erlbach. Is a Ortsteil von Neuhof.«
Pause.
»Wie kommstn da du dazu? Wer hatn dich denn dazu eingladn?« Kunni konnte am Telefonhörer regelrecht spüren, wie der Vulkan am anderen Ende der Leitung vor sich hin brodelte und nahe vor der Eruption stand.
»Des werd ich dir altn Zuchtl grad noch auf die Nasn binden. Geh du lieber mit deim Lover zu dem Itaker. Mein Segen hast. Ich beneid dich net drum … Retta? … Retta? … Etz hats einfach aufglecht, die alte Dolln.« Kunigunde Holzmann grummelte vor sich hin. Ein ganz reines Gewissen hatte sie allerdings nicht. Sie war eben vielleicht doch ein bisschen zu weit gegangen. Vor etwa einem halben Jahr saßen sie beide zusammen, die Retta und sie, und studierten den Wochenendteil der Nordbayerischen Nachrichten. Kennst du deine Heimat?, stand dort in einer dicken Schlagzeile, direkt unter einem Bericht über den Aischgründer Spiegelkarpfen. Gewinnen Sie und lassen Sie sich anlässlich der 37. Karpfenschmeckerwochen verwöhnen. Die Retta hatte die elf Fragen, welche sich mit dem Aischgrund beschäftigten, beantwortet und das Lösungswort Steigerwald eingetragen. »Ich kann ihr doch net sagn, dass ich des Lösungswort, des wo sie da rausgfundn hat, an die Redaktion von dene Nordbayerischen Nachrichten gschickt und noch dazu den Hauptpreis gwunna hab«, sprach die Kunni zu sich selbst, »die springt mir mitn nackerten Orsch mittn ins Gsicht. Na, des kann ich net. Hätt sie die Lösung halt selber abgschickt. Selber schuld. Etz holt halt mich die Stretchlimousine am sechsazwanzigsten August ab. Und net die Retta. Die schaut mich nemmer an, wenn die des erfährt. Wurscht. Solls mit dem Dirk halt zu dem Italiener geh. Jeder wie ers verdient.«