»Wir kriegen euch alle!« Braune Spur durchs Frankenland

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Kunigunde Holzmann und Margarethe Bauer, die beiden Röttenbacher Busenfreundinnen, saßen bei der Kunni im Wohnzimmer. Vor ihnen auf dem Couchtisch standen eine gut gefüllte Kanne mit frisch gebrühtem Kaffee, eine Kuchenplatte mit drei Schichten Streusel-Zwetschgenkuchen, eine Glasschale mit frisch geschlagener Sahne, ein Porzellankännchen mit Bärenmarke-Kondensmilch und, inmitten von Kuchentellern, Tassen und Besteck, ein Plastikspender mit Süßstoff-Tabletten. »Wegen der Kalorien«, wie Kunni Holzmann anmerkte. »Essn wir eine Kleinigkeit. Hau rein, Retta.«
Margarethe Bauer sah auf das Ziffernblatt der hohen Standuhr. »Wird heut net der Bergdoktor wiederholt?«, wollte sie von Kunni wissen, während sie ein Stück Zwetschgenkuchen auf ihren Kuchenteller schaufelte und aus der Glasschale zwei turmhohe Sahnehäubchen oben drauf klatschte.
»Weiß net, schalt halt den Fernseher ein«, antwortete die Kunni, während sie die beiden Kaffeetassen mit duftendem Kaffee füllte, jeweils zwei Süßstoff-Tabletten dazu gab und die dunkle Brühe kräftig umrührte. »Milch auch?«
»Freilich, ohne Milch schmeckt doch der Kaffee net.« Margarethe Bauer drückte auf der Fernbedienung des Fernsehers herum. Das Gerät knisterte und kurz darauf erschien eine Fernsehreporterin in Großaufnahme. Ihr Gesichtsausdruck wirkte wie versteinert. In der rechten Hand hielt sie einen aufgespannten, geblümten Regenschirm, in der linken ihr Mikrofon mit dem ZDF-Logo. Der Wind zerrte an ihrer dunklen Afro-Frisur und schaukelte den Regenschirm hin und her. »Is des net in Nermberch?«, warf die Retta ein.
»Hab ich mir a grad denkt«, bestätigte die Kunni zweifelnd.
»Was isn da scho widder passiert?«
»Ruhich, leise!«
»… seit einer knappen Stunde sind auch die staatlichen Ermittlungsbehörden vom Bundeskriminalamt und dem Verfassungsschutz am Ort der Verwüstung«, berichtete die Reporterin mit aufgeregter Stimme. »Im Hintergrund sehen sie das Türkische Generalkonsulat in Nürnberg oder besser gesagt das, was davon noch übrig geblieben ist. Heute Morgen, um Ortszeit neun Uhr eins, eine halbe Stunde nach Öffnung, explodierten unmittelbar vor dem Gebäude zwei Sprengsätze, welche über Funk gezündet wurden und sich in einem in Fürth gestohlenen VW Golf befanden. Soweit bekannt ist, fielen dem Anschlag zehn Menschen zum Opfer, sechs weitere liegen schwer verletzt in den Erlanger Kliniken und zahlreiche andere Personen wurden durch umherfliegende Splitter leicht verletzt. Hinter mir sieht es aus, wie nach einem Bombenangriff.« Die Kamera zoomte das schwer beschädigte Gebäude heran und schwenkte Sekunden später wieder auf die zerzauste Berichterstatterin zurück. »Das Türkische Generalkonsulat sowie die nebenstehenden Gebäude sind schwer beschädigt. Wer für den schrecklichen Anschlag verantwortlich ist, ist bis dato noch nicht bekannt. Ein Bekennerschreiben gibt es, soweit uns bisherige Informationen vorliegen, nicht. Von der Polizei und der zuständigen Staatsanwaltschaft unbestätigt hält sich allerdings ein hartnäckiges Gerücht, demzufolge hinter dem verabscheuungswürdigen Terrorakt vermutlich eine palästinensische Großfamilie stecken könnte, die in Berlin beheimatet sein soll. Die Gerüchte besagen, dass Teile dieser Familie Mitglieder der Organisierten Kriminalität sind und dass die Motive des schrecklichen Bombenanschlags möglicherweise im Bereich eines persönlichen Rachefeldzuges liegen könnten, welcher einem getöteten Mitarbeiter des Konsulats gegolten haben soll. Warum bei dem Anschlag allerdings weitere neun unschuldige Menschen ihr Leben lassen mussten, nun, diese Frage ist im Moment noch völlig ungeklärt. Die Polizei vor Ort hat für heute um dreiundzwanzig Uhr eine Pressekonferenz anberaumt. Viele Fragen bleiben im Moment noch offen. Wir berichten weiter. Bleiben Sie dran. Und nun schalten wir zurück ins Studio Mainz. Es folgt die Wiederholung der Sendung Die Fischers Froni und der Jägers Toni, aus unserer Serie Der Bergdoktor.«
»Glaubst du das mit der palästinensischen Großfamilie?«, wollte die Kunni, sichtlich erschüttert, wissen und schob sich ein Stück Kuchen in den Mund.
»Könnt scho sein«, antwortete die Retta, »das sind doch sowieso alles Schlaggn und Gauner, die Palästinenser. Wie die scho ausschaua! Mit ihre Bärt und stiere Blick. Zum Fürchtn. Da brauch ich mich doch bloß an den Arafat zu erinnern, mit seinem komischen Kopftuch und den kleinen, listigen Schweinsaugen. Von denen kannst du doch keinem net traun. Das sind doch alle Gangster und Verbrecher.«
»Aber die bringen doch keine zehn Leut net um, die mit ihnen gar nix zu tun ham. Mirnixdirnix. Am helllichten Tag noch dazu. Also ich glaub des net. Wenns die NSU noch geben tät, dann tät ich sagn, da stecken die dahinter.«
»Meinst du?«, zweifelte Margarethe Bauer und griff sich ihr zweites Stück Kuchen. »Hast du noch an Kaffee? Ist das die Milde Sorte vo Tchibo? Hast ganz schön stark gmacht. Hoffentlich kann ich heut Nacht schlafen.«
16
Nicht nur Ahmet Özkan hatte vor Jahren unfreiwilligen Kontakt mit dem syrischen Geheimdienst, auch die palästinensische Großfamilie Abusharekh in Berlin-Neukölln pflegte rege Beziehungen mit den Glaubensbrüdern, wobei sich diese Aktivitäten jedoch am Rande der Legalität bewegten. Ali, der Familienvorstand, stand politisch dem syrischen Regime und dem Führungsgremium der Baath-Partei sehr nahe. Er unterstützte den 1969 gegründeten Geheimdienst der Syrer, indem er schon so manchen in Deutschland aktiven Regimefeind diskreditiert hatte. Einige unaufgeklärte Morde und Entführungen wären ohne seine Informationsbereitschaft nicht geschehen. Obwohl Ali Abusharekh bei seinen Kontakten sehr vorsichtig war, war ihm der Bundesnachrichtendienst doch auf die Schliche gekommen und hatte auch den Verfassungsschutz informiert. Ali Abusharekh wurde von Zeit zu Zeit observiert, sein Festnetz- und sein Mobiltelefon wurden vom BND abgehört.
Doch er war ein äußerst vorsichtiger, verschlagener und misstrauischer Mann. Über vertrauliche Angelegenheiten, die nicht für die Allgemeinheit bestimmt waren, sprach er nie am Telefon. Er zog das persönliche Gespräch außerhalb der eigenen vier Wände vor. Im Notfall benutzte er sein abhörsicheres Satellitentelefon. Nur ganz wenige Menschen kannten die Telefonnummer. Seine Kontakte reichten bis tief in die Türkei hinein, wo noch Hundertausende Flüchtlinge, vor allem aus Syrien, dem Irak und Afghanistan, darauf warteten, bis an die nordafrikanische Küste weitertransportiert zu werden, um ihre ungewisse Überfahrt nach Europa anzutreten. Seine Beziehungen waren aber auch über halb Europa verteilt, und wann immer ein Boot mit Flüchtlingen in Lampedusa oder einem anderen Mittelmeerhafen eintraf, wusste er nach wenigen Stunden, ob Syrer unter den Ankömmlingen waren und welche politischen Ansichten sie vertraten. Der Chef des Familienclans befehligte höchstpersönlich mehrere Schleuserbanden im Nahen Osten, Tunesien und Libyen. Er verdiente am Leid der Flüchtlinge und setzte bewusst ihr Leben aufs Spiel, indem er seine Handlanger anwies, nur alte, verrottete Seelenverkäufer für die Überfahrt zu beschaffen, Boote und Fischkutter, welche den Namen seetüchtig in keinster Weise mehr verdienten. Darauf pferchten seine Leute die hoffnungsvollen Flüchtlinge und ließen sie dann mit den Schleppern in See stechen. Meist in der Nacht und bei jedem Wetter. Circa einhundertdreißig Kilometer waren es von Tunesien, circa dreihundert von Libyen bis nach Lampedusa. Kurz genug, um zu jeder Zeit zu sterben, lange genug, um stundenlange Ängste und Zweifel zu durchleben. Auch im Mittelmeer gab es nicht selten überraschend auftretende, heftige Stürme und Gewitter mit meterhohen Wellen. Einmal, als die Flüchtlinge sich weigerten, auf hoher See auf ein anderes Boot umzusteigen, versenkten die Schlepper kurzerhand das Flüchtlingsboot. Ali Abusharekh erinnerte sich an den Anruf auf seinem Satellitentelefon, damals, vor einem knappen dreiviertel Jahr, als er weit nach Mitternacht mit dem Problem konfrontiert wurde. »Lasst sie absaufen«, hatte er voller Zorn in den Hörer geschrien. Mehr als zweihundert Menschen – Kinder, Frauen und Männer – ertranken elendiglich und qualvoll, als ihr alter Kutter in den Tiefen des Mittelmeers versank. Die Schlepper, welche die Ventile des alten Kahns geöffnet hatten, verhöhnten die wenigen, die noch schwimmend auf der Wasseroberfläche trieben. Bald würden auch ihre Kräfte nachlassen.
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Hinter dem mannshohen Maschendrahtzaun, an dessen oberen Ende drei Reihen Stacheldraht gezogen waren, ragten die langen, dreistöckigen Mannschaftswohngebäude der ehemaligen Polizeikaserne empor. Kein besonders schöner Anblick, diese in Stein errichtete Tristesse und die kahl geteerten Flächen zwischen den langgezogenen Gebäuden. Ein Wohnblock stand aufgereiht neben dem anderen. Es sah aus wie in einem Sammellager, aber das war es ja auch. Das Rote Kreuz hatte zusätzlich riesige Mannschaftszelte zwischen den Gebäuden aufgebaut, manche reichten bis direkt an die Hauswände heran, manche standen in unmittelbarer Nähe des Zauns. Reihen von mobilen Dixie-Toiletten, von Schmeißfliegen umschwärmt, schlossen sich an und stanken vor sich hin. Niemand fühlte sich zuständig, sie zu entleeren. Vor manchen Fenstern der Wohngebäude waren Wäscheleinen gezogen, an denen wenig reizvolle Unterwäsche, Kopftücher und Hemden zum Trocknen hingen. Ein blickdichtes Schiebetor, der offizielle Zugang zu dem Areal, rundete den unappetitlichen Eindruck der Gesamtanlage ab, welche auf ein Aufnahmevolumen von sechshundertfünfzig Asylsuchenden ausgelegt war. Derzeit lebten knapp tausend Flüchtlinge hinter dem Zaun, der die Anlage in einem großen Rechteck umgab. Die Aufnahmestelle platzte aus allen Nähten. Selbst die Kapelle und die Cafeteria waren zu Notunterkünften umfunktioniert worden. Garagen dienten zur Lagerung von allem möglichen Krimskrams, und die im Freien aufgestellten Mannschaftszelte waren auch schon brechend voll. Einhundertzwanzig Männer mussten sich einen Waschraum teilen. Asylanten aus dreißig verschiedenen Herkunftsländern lebten derzeit vorübergehend auf dem Areal der Aufnahmeeinrichtung für Asylsuchende in Zirndorf an der Rothenburger Straße 31, welches dem Bundesamt für Migration und Flüchtlinge, dem BAMF unterstand. Sie kamen aus Tschetschenien, Syrien, Irak, Afghanistan, Libyen, Ghana, dem Sudan, Uganda und anderen Krisenländern. Die wenigsten von ihnen hatten tatsächlich eine echte Chance, in Deutschland bleiben zu dürfen, und würden über kurz oder lang wieder in ihre Heimat abgeschoben werden. Das galt ganz besonders für die neuen Syrer, die sich seit ein paar Tagen in der Aufnahmestelle aufhielten. Die Leitung der Einrichtung war überfordert und aufs Höchste erbost. Noch versuchten sie herauszufinden, welcher Idiot ihnen die Syrer geschickt hatte. Wo käme man denn hin, wenn denen auch noch Tür und Tor geöffnet würden. Nun ja, jeder von denen hatte die Regeln und rechtsstaatlichen Verfahren zu akzeptieren. Flüchtling hin oder her. Den wenigsten Anträgen lagen wirklich asylrelevante Fluchtgründe zu Grunde. Das war doch jedem klar. Bürgerkrieg hin oder her, politische Verfolgung oder nicht. Was wollten denn die ganzen Ausländer in Deutschland? Sie sprachen die Sprache nicht, hatten kaum eine Chance auf eine Arbeitsstelle und bewegten sich außerhalb ihres beschissenen Kulturkreises. Die konnten doch dem deutschen Staat nicht ewig auf der Tasche liegen? Das galt nicht nur für die syrischen Flüchtlinge. Vielen der BAMF-Mitarbeiter gingen solche oder ähnliche Gedanken durch den Kopf, wenn sie das tägliche Leid wahrnahmen. »Deutschland kann es sich einfach nicht leisten, dass jeder dahergelaufene Ausländer wie die Made im Speck hier leben möchte. Noch dazu im schönen Bayern, dem deutschen Musterland.« So dachten die etwas extremistischer eingestellten Beamten, sprachen aber ihre Gedanken nicht aus. Sie arbeiteten sehr genau, nach allen Vorgaben der Regeln und waren von ihrem Naturell her eher misstrauisch eingestellt. Sie glaubten nur, was sie schwarz auf weiß sahen. Darin hatten sie Erfahrung. Mit Lügengeschichten brauchte man ihnen schon gar nicht zu kommen. Da konnten sie sehr empfindlich reagieren. Überaus empfindlich sogar. Sie hatten klare Anweisungen vom bayerischen Innenministerium.
Die junge, attraktive Frau mit der kleinen Stupsnase und dem kurzgeschnittenen blonden Haar war mit der U-Bahn bis zur Haltestelle Rothenburger Straße gefahren und dann auf die Buslinie 113 umgestiegen. Sie kannte sich in Zirndorf nicht aus, war noch nie hier gewesen, aber sie hatte sich die Straßen rund um die Aufnahmestelle, gut eingeprägt. Wozu gab es ein Internet? Sie trug eine schwarze, enge Jeanshose, welche ihren knackigen Po gut zur Geltung brachte. Ihre wattierte, dunkle Wolljacke trug sie offen, so dass sich die weiße Bluse darunter kontrastreich hervorhob. Es schien nicht, dass sie in Eile war. Sie sah sich erst einmal um, als sie auf dem Gehsteig neben der Rothenburger Straße stand, und orientierte sich. Der Berufsverkehr brauste an ihr vorbei. Eine Glocke trug ihre schweren Schläge von irgendwo her. Halb neun Uhr am Morgen. Dann zog die junge Frau ihr Samsung-Mobiltelefon aus der Gesäßtasche und fotografierte die Rothenburger Straße in westlicher und östlicher Richtung. Auf einem der Digitalfotos war am linken Bildrand die Polizeiinspektion Zirndorf zu sehen.
Die Frau lief in Richtung Osten, immer die Rothenburger Straße entlang. Es sah so aus, als wäre sie auf der Suche. Aber wonach? Nahezu orientierungslos, so schien es, setzte sie ihren Weg fort. Ab und zu blieb sie stehen, und sah sich immer wieder um. Als sie die Polizeiinspektion passierte, schoss sie mit ihrem Handy aus dem Handgelenk rasch ein halbes Dutzend Fotos. Sie lief geradeaus weiter. Nach weiteren wenigen Minuten erreichte sie die Einmündung der Zwickauer Straße und bog links ab. Spätestens als sie kurz darauf wieder links in die Plauener Straße lief, wäre einem aufmerksamen Beobachter aufgefallen, dass sie gar nicht so orientierungslos war, wie es ursprünglich schien. Ganz im Gegenteil, als sie die beiden ersten großen Wohngebäude erreichte, welche mit der Stirnseite zur Straße standen, sah sie sich verstohlen um und schlug sich in die dort stehenden Büsche. Sie blieb stehen und lauschte angestrengt. Niemand, der ihr zurief: »Suchen Sie etwas Bestimmtes?«, »Hallo, was machen Sie da unten, wohnen Sie hier?«, oder »Hallo, kann ich Ihnen helfen?« Das Buschwerk unter den zwei hohen Bäumen war dicht und gab ein gutes Versteck ab. Noch waren die Blätter dem Herbst nicht zum Opfer gefallen. Die junge Frau schlich weiter durch das Gebüsch und achtete darauf, auf keinen trockenen Ast zu steigen, dessen Knacken ihre Anwesenheit verraten konnte. Nach wenigen weiteren Schritten erreichte sie den Zaun, der die Aufnahmeeinrichtung für Asylsuchende umgab. Durch das Blätterwerk registrierte sie, dass jenseits der Absperrung rege Betriebsamkeit herrschte. Dunkelhäutige Männer und Frauen gingen in riesigen Mannschaftszelten ein und aus. Kinder steckten noch in Schlafanzügen, liefen ihren Müttern hinterher oder tummelten sich spielend im Freien. Die Handy-Kamera klickte leise. Die Männer trugen überwiegend Bärte und eigenartige Kopfbedeckungen, gestikulierten lauthals vor den Dixie-Toiletten und warteten, bis die nächste Kabine frei wurde. Drei heranwachsende Jungs spielten immer wieder einen Lederball gegen die nächste Hauswand. Ein kunterbuntes Stimmengewirr verschiedener Sprachen drang an die Ohren der jungen Frau mit der Stupsnase. Auf ihrem Samsung-Handy speicherte sie eifrig Fotos. Nach fünf weiteren Minuten des Beobachtens schlich sie wieder auf die Plauener Straße zurück und setzte ihren Weg fort. Sie hatte genug gesehen und in Bildern festgehalten. Ihre Gedanken kreisten. Für ihren Freund würde es ein leichtes Unterfangen werden, nachts, im Schutze der Dunkelheit, seinen Plan in die Tat umzusetzen. Lediglich der Fluchtweg bereitete ihr noch Kopfzerbrechen. Die Polizeiinspektion lag verdammt nah, quasi unmittelbar vor dem Haupteingang des Asylantenlagers. Die Bullen würden innerhalb kürzester Zeit hier sein und waren in der Lage, den Tatort schnell weiträumig abzusperren beziehungsweise Straßenkontrollen durchzuführen. Dennoch, sie war sich sicher, dass es auch dafür eine Lösung gab. Sie musste sich in der Gegend noch etwas umsehen.
17
Akgül Özkan und Walter Fuchs, die beiden Jungverliebten, konnten und wollten nicht voneinander lassen, trotz der Probleme, welche beide mit ihren Elternhäusern hatten.
»Du musst verstehen, Walter«, schluchzte Akgül und drückte sich an ihren neuen Freund, »meine Eltern kommen aus tiefste Provinz in Türkei. Aus Urfa in Südostanatolien. Ist zwar Stadt mit mehr als 500.000 Leute – so groß wie Nürnberg – aber, wie sagt man? Sehr konservativ und fromm. Alle Frauen tragen Kopftuch. Musst wissen, ist bedeutende Pilgerstätte für Muslime.«
»Und was ist da so bedeutend?«, wollte Walter, der seinen rechten Arm um ihre Schulter gelegt hatte, wissen, »ich hab von Urfa noch nie was ghört.«
»In Urfa liegt Halil-Rahman Moschee mit Abraham Teich, und darin heilige Karpfen.«
»Heilige Karpfn? Ja verregg«, witzelte Akgüls Freund.
»Ja, heilige Karpfen, hast du gehört richtig. Nach altem Glauben wollte König Nemrud den Propheten Abraham verbrennen auf Scheiterhaufen, weil Abraham wollte nicht anerkennen alte Götter. Und in Koran steht: Verbrennt ihn und verteidigt eure Götter, falls ihr etwas tun wollt, aber es steht auch Oh Feuer sei kühl und unschädlich für Abraham. Muslime glauben, dass Gott hat verwandelt das Feuer in Wasser, und brennende Holzscheite aus Scheiterhaufen in Karpfen. Deshalb bei uns Karpfen sind heilige Tiere und dürfen nicht gegessen werden.«
»Und da seid ihr nach Röttenbach gezogen?« Walter Fuchs konnte es nicht glauben. »Mitten rein ins fränkische Karpfenland, wo es die besten Karpfn gibt? Eine kulinarische Spezialität. Wo allein der Landrat von September bis April einen ganzen Karpfenweiher leer frisst.«
»Versteh ich nicht, was du meinst mit Landrat und Karpfen. Ist Landrat auch heilig, und schützt Fische?«
Walter lachte hell auf und meinte: »Na, der net! Weder des eine noch des andere, aber des musst du auch net verstehn, Akgül.«
Walter hatte sich heute am Christian-Ernst-Gymnasium in Erlangen krank gemeldet, nur um Akgül in Nürnberg zu treffen, wo sie die Private Fachoberschule Mesale e.V. in der Hasstraße besuchte. Vor allem Schüler und Schülerinnen aus Migrantenfamilien, welche sich mit der deutschen Sprache noch schwer taten, besuchten die Schule. Vor fünfzehn Minuten war Schulschluss, und der Röttenbacher hatte vor der Schule auf seine Akgül gewartet. Nun machten sie sich Händchen haltend auf den Weg in die Innenstadt zum Bahnhof. Derzeit bestand so gut wie keine Chance sich anderweitig zu sehen. Akgül hatte noch immer Hausarrest.
»Akgül«, begann Walter Fuchs, »das ist wirklich Scheiße, das mit deinen Eltern. Ich mein, meine ham sich auch gscheit aufgregt, aber das geht mir am Arsch vorbei, denen ihr Gwaaf. Bei dir ist das viel schlimmer. Dass dich dein eigener Bruder geschlagen hat, das ist eine Sauerei. Dem tät ich am liebsten eine in die Eier geben, dem Kümmeltürken. Oh, entschuldige, das ist nicht so gemeint. Was machen wir denn etzerdla? Du weißt doch, dass ich dich so gern mag. Ich tät dich doch am liebsten jeden Tag sehn. Das halt ich fei auf Dauer net aus, das mit dem Stubenarrest. Wie lang soll das denn noch gehn?«
»Kann nicht sagen«, antwortete Akgül seufzend und mit tränenfeuchten Augen, »mein Vater hat nix gesagt, wie lange dauert, und meine Bruder ständig passt auf mich auf. Musst wissen, ist arbeitslos, hat Zeit, und immer fragt: Wo du gehst hin?, Was du machst morgen?. Sagt, wenn ich will was unternehmen, ich soll Müselüm anrufen. Aber, glaub mir, ich nicht lieben Müselüm, ist kein guter Mann. Ich will nicht mehr sehen diese Mann. Ich lieben dich. Möchte auch den ganzen Tag sein bei dir. Aber Vater sagt, wenn nicht Schluss mit deutsche Freund, er mich schicken zurück in Türkei, nach Südostanatolien, zurück nach Urfa zu meine Großmutter. Und hat gesagt, dass er wird aussuchen eine türkische Mann für mich, der mich wird heiraten und Kinder machen. Walter, ich nicht will zurück nach Urfa, will bleiben hier bei dir. Türkischer Ehemann ist nicht gut, Südostanatolien auch nicht gut.«
»Wenn die dich in die Türkei zurückschicken, ich glaub, dann bring ich sie alle um«, stieß Walter Fuchs zwischen den Zähnen hervor. »Dann werd ich zur rasenden Wildsau. Dann kann ich mich nicht mehr zurückhalten.«
»Nein Walter, darfst du nicht so denken, bringt nur Unglück. Vielleicht ist Hausarrest doch bald vorbei. Wir müssen haben Geduld. Auf jeden Fall ich will nicht mehr sehen Müselüm, lieber Hausarrest. Allah sei Dank, dass Vater und Kemal nicht haben gedacht an iPhone und wir uns immer noch schicken können Botschaft und Fotos. Lass uns beeilen, sonst Kemal schöpft Verdacht, wenn ich kommen zu spät nach Haus.«
Walters iPhone piepste. Er checkte den SMS-Eingang und schüttelte den Kopf.
»Sie dir schon wieder hat geschrieben wütende Botschaft?«, mutmaßte Akgül.
Walter Fuchs nickte nur und löschte die SMS. Irgendwann würde er seiner früheren Freundin den Hals umdrehen. Sie ging ihm zwischenzeitlich dermaßen auf den Sack, mit ihren ständigen Eifersüchteleien.
18
Müselüm Yilmaz war höchst verwirrt und immer noch zornig. Lange hatte er mit Akgüls Vater am Telefon gesprochen. Er hatte eine unbändige Wut auf diesen Deutschen, der ihm Akgül weggenommen hatte. Seine Akgül. Sie war ihm versprochen worden. Nun wollte sie nichts mehr von ihm wissen, hatte Ahmet gesagt. Lieber bliebe sie Jungfrau, hatte sie gesagt. Zumindest dieser Satz hatte in Müselüm eine gewisse Erleichterung hervorgerufen, denn er hatte die attraktive Akgül noch nicht aufgegeben. Er würde um sie kämpfen. Das hatte er sich vorgenommen. Aber dann erzählte ihm Ahmet Özkan, dass er mit den Gedanken spiele, seine ungehorsame Tochter gegebenenfalls in die Türkei zurückzuschicken. Nach Urfa zu ihrer Großmutter. Nach Urfa wollte Müselüm Yilmaz auf keinen Fall, das kam für ihn überhaupt nicht in Frage. Was sollte er denn in diesem Provinznest am Arsch der Welt? Soweit würde seine Zuneigung zu Akgül nun auch wieder nicht gehen. Vielleicht lief ja etwas mit dieser Deutschen? Mit dieser Doris Kunstmann, die sich bei ihm telefonisch gemeldet hatte. »Der Walter, der dir die Akgül ausgespannt hat, war bis vor Kurzem mein Freund«, hatte sie ihm am Telefon erklärt, »und ich bin, genauso wie du, stinksauer auf ihn und deine Akgül. Insofern sitzen wir beide im gleichen Boot, wir sind die beiden Betrogenen. Und das stinkt mir gewaltig. Ich denke, die beiden sollten für ihre Untreue bezahlen. Deshalb rufe ich dich an. Was meinst du?«
»Kenne ich dich?«, wollte Müselüm von ihr wissen.
»Ich denke nicht«, kam die Antwort, »aber ich habe dich schon mal mit ihr in Erlangen gesehen. Ich weiß, wie du aussiehst. Hast du Zeit, Lust und Interesse, dass wir beide mal darüber reden?«
»Schon.«
»Okay, dann treffen wir uns am Samstagabend um acht in Erlangen, im Bogart‘s. Keine Sorge, ich spreche dich an, wenn du da bist.«
Sie hatte eine verdammt sexy Stimme am Telefon. Etwas rauchig. Erotisch war der bessere Begriff. Alter? Schwer zu schätzen. Er hatte den Eindruck, sie wusste genau, was sie wollte. Das gefiel ihm. Er würde da sein, am Samstag.
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Während Doris Kunstmann im Bogart‘s auf Müselüm Yilmaz wartete, schlich ein junger Mann mit Rucksack durch die Büsche an der Plauener Straße in Zirndorf. Langsam tastete er sich in der Dunkelheit bis zum Zaun vor, der die Anlage für Asylsuchende umgab. Seine Stirnlampe wollte er nicht einschalten, um sich nicht selbst zu verraten. Er stand ganz still und lauschte den Geräuschen der Nacht. Menschliche Stimmen drangen gedämpft aus den Zelten jenseits des Zauns zu ihm herüber. Ausländische Stimmen, die er nicht verstand. Manche leicht dahin murmelnd, manche kräftig und fordernd. Aus dem dreistöckigen Wohnhaus auf seiner Seite des Zauns drang aus einem offenen Balkonfenster die Eingangsmelodie der Serie Die Zwei. In dem kleinen Wohnzimmer dahinter flackerte der unruhige Lichtschein des Fernsehbildschirms. Bernd Auerbach roch den modrigen Geruch der nassen Erde, auf der er stand. Der Boden war noch mit dem Laub vom letzten Jahr übersät. Er stand weich, wie auf mehreren dünnen Teppichen. Fremdländische Essensgerüche aus den Zelten wehten herüber und vermischten sich mit dem Geruch der modrigen Erde. Das Buschwerk, in dem er sich verbarg, war noch von der Feuchtigkeit des letzten Regens benetzt. Nach weiteren fünf Minuten des stillen Wartens, und nachdem sich seine Augen an die Dunkelheit gewöhnt hatten, legte er seinen Rucksack geräuschlos und vorsichtig auf die feuchten Blätterschichten. Er öffnete ihn, griff hinein und holte die drei Transportbehälter mit den todbringenden amerikanischen M61-Splitterhandgranaten heraus. Immer wieder lauschte er in die Finsternis. Jenseits des Zauns unterhielten sich die Menschen in ihren Zelten weiterhin in ansteigenden und abflachenden Tonlagen. Ein Kleinkind begann zu weinen. Irgendwo im Gebüsch neben ihm regte sich etwas. Eine fette Kröte kroch unter einem tiefhängenden Zweig hervor und machte sich gemütlich davon. Mit Bedacht und Routine nahm er die drei Handgranaten aus ihren Behältern und legte sie vor sich auf das feuchte Blattwerk. Die Transportbehälter steckte er wieder in den Rucksack zurück. Die Sprengkörper schimmerten matt und bedrohlich im gedämpften Widerschein, der aus den drei Zelten auf der anderen Seite herüberdrang.





