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EMP
Impressum
Prolog
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Danksagungen/Quellenangaben
Andrea Ross
EMP
Was wäre, wenn?
XOXO VERLAG
Impressum
Bibliografische Information durch die Deutsche Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://www.d-nb.de abrufbar.
Print-ISBN: 978-3-96752-029-3
E-Book-ISBN: 978-3-96752-529-8
Copyright (2019) XOXO Verlag
Umschlaggestaltung: Grit Richter
Buchsatz: Alfons Th. Seeboth
Rechtlicher Hinweis:
Sämtliche Personen, Orte und Begebenheiten rund um diesen Roman sind, abgesehen freilich von real existierenden Ortschaften, frei erfunden. Dasselbe gilt bezüglich der beschriebenen Vorgänge bei Behörden sowie anderen Institutionen oder Firmen. Eventuelle Ähnlichkeiten mit lebenden oder verstorbenen Menschen sowie deren Vereinigungen sind von der Autorin nicht beabsichtigt und wären daher rein zufällig. Selbstverständlich gilt letzteres nicht für ›öffentliche Personen‹ aus der Politik.
Hergestellt in Bremen, Germany (EU)
XOXO Verlag
ein IMPRINT der EISERMANN MEDIA GMBH
Gröpelinger Heerstr. 149
28237 Bremen
»Der elektromagnetische Impuls oder auch elektromagnetische Puls (englisch: electromagnetic pulse, abgekürzt EMP) bezeichnet eine kurzzeitige breitbandige elektromagnetische Strahlung, die bei einem einmaligen, hochenergetischen Ausgleichsvorgang abgegeben wird.
Die Schutzkommission beim Bundesminister des Innern hat einen eigenen Buchstabencode ›E-Gefahren‹, unterscheidet dabei aber nicht zwischen dem natürlichen EMP und dem künstlichen.
E-Gefahren gehören zu den fünf aktuellen bzw. sechs bis 2016 erwarteten schwersten Gefahren.«
(aus Wikipedia)
Prolog
Lieber Leser, liebe Leserin,
voller Stolz und Freude dürfen wir Ihnen nun das erste Buch präsentieren, das unsere Druckerei seit dem 14. Februar 2020 verlassen hat. Bitte sehen Sie es uns nach, dass Druck und Einband nicht den qualitativen Vorgaben genügen, welche Sie von früheren Büchern gewohnt sein mögen.
Es gab einmal eine Zeit, da betrachtete man handwerklich hergestellte Bücher als unverzichtbare Freunde, die gehegt und gepflegt werden wollen. Später verkamen literarische Werke zunehmend zu bloßen Druckerzeugnissen, welche in Massen hergestellt und von einer gleichgültigen Wegwerfgesellschaft konsumiert wurden; zahllose Taschenbücher landeten gleich nach dem Lesen achtlos im Müll.
Allerdings verdiente so mancher profane Inhalt auch tatsächlich keine andere Handlungsweise, denn der allgemeine Werteverfall in unserer Gesellschaft machte auch vor der Literatur nicht halt. Viele Leser verzichteten am Ende sogar auf gedruckte Bücher, lasen lieber Dateien, die lieblos auf elektronischen Medien abgespeichert waren.
All das gehört nun der Vergangenheit an, unser Alltag hat sich nach der Katastrophe dramatisch verändert. Wir Überlebenden haben die Chance erhalten, wieder bei null zu beginnen und alte Fehler zu überdenken, die sich unmerklich in unseren Alltag eingeschlichen hatten. Unser kleiner Verlag hat sich deshalb fest vorgenommen, Büchern wieder den ehrenvollen Platz in unserer Gesellschaft einzuräumen, der ihnen traditionell zusteht.
Zugegeben – dieses Buch hat aufgrund des aufwändigen Druckverfahrens mithilfe eines mühselig hergestellten Nachbaus der historischen Gutenberg-Druckpresse einen stolzen Preis. Aber Ihnen, lieber Leser/liebe Leserin, macht die Autorin dieses Bandes ein wertvolles Gegengeschenk, das sich durch Geld ohnehin nicht aufwiegen ließe: Sie nehmen hautnah an ihrer Gedankenwelt teil, an ihren Gefühlen und Ängsten in der Zeit nach dem Tag X. Viele der geschilderten Erlebnisse werden Ihnen sicher bekannt vorkommen …
Lassen Sie uns also gemeinsam in eine aufregend neue Zeit aufbrechen, in der uns Bücher fortan wieder als kostbare Schätze gelten sollen; diese werden zwischen den Buchdeckeln wie in alten Zeiten den inspirierenden Geist der kreativen Gedanken beherbergen, anstatt nur ein beliebiges kommerzielles Produkt auf dem Weltmarkt zu sein!
Halle/Saale, im Mai 2022
Ihr Verlag
Kapitel 1
Das »WENN« ist eingetroffen
Liebes Tagebuch …
Moment, eigentlich kann ich diese schmalzige Anrede überhaupt nicht leiden! Sie ist reichlich antiquiert und erinnert mich schwer an die spießig-muffeligen 1960er, als so etwas noch als modern galt! Wer redet heutzutage schon mit einem Buch und ist dabei auch noch höflich?
Wahrscheinlich bin ich auf die Idee mit dieser angestaubten Einleitung auch nur deshalb gekommen, weil ich heute den ersten Text, der über ein paar Kurznotizen hinausgeht, mit der Hand schreiben muss. Seit meiner Schulzeit habe ich das nicht mehr getan. Doch was bleibt mir jetzt anderes übrig, wenn ich wie üblich meine Gedanken sortieren will, indem ich sie niederschreibe? Mir fällt wieder mal auf, wie unordentlich und krakelig meine Schrift über das Papier kriecht. Vermutlich, weil mir die Übung fehlt.
Mein nagelneues Notebook steht total funktionsunfähig auf dem Schreibtisch und ich muss mich ziemlich beeilen, weil unter anderem anscheinend auch die Stromversorgung der Stadt zusammengebrochen ist. Sobald es dunkel wird, ist es wohl für heute vorbei mit meinen Aufzeichnungen.
Was ist hier eigentlich passiert? Wenn ich das bloß wüsste! Kein Mensch ist genau darüber im Bilde, was vor sich geht. Aus diesem Grund kann sich auch niemand vorstellen, wie lange die drastischen Veränderungen andauern werden, die seit heute Morgen das öffentliche Leben lahm legen und alle Menschen, denen ich begegnet bin, gleichermaßen beunruhigen.
Aber ich sollte mit meinem Bericht von vorne beginnen. Sonst kann ich später gar nicht mehr nachvollziehen, welch wirres Durcheinander heute in meinem Kopf herrscht. Alles schön der Reihe nach!
Ich habe leider das dumme Gefühl, dass die ohne Vorwarnung über uns hereingebrochenen Zustände nicht einfach morgen früh spurlos vorüber sein werden, alles wie selbstverständlich zur Normalität zurückkehren kann. Deswegen werde ich jetzt über die Beobachtungen des heutigen Tages einfach kurz und sachlich das Datum schreiben, schließlich bin ich Beamtin von Beruf. Alles muss seine logische Ordnung haben, sonst fühle ich mich nicht wohl in meiner Haut. Also, nun denn:
Freitag, 14. Februar 2020, Valentinstag
Ich wachte auf, weil die tief stehende Sonne verstohlen durch die Jalousien des Schlafzimmers blinzelte und meine Nase hartnäckig mit ihren Strahlen kitzelte. Wohlig wollte ich mich strecken wie eine Katze, mich umdrehen und einfach weiterschlafen, so wie ich es samstags traditionell immer handhabe. Doch dann fiel mir siedend heiß ein, dass heute gar nicht Samstag, sondern erst Freitag ist!
Der Schreck über diese Erkenntnis muss mir eine wahre Riesenportion Adrenalin durch den Körper gejagt haben, panisch sprang ich aus meinem Bett. Weshalb, zum Teufel, hat eigentlich mein im Handy eingebauter Wecker nicht geklingelt? Sonst holt mich das Ding jeden Morgen zuverlässig aus den Federn. Und zwar noch weit vor dem Morgengrauen.
Aber heute nicht! Ich stellte schnell frustriert fest, dass mein Handy tot war. Mausetot, komplett entladen. Dachte ich wenigstens zunächst. Bis ich das Ladekabel holte und feststellen musste, dass das Gerät auch damit nicht wiedererweckt werden konnte. Verflixt noch mal, ich musste auf jeden Fall verschlafen haben, und zu allem Überfluss schien noch das schicke I-Phone seinen Geist aufzugeben! Ich hasste den Tag schon in diesem Moment.
Ziemlich genervt und noch ganz schwindelig tappte ich ins Wohnzimmer, um die aktuelle Uhrzeit herauszufinden. Danach würde ich im Amt anrufen und mir den Spott der Kollegen zuziehen müssen, die sich dann tagelang köstlich darüber amüsieren würden, dass ausgerechnet ich, die Vorzeigebeamtin, mich des Zuspätkommens schuldig machte. Peinlich!
Aber es kam ganz anders, der lästige Anruf wurde mir erspart. Die Anzeige meines DVD-Rekorders blieb dunkel, keine blassblaue Leuchtanzeige gab wie sonst die Uhrzeit an. Auch das Festnetz-Telefon war tot.
Ich überlegte. Versuchte, eine Erklärung zu finden. Hatten wir vielleicht über Nacht einen totalen Stromausfall gehabt, war die Sicherung draußen und die Telefonleitung gestört? Diese in letzter Zeit wegen des Klimawandels häufiger auftretenden Wintergewitter sind nicht zu unterschätzen. Genau, das musste der Grund sein! Hoffte ich wenigstens.
Zielstrebig setzte ich meine Wanderung durch die kühle Wohnung in Richtung des Sicherungskastens fort, der ganz vorne im Flur neben der Haustüre angebracht ist. ›Heureka!‹, dachte ich erleichtert, als ich die Abdeckung geöffnet hatte und die Schalter sah. Tatsächlich zeigten sie allesamt nach unten, einschließlich des größeren Hauptschalters.
Dass etwas so ganz und gar nicht stimmen konnte, merkte ich erst, als sich die Schalter nicht mehr in die aufrechte Position drücken ließen, nicht einmal mit roher Gewalt; sie rochen außerdem dezent nach verschmortem Plastik. Von einem derart zerstörerischen Überspannungsschaden hatte ich bislang noch nie gehört.
Erst jetzt fiel mir auf, dass dies nicht das Einzige war, was sich an jenem Morgen beunruhigend anders anfühlte. Es war ruhig. Viel zu ruhig, totenstill geradezu! Bis auf ein verhaltenes Murmeln aus dem Treppenhaus, das wohl von tratschenden Nachbarinnen herrührte, hörte ich nämlich überhaupt nichts. Und das wohlgemerkt, obwohl meine Wohnung in der Nähe eines Krankenhauses an einer stark befahrenen vierspurigen Straße liegt.
Verflixt, mir tut jetzt schon die rechte Hand weh! Aber ich muss trotzdem weiterschreiben, die Zeit drängt. Auch wenn ich die exakte Uhrzeit nicht kenne – die Sonne steht jedenfalls sehr tief. Es wird bestimmt bald dunkel werden. Schon wirft meine Hand lange Schatten über das Papier.
Also weiter.
Als nächstes zog ich mich hastig an, um wenigstens nicht mehr zu frieren; der Temperatur nach konnte ich annehmen, dass sogar die Zentral-Heizungsanlage ausgefallen war. Gleich danach musste ich einsehen, dass heute logischerweise auch die Kaffeemaschine streikte. Ohne Strom nix los. Und ohne Kaffee würde heute auch mit mir erst einmal nicht viel los sein, überlegte ich grimmig.
Nirgends gab es in meinem modernen Haushalt eine mechanische Uhr, deshalb nahm ich mir fluchend vor, als erstes die Nachbarin zur Rechten heimzusuchen. Falls mir das Glück hold wäre, funktionierte dort die Elektrizität. Oder Martha konnte mir wenigstens schonungslos sagen, um wie viele Stunden ich mich auf der Arbeit verspäten würde.
Als ich auf den Klingeltaster drückte, durfte ich mich bereits von Hoffnung Nr. 1 verabschieden. Kein Ton kündigte mein Kommen an, die Klingel funktionierte nicht. Seufzend krümmte ich einen Zeigefinger, um in guter alter Manier höflich anzuklopfen.
Mich hätte fast der Schlag getroffen, als Martha Behringer unvermittelt die Türe aufriss, noch bevor ich zum Klopfen gekommen war. »Oh, hallo … also, ich wollte grade … wissen Sie es auch schon?«, fragte diese entgeistert.
Mein Puls raste immer noch, deshalb fragte ich nur verdattert:
»Was genau meinen Sie? Das mit dem Stromausfall?«
Martha, die in ihren wattierten Morgenrock gewickelt türrahmenfüllend vor mir stand, ist schon lange arbeitslos. Wir Nachbarn nennen sie hinter vorgehaltener Hand gerne die »Hartzer-Martha« – in Anspielung auf die Art ihres Einkommens, welches allmonatlich vom Amt kommt. Woraus Martha sich nichts macht, denn sie hat sich ihr ereignisloses Leben ohne Familie, tägliche Arbeit oder sonstige lästige Verpflichtungen offenbar zufriedenstellend eingerichtet.
Vermutlich hatte sie vom Stromausfall erfahren, weil der Fernseher ihr die allmorgendlichen Daily Soaps versagte. Jetzt drehte sie die Augen heraus und schob das Kinn nach vorne, was sie traditionsgemäß tut, bevor sie höchst wichtigen Tratsch in der Weltgeschichte verbreitet. Welcher selbstverständlich so streng geheim ist, dass die Hausgemeinschaft spätestens nach einer Stunde zur Gänze von den unsäglichen Neuigkeiten weiß. Manchmal habe ich schon insgeheim vermutet, sie würde einfach Sachverhalte aus ihren seichten Fernsehsendungen entnehmen, um sich wichtigmachen zu können.
Aber ich schweife schon wieder ab! Also: Martha erzählte mir brühwarm, dass weder Steckdosen, noch die Heizung, noch akkubetriebene Geräte funktionieren würden. Dass sie gerade nach unten hatte gehen wollen, um nachzusehen, was mit den Autos nicht stimme – ob mir gar nicht aufgefallen sei, dass heute kein Mensch motorisiert auf den Straßen unterwegs sei?
Vor fünf Minuten erst habe sie mit dem »Ecki« gesprochen, der in der Wohnung unter mir wohne. Der habe erzählt, dass noch alles ganz normal funktionierte, als er früh um 5 Uhr aus dem Nachtdienst nach Hause gefahren war. Es seien bloß jede Menge »komische Lichter« am Himmel gewesen.
Na ja, der Ecki! Ich musste schmunzeln. Ecki alias Bruno Eckert ist nämlich ein recht unbedarfter Zeitgenosse, der unbeirrbar an UFOs und Außerirdische glaubt. Komische Lichter, na klar! Ecki interpretiert oft und gern banale Vorgänge, damit sie perfekt auf seine abgefahrenen Theorien passen. Aber andererseits war auch mir aufgefallen, dass die allgegenwärtigen Straßengeräusche total fehlten.
»Na gut? Gehen wir nachsehen!«, schlug ich vor und begleitete meine nicht ganz salonfähige Nachbarin nach unten.
Mensch, ich sehe fast nichts mehr! Soll ich lieber morgen weiterschreiben? Aber was ist, wenn das morgen so weitergeht und ich mit den Aufzeichnungen gar nicht mehr nachkomme? Ich gehe mal Kerzen suchen, irgendwo müssten noch welche herumliegen. Seit der Sache mit Mark, die vor zwei Monaten so kläglich den Bach hinunter ging, habe ich keine Kerze mehr angezündet. Sentimentale Romantik ist so völlig fehl am Platze, wenn man alleine lebt und dadurch nur unliebsam an eine vergangene Partnerschaft erinnert wird. Besonders an Tagen wie dem Valentinstag. Und gerade heute bin ich gezwungen, mich wider Willen doch mit Kerzen zu befassen, hurra!
*
So, da bin ich wieder! Am Tischplattenrand meines Schreibtisches entlang stehen nun lauter kleine Teelichter im Kreis drapiert, die mich hoffentlich befähigen werden, bei diesem flackernden, unsteten Licht weiterzuschreiben. Diese Dinger brennen angeblich für vier Stunden, das sollte mir ausreichen.
Wie viele dieser mickrigen Flämmchen man doch benötigt, um eine einzige Glühbirne zu ersetzen! Ich habe mir gerade drei Pullover und ein dickes Paar Socken zusätzlich angezogen, denn langsam kriecht die Februar-Kälte unangenehm deutlich in meine kleine Mansardenwohnung. Wenigstens werden sich dadurch die Lebensmittel im funktionsunfähigen Kühlschrank ein bisschen länger halten. Hoffentlich! Die Gefrierfächer habe ich schon ausräumen müssen. Nur – wie zum Teufel kriegt man eine Pizza gebacken, so ganz ohne Mikrowelle und Backofen? Ich werde das aufgetaute Zeug morgen alles wegwerfen müssen. Schade drum.
Aber zurück zum heutigen Vormittag. Ich stieg also neben der Behringer die Treppe hinunter, wobei meine dicke Begleiterin unablässig mit ihrer schrillen Fistelstimme auf mich einredete. Sie erwog wohl allen Ernstes, Eckis wilden Spekulationen Glauben zu schenken, wonach die schon lange unerkannt auf der Erde anwesenden Außerirdischen heute nun die Erdenbewohner elektrotechnisch handlungsunfähig gemacht hätten, um den Planeten endgültig an sich zu reißen.
Ich hörte nur mit einem Ohr zu, weil ich mir längst eigene, erheblich nüchternere Gedanken zu den seltsamen Ereignissen machte. Wenn das Ganze lediglich ein Energieproblem wäre – warum betrifft es dann auch den Akku meines Notebooks? Oder den des Handys? Warum funktioniert selbst die Ölheizung nicht?
Als wir auf der Straße ankamen, wo sich bereits Dutzende von Leuten tummelten und angeregt diskutierten, gesellte sich meinem Fragenkatalog ein weiterer Eintrag hinzu. Wieso, um alles in der Welt, fuhr kein einziges Auto die Straße entlang?
Einige Fahrzeuge standen mitten auf der Fahrbahn herum, als wären sie in ihrer letzten Bewegung eingefroren. Andere waren feinsäuberlich am Straßenrand geparkt worden, während ihre Besitzer ratlos vor der Motorhaube standen und sich keinen Reim darauf machen konnten, wieso die gottverdammte Schrottmühle plötzlich nicht mehr anspringt.
Es gab ja auch wirklich keinen vernünftigen Grund für die kollektive Funktionsuntüchtigkeit – die Außentemperatur musste um die 3 Grad plus betragen, eine kältebedingte Ursache schied somit aus.
Nach mehreren Anläufen traf ich endlich auf einen älteren Herrn, der mir dank einer ebenso alten Schweizer Taschenuhr, welche einwandfrei funktionierte, die genaue Uhrzeit verraten konnte. 10.38 Uhr! Verflixt noch mal, das war wirklich spät!
Mein schlechtes Gewissen befahl mir, auf der Stelle zur Behörde zu fahren. Auch wenn mir mittlerweile klar war, dass ich ganz bestimmt nicht die Einzige wäre, die heute zu spät einträfe. Besonders die vielen Kollegen von auswärts dürften erhebliche Schwierigkeiten gehabt haben, pünktlich bis nach Bayreuth zum Arbeitsplatz zu gelangen, überlegte ich mir.
Oder war das Problem rein auf das Stadtgebiet begrenzt? Ich würde es sicher herausfinden, sobald ich mir dort im Amt ein Bild gemacht und mit Kollegen gesprochen hätte. Das war der Plan, den ich umzusetzen gedachte.
Tief in Gedanken versunken erreichte ich den Parkplatz meiner Wohnanlage, wo mein »schöner Autowagen«, wie ich den uralten Opel Corsa liebevoll nenne, wie eh und je in Parkbucht Nr. 7 stand und auf mich wartete.
Dieses Auto und ich, wir beide haben schon so einiges mitgemacht. Deshalb hätte es mich auch kaum gewundert, wenn dieses treue Fahrzeug allen Umständen zum Trotz angesprungen wäre. Probieren musste ich es einfach, auch wenn mein Nachbar lächelnd den Kopf schüttelte und mit verschränkten Armen neben dem Fahrzeug auf das mutmaßlich enttäuschende Ergebnis meiner Bemühungen wartete.
Der Corsa gab erwartungsgemäß keinen einzigen Ton von sich, als hätte ich den Zündschlüssel überhaupt nicht umgedreht. Die gesamte Elektrik schien kaputt zu sein, denn auch die batteriebetriebenen Geräte ließen sich nicht aktivieren. Weder das Licht, noch das Radio. Ich streichelte meinem vierrädrigen Begleiter bedauernd über das Lenkrad und gab auf. Zum Glück hatte ich noch ein altes Fahrrad im Keller stehen; dieses musste heute nach längerer Zeit mal wieder zum Einsatz kommen.
Nachdem ich die platten Reifen des Drahtesels aufgepumpt und den Sattel vom Staub befreit hatte, fiel mir ein, dass ich Fahrradfahren im Winter eigentlich hasse wie die Pest. Die Hände werden trotz dicker Handschuhe immer eiskalt, und der Fahrtwind schneidet einem unangenehm ins Gesicht, während man unter seinen dicken Pullovern wegen der ungewohnten Anstrengung schwitzt. Aber heute Vormittag blieb mir nach Lage der Dinge keine andere Wahl.
Ich glaube, ich unterbreche meine Doku an dieser Stelle erst einmal. Ich bekomme nämlich langsam Hunger.
*
Himmel, ist das öde! Weil auch die Straßenbeleuchtung nicht funktioniert, ist die ganze Stadt dunkel wie ein Bären-A…! Ich musste mir eine dicke Stumpen-Kerze anzünden, um überhaupt zu Kühlschrank und Toilette zu finden. Das Ganze hier ist eine kranke Mischung aus Zeltlager-Romantik, Polarcamp und Endzeit-Szenario. Mittlerweile werden mir wegen der ungemütlichen Kälte in dieser Wohnung auch noch die Finger klamm; ich schreibe besser weiter, bevor überhaupt nichts mehr geht. Wie gerne würde ich jetzt träge mit einer Tüte Chips auf der Couch liegen und die Spätnachrichten gucken!
Weiter im Text! Ich fuhr also mit dem Fahrrad hinüber zum Rathaus. Das sind bloß so um die drei Kilometer, aber mir untrainierten Wesen setzte schon diese Strecke ganz schön zu. An jeder noch so kleinen Steigung trat ich keuchend in die Pedale, während das Fahrrad quietschte, knarzte und klapperte. Das werde ich unbedingt mit Kettenfett und Öl behandeln müssen, falls mein Auto weiterhin streikt.
Normalerweise ist unser mickriger Bediensteten-Parkplatz derart mit Fahrzeugen vollgestopft, dass sich einige der spät eintreffenden Kollegen verbotswidrig irgendwo an den Rand quetschen müssen. Heute jedoch radelte ich an einer restlos leergefegten Asphalt-Wüste vorbei.
Daraus schloss ich, dass das Ereignis – welches auch immer – wohl in der Zeit zwischen 5 Uhr und 7 Uhr stattgefunden haben musste. Um 5 Uhr hatten laut Ecki nämlich die Autos noch ganz normal funktioniert, und schon um 7 Uhr wären hier an einem gewöhnlichen Werktag bereits die ersten Kollegen eingetroffen; was jedoch angesichts des komplett verwaisten Parkplatzes zweifellos nicht der Fall gewesen war.
Fahrräder waren hingegen in ungewohnter Anzahl vor der Glas-Eingangstür des Rathauses abgestellt. Die zugehörigen Kollegen entdeckte ich nur einen Augenblick später, denn sie saßen allesamt diskutierend und gestikulierend in der Lobby vor dem Bürgerinformations-Schalter.
Offensichtlich war niemand zur normalen Verrichtung des Dienstes nach oben in sein Zimmer gegangen, und wozu auch? Ohne Computerdaten und Telefon konnte man dem Bürger schließlich eher schlecht weiterhelfen. Wobei auch der Bürger heute ganz bestimmt andere Probleme haben mochte, als ausgerechnet einen Antrag beim Amt stellen zu wollen.
Ich wurde mit so großem Hallo begrüßt, als hätten mich die anwesenden Mitarbeiter der Stadtverwaltung nicht erst gestern gesehen. Man freute sich offensichtlich über jeden Kollegen, der es überhaupt bis zum Rathaus schaffte.
»Bisschen spät, hä?«, neckte mich Alexandra, meine langjährige Kollegin, mit der ich auch außerdienstlich befreundet bin. »Aber keine Angst, das merkt keiner – die Stempeluhr funktioniert natürlich auch nicht!«, grinste sie verschmitzt.
Üblicherweise sitzen hier unten in der Lobby einzelne Bürger, die auf ihre antragstellenden Angehörigen warten. Mütter mit sperrigen Kinderwagen, oder am monatlichen Auszahl-Tag diejenigen Bezieher von Hartz IV oder Grundsicherung, welche über kein Bankkonto verfügen und die Stütze in bar abholen.
Heute jedoch waren alle Polsterstühle besetzt, und der überzählige Rest der Belegschaft hatte sich im Schneidersitz auf dem Fußboden niedergelassen. Schon wieder fühlte ich mich optisch unwillkürlich an eine Art Winter-Biwak erinnert, weil alle Kollegen so dick eingepackt waren. Fast schien es, als müsse gleich jemand seine Gitarre hervorholen, um die üblichen öden Zeltlager-Songs zu klimpern.
Ich setzte mich neben Alexandra nieder, ließ meinen Blick über die Anwesenden schweifen und fragte: »Sag mal, kommt mir das nur so vor, oder ist hier kaum einer von den Chefs anwesend?«
Alex nickte bestätigend und meinte: »Na ja, das kommt davon, dass die viel mehr verdienen als wir Fußvolk. Die wohnen nicht in der Innenstadt, sondern haben alle außerhalb gebaut. Wo sie jetzt schön festsitzen, weil ihre dicken Autos genauso wenig funktionieren wie unsere alten Rostlauben!«
Wir mussten beide herzhaft lachen. Wenn ich mir den einen oder anderen fetten Herrn im Anzug vorstellte, wie er ratlos seine Glatze kratzend vor dem nagelneuen 7er BMW stand, konnte ich die Sache vorübergehend tatsächlich sogar mit Humor betrachten. Aber ich wurde trotzdem gleich wieder ernst; schließlich war ich unter anderem hierher geradelt, um endlich zu erfahren, was diesen Ausnahmezustand verursacht haben könnte.