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Mit etwas erhobener Stimme fragte ich die um mich herum sitzenden Kollegen, ob man denn schon herausgefunden oder wenigstens eine brauchbare Theorie habe, wieso in dieser Stadt seit den frühen Morgenstunden alles zum Erliegen gekommen sei. Die einen schüttelten den Kopf, die anderen nickten eifrig, bevor sie sich wieder ihren jeweiligen Gesprächspartnern widmeten.
»Wie jetzt?«, fragte ich wegen dieser widersprüchlichen Auskünfte Alexandra. Die holte tief Luft und erzählte, dass seit Stunden die abenteuerlichsten Spekulationen durchdacht und widerlegt worden seien. Von Terroranschlag bis Angriff aus dem Weltall sei alles erörtert und auch wieder verworfen worden, bis nur noch eine einzige logische Erklärung übrig geblieben sei: diejenige, dass sich ein EMP ereignet haben könnte, was im Übrigen die Abkürzung für »Electromagnetic Pulse« sei.
»Ich weiß ziemlich genau, was das ist!«, unterbrach ich ungeduldig ihre Ausführungen. »Schließlich habe ich auch regelmäßig die Nachrichten verfolgt. Seit Monaten befürchten die Experten schon Stromausfälle wegen der stark erhöhten SonnenfleckenAktivität, so wie damals im März 1989 in Quebec, als es unter anderem einen Mega-Blackout gab. Aber haben die Wissenschaftler nicht gesagt, das Schlimmste sei vorüber, die Intensität der Sonnenstürme nehme bereits wieder ab?«
Alexandra nickte nachdenklich. »Stimmt! Aber dann haben sie sich eben getäuscht, denke ich mal. Das Beste kommt halt oft erst zum Schluss, nicht wahr? Und dieses Mal hat es nicht Quebec erwischt, sondern Oberfranken!«
Zu meiner Linken saß Peter, den ich schon seit einer kleinen Ewigkeit kannte. Der quirlige Beamte hatte dereinst im selben Jahr bei der Stadtverwaltung seinen Dienst angetreten wie ich.
»Was du sagst, das könnte schon richtig sein!«, warf er in Alexandras Richtung ein. »Bloß wissen wir nicht, ob das Phänomen wirklich örtlich begrenzt ist! Und die Misere ist heute mit Sicherheit weitaus schlimmer als damals in Quebec, wo außer diesem größeren Stromausfall und ein paar sonstigen Störungen nichts Schlimmes passiert ist.
Denk doch mal nach! 1989 war noch nicht jedes Auto und nicht jedes Elektrogerät mit empfindlichen Computer-Chips ausgerüstet, da konnte gar nicht so viel kaputt gehen wie heutzutage! Oder was glaubt ihr, weshalb aktuell so gut wie gar nichts mehr funktioniert? Alles durchgeschmort, das sage ich euch schon jetzt!«
Diese frustrierende Annahme war tatsächlich berechtigt. Wir analysierten hier nüchtern katastrophale naturwissenschaftliche Vorgänge und waren uns zu diesem Zeitpunkt überhaupt nicht darüber im Klaren, dass wir im Grunde von einem möglichen Ende der Zivilisation sprachen, so wie wir sie bis zu diesem Tag kannten. Erst später, als ich längst wieder alleine in meiner ausgekühlten Wohnung saß, wurde mir das in Ansätzen bewusst. Aber zurück zu unserem außergewöhnlichen Lobby-Sit-In.
Alexandra ließ sich nicht aus der Ruhe bringen, behielt ihren kühlen Kopf. »Ist ja alles gut und schön, Leute! Aber bislang sind das alles nicht mehr und nicht weniger als blanke Vermutungen, richtig?«
Peter nickte. »Richtig! Doch bald wissen wir mehr. Unser Hausmeister ist nämlich gerade auf dem Weg zur Garage eines Freundes, wo er seinen geliebten 1968er Mustang eingestellt hat. Falls der problemlos anspringen sollte, dürfte sofort alles glasklar sein!«
»Weil da drin wegen des frühen Baujahrs noch kein einziger Chip eingebaut ist, oder?«, dachte ich laut nach.
»Ganz genau!«, bestätigte Peter und warf nervös einen Blick aus der Eingangs-Glastür, ob dort nicht vielleicht schon eine chromglänzende Stoßstange zu sehen wäre.
Wer immer diesen Text eines Tages eventuell lesen mag – wissen Sie was? Ich unterbreche jetzt doch und gehe erst einmal ins Bett. Mir ist kalt, meine Füße fühlen sich wie erstarrte Eisklumpen an. Die rechte Hand samt zugehörigem Gelenk schmerzt ziemlich, außerdem erkenne ich die Buchstaben nur noch verschwommen; es sieht für meine überanstrengten Augen aus, als würden sie sich wie eine Ameisenkolonne über das Papier bewegen. Gute Nacht, bis morgen!
Falls es ein »morgen« überhaupt noch geben wird. In der absoluten Dunkelheit beschleichen einen die abstrusesten Ängste, das dürfen Sie mir ruhig glauben.
Schönen Valentinstag, Gabi!
*
Ich bin heute schon wieder erst aufgewacht, als es draußen längst hell geworden war. Im Grunde macht das nichts aus, weil man ja sowieso nicht früher nach draußen gehen könnte. Wenn man die Hand vor Augen nicht sieht, ist es viel zu gefährlich, auch nur einen Fuß vor die Wohnungstür zu setzen. Dennoch besitze ich eingeschliffene Gewohnheiten und ein fast übermächtiges Pflichtgefühl, welches mir wider alle Logik ein schlechtes Gewissen impliziert.
Obwohl ich unter normalen Umständen also schon seit bestimmt zwei Stunden ordentlich im Amt an meinem Arbeitsplatz sitzen müsste, befinde ich mich zu Hause bei 5 Grad plus am Schreibtisch, um wenigstens den gestrigen Tag fertig zu dokumentieren. Mit einer Decke um die Schultern und fingerlosen Handschuhen, die meinen klammen Händen wenigstens ein wenig Wärme spenden sollen.
Die eisige Raumtemperatur desillusionierte mich gleich nach dem Aufwachen gründlich, hatte ich mir doch vor dem Einschlafen noch ganz fest gewünscht, dass heute alles wieder seinen normalen Gang gehen solle. Doch das wird womöglich nie mehr der Fall sein.
Nach wie vor gibt es weder Strom noch Heizung, in allen Straßen herrscht gespenstische Stille. Wir wurden von einem Augenblick zum anderen zurück in die Steinzeit katapultiert, und noch immer weiß niemand in meiner Umgebung sicher zu sagen, wie dieses katastrophale Ereignis überhaupt seinen Lauf nehmen konnte. Innerhalb weniger Sekunden war die gewohnte Ordnung aus den Fugen geraten.
Als gestern der Hausmeister mit seinem 1968er Mustang tatsächlich nach einer Weile des angespannten Wartens vor dem Rathaus angeröhrt kam, sahen wir unsere vor allem durch Peter favorisierte Theorie bestätigt. Die Anzeichen, dass sich mit ziemlicher Sicherheit ein »EMP« ereignet haben musste, waren vollzählig und unübersehbar vorhanden.
Das, was Ecki als »komische Lichter« bezeichnet hatte, war wohl die typische Leuchterscheinung gewesen, die beim Auftreffen geladener Teilchen des Sonnenwindes auf die Erdatmosphäre entsteht. Dort werden Luftmoleküle zum Leuchten gebracht, so dass sich irisierende Schleier aus farbigem Licht über den Nachthimmel bewegen.
Normalerweise irrlichtern diese Phänomene hauptsächlich in den Polarregionen über den Horizont, doch in den frühen Morgenstunden des 14. Februar 2020 waren sie auch über unserer nordbayerischen Stadt Bayreuth deutlich zu sehen gewesen.
Ecki hatte also vollkommen richtig beobachtet, jedoch mithilfe seiner kruden Gedankenwelt viel zu abenteuerliche Schlüsse aus seiner Sichtung gezogen.
Klar – alle, die wir uns hier die Köpfe heiß redeten, waren von Beruf Verwaltungsangestellte oder Beamte, nicht etwa eine Horde hochintelligenter Physik-Genies. Trotzdem fühlten wir uns hinreichend davon überzeugt, die richtigen Schlüsse gezogen zu haben.
Hausmeister Klaus öffnete die Motorhaube des Mustangs für uns, um stolz zu demonstrieren, inwiefern sich sein schnittiger Oldtimer von unseren modernen, jedoch leider neuerdings fahruntüchtigen Autos unterscheidet.
Okay, die elektronischen Bauteile waren definitiv das Problem! Nur wussten wir aufgrund dieser Erkenntnis immer noch nicht, ob der Schaden räumlich begrenzt ist, und auch am heutigen Tag werden wir dieses Rätsel wohl nicht lösen können. Wie sollten wir das auch anstellen, woher die Informationen beziehen? Wenn einem weder Internet, noch Fernsehen, noch Radio zur Verfügung stehen, dann erfährt man nur das, was sich direkt vor der eigenen Nase ereignet.
Peter warf noch einen neuen Aspekt in die Diskussionsrunde, über den wir bisher noch gar nicht nachgedacht hatten. Ein zerstörerischer EMP kann nämlich nicht nur durch natürliche Sonnenstürme ausgelöst werden, sondern beispielsweise auch durch eine von Menschen zu Kriegszwecken gefertigte EMP-Bombe. Die Technologie hierzu existiert heute bereits, und wenn solche Waffen den falschen Gruppierungen in die Hände fallen, dann scheint nahezu alles denkbar.
»Das Kernprinzip von solchen Bomben besteht darin, durch eine Explosion ein elektromagnetisches Feld blitzartig zu komprimieren. Dabei verwandelt sich eine Menge mechanischer Explosionsenergie in elektromagnetische Energie, die von der Bombe dann als elektromagnetischer Impuls freigesetzt wird«, meinte Peter mit vielsagendem Blick.
»Ist doch jetzt völlig egal, wir sollten uns lieber darum kümmern, wie wir ohne all die technischen Hilfsmittel überleben können! Wenn ein EMP die Ursache ist – ob nun durch die Sonne oder Terroristen ausgelöst – können wir schließlich nicht damit rechnen, dass sich die entstandenen Schäden in absehbarer Zeit beheben lassen.
Wo bekommen wir bitteschön Nahrungsmittel her, wenn die Supermärkte nicht öffnen? Wir haben Februar, da entfällt das Beerensammeln!«, bemerkte Alexandra mit reichlich Sarkasmus in der Stimme.
Zustimmendes Gemurmel wurde laut, denn spätestens in zwei Wochen würde nahezu niemand mehr etwas Genießbares im Kühlschrank liegen haben. Wenige Wochen später wären auch bei strenger Rationierung alle haltbaren Vorräte aufgegessen, nicht jeder besitzt heutzutage eine Speisekammer mit Dosen und Einmachgläsern im Überfluss. Auch ich nicht, meine winzige Küche lässt kaum Lagerhaltung zu. Bis auf ein paar Packungen Spaghetti, einige Gläser selbstgemachter Marmelade von Oma und eine Batterie billiger Dosensuppen ist da nichts Essbares aufzufinden.
Manch einer hatte sich mit diesem höchst beängstigenden Gedanken an eine drohende Hungersnot offensichtlich bereits auseinandergesetzt, andere Kollegen guckten nach Alexandras Einwurf reichlich erschrocken und ängstlich aus der Wäsche.
Wir mussten den Versuch einer Problemlösung auf den nächsten Tag verlegen, denn die beginnende Abenddämmerung erinnerte uns unbarmherzig daran, dass es schon bald stockdunkel sein würde und wir dann womöglich nicht mehr in der Lage wären, zurück in unsere ungemütlichen Wohnungen zu finden. So, das war der Rest meiner Dokumentation von gestern! Was würde ich in dieser Kälte nicht alles für eine schöne Tasse heißen Kaffee geben! Jetzt radle ich wieder hinüber zum Rathaus, um zusammen mit meinen Kollegen brauchbare Strategien für die nahe Zukunft auszubaldowern.
Strategien für den Worst Case, für das nackte Überleben.
*
Samstag, 15. Februar 2020
Als ich heute gegen Mittag keuchend vor dem Rathaus eintraf, kamen mir bereits einige Kollegen auf dem Gehweg entgegen.
»Pass auf, ist glatt heute!«, warnte mich fürsorglich ein Kollege aus dem Steueramt.
»Habe ich bereits gemerkt!«, grummelte ich düster. Schließlich tat mir alles weh, weil ich wegen des Glatteises zweimal gestürzt war. Zum Glück waren die Stürze glimpflich verlaufen, außer blauen Flecken würde ich nichts zurückbehalten. Streufahrzeuge waren natürlich ebenso außer Betrieb wie alles andere, daran hatte ich beim Losfahren gar nicht gedacht.
»Stell dein Fahrrad ab, wir laufen gleich los. Schließ dich bitte einer der Gruppen an!«, rief mir Peter zu, der sich anscheinend selbst zu einer Art Anführer ernannt hatte. Ich war wegen der Fertigstellung meiner Dokumentation des gestrigen Tages wohl wieder recht spät dran und hatte einiges verpasst.
Aus einer der fünf Grüppchen löste sich Alexandra, bewegte sich auf dem glatten Gehweg vorsichtig auf mich zu. »Komm, du kannst mit uns gehen! Wir sind die Lebensmittel-Task Force!«
»Die was?«, fragte ich erstaunt. Klar konnte ich mir denken, welchen Auftrag Alexandras Gruppe erhalten hatte. Aber musste immer sofort alles unbedingt einen militärischen Anstrich erhalten, sobald sich Katastrophen ereigneten?
Alex klärte mich auf. Man habe vorhin einhellig beschlossen, dass Herumsitzen und Diskutieren jetzt nicht mehr weiterhelfe. Die Zeit des Handelns sei gekommen. Nur in der Gemeinschaft hätte man eine reelle Chance, Einzelkämpfer würden in dieser veränderten Welt schon bald an ihre Grenzen stoßen.
Man müsse aber unverzüglich damit beginnen, sich einen umfassenden Überblick zu verschaffen, sonst hätte man schnell das Nachsehen. Schließlich seien sehr viele Leute mit demselben Problem konfrontiert, was unter Garantie nach dem ersten Schreck erbitterte Kämpfe um die wenigen, noch zur Verfügung stehenden Ressourcen bedeute.
Deswegen seien vorhin fünf Gruppen gebildet worden, welche allesamt mit unterschiedlichen Aufträgen versorgt seien.
Ich persönlich mochte eigentlich nicht glauben, dass kultivierte Menschen sich wirklich auf der Stelle alle zu rücksichtslosen und gewalttätigen Egoisten zurückentwickeln könnten, sah jedoch ein, dass man sich um die vordringlichen Bedürfnisse kümmern musste. Beamte planen halt gerne, das gibt ihnen ein Gefühl von Sicherheit.
So schloss ich mich freiwillig dieser Gruppe 1, der so genannten »Lebensmittel-Task Force« an. Schon um für mich selbst herauszufinden, wie ich – beziehungsweise wir – die dringend benötigten Lebensmittel für die nächsten Tage auftreiben können. Gruppe 2 würde als »Mobilitäts-Task Force« nachsehen, ob es außer dem 1968er Mustang von Hausmeister Klaus in der Stadt noch andere Fahrzeuge gibt, die anspringen. Ein Kollege wusste beispielsweise von einem Oldtimer-Club und ein paar weitläufig Bekannten, die sehr alte Fahrzeuge besitzen. Aber sind die auch fahrbereit? Und was ist mit Traktoren oder Fahrzeugen von Polizei oder Bundeswehr?
Außerdem würde man Benzin, Öl und Diesel benötigen, um die wenigen fahrbaren Untersätze überhaupt benutzen zu können. Wenn die Pumpen in den Tankstellen auch nicht funktionieren, womit sicher zu rechnen ist, dann muss man wohl früher oder später Treibstoff aus den gefüllten Tanks von nicht mehr fahrbereiten Autos ablassen und sich ein Lager anlegen. Dumm nur, dass die meisten Fahrzeuge seit einigen Jahren mit Elektromotoren ausgerüstet sind.
Hausmeister Klaus gedachte mit der dritten Gruppe, der »Informations-Task Force«, so weit wie möglich aus der Stadt hinaus zu fahren und nachzusehen, ob der EMP örtlich eng begrenzt ist. Vielleicht hätte ja Kulmbach Strom, Nürnberg oder Hof? In diesem Fall könnten wir uns alle dorthin begeben und abwarten, bis auch in Bayreuth langsam wieder die Normalität einkehren würde. Notfalls zu Fuß.
Auf ihrer Reise sollen nebenbei möglichst viele Leute befragt werden, ob sie über weitreichendere Informationen verfügen als wir. Womöglich existieren gute Ideen, wie man mit der Krise umgehen kann, auf die wir bisher noch nicht gekommen sind.
Wenn schon das World Wide Web zumindest temporär nicht mehr existiert, dann muss eine andere Art von Informations-Netzwerk aufgebaut werden. Ein persönliches, von Mensch zu Mensch. Die vierte Gruppe rund um Peter würde sich vorrangig um folgende Fragen kümmern: Könnten wir irgendwo zusammen kampieren, damit nicht jeder zurück in seine kalte Wohnung muss? Wie gelingt es, eine Wärmequelle zu schaffen und adäquate Möglichkeiten für die Körperhygiene zu finden, ohne sich mit eiskaltem Wasser waschen zu müssen?
Was ist mit Medikamenten, die wir früher oder später sicher benötigen werden? Welche mechanischen Geräte funktionieren noch, so dass wir wenigstens ein paar Hilfsmittel für das tägliche Leben verwenden können? Peter bezeichnet diese Task Force mit den Begriffen »Gebrauchsgegenstände und Hygiene«.
Spätestens dann, wenn unsere Gemeinschaft eines Tages gut funktionieren wird und über Hilfsmittel und Lebensmittel verfügt, die andere nicht besitzen, wird es gefährlich. Da sind wir uns ausnahmsweise alle einig!
Es wird todsicher eigennützige Leute geben, die uns diese lebensnotwendigen Schätze wieder entreißen wollen, auch unter Gewaltanwendung. Also müssen wir uns mithilfe der Task Force 5 (Verteidigung) unbedingt um den eigenen Schutz kümmern, sei es durch einfache Waffen, sei es durch Verstecke oder Zäune. Mal sehen, was die zuständige Gruppierung sich hierzu ausdenken wird. Ich nahm mir schon mal vor, über Steinschleuderbau nachzudenken und fühlte mich in die Kindheit zurückversetzt. Im Grunde proben die Kinder dieser Welt spielerisch den Ernstfall, indem sie Verstecke anlegen, Kirschen in Nachbars Garten klauen und sich Pfeil und Bogen selber basteln. Wir Erwachsenen müssen all das erst wieder mühsam lernen. Nur mit dem Unterschied, dass unsere Geschicklichkeit letzten Endes wohl über Gedeih und Verderb entscheiden wird. Kein schöner Gedanke.
Irgendwie ist es schon albern: Eine Horde von degenerierten Rathaus-Bediensteten zieht aus, um das Überleben zu lernen, anstatt dem berüchtigten Beamten-Dreikampf zu frönen oder Beamten-Mikado zu spielen, ha ha.
Plötzlich ist nicht mehr der Dienstgrad entscheidend, um herauszufinden, wer der Boss ist; im Augenblick füllt diese Rolle Peter aus, einfach weil er die größte Klappe besitzt und auf ein breit gefächertes Allgemeinwissen zurückgreifen kann.
Hausmeister Klaus ist immens wichtig, weil er die Schlüssel zum Rathaus besitzt und das einzige fahrbereite Auto sein eigen nennt. Außerdem lagert in seinem dienstlichen Fundus jegliches Werkzeug, das man sich nur vorstellen kann. Vieles davon funktioniert auch ohne Strom, kann uns somit noch sehr nützlich werden.
Wenn ich dran denke, dass Letzterer früher immer heimlich ausgelacht wurde, weil er stundenlang mit einem Laub-Föhn unterwegs war und der Herbstwind seine Bemühungen binnen Sekunden wieder zunichte machte … So einige Kollegen vertrieben sich früher gerne die dienstliche Langeweile mit diesem Anblick. Eine gewisse Situationskomik ist unbestreitbar vorhanden, auch wenn die Lage in Wirklichkeit sehr ernst ist.
So! Jetzt brauche ich schon wieder Teelichter, um weiterschreiben zu können. Lange werden sie nicht mehr reichen, dann ist es vorbei mit meinen nächtlichen Aktivitäten.
*
Wir zählen 8 Personen in unserer neu gegründeten LebensmittelTask Force. Neben Alexandra und mir gingen heute Morgen zwei Kollegen aus dem Versicherungsamt sowie vier aus dem Sozialamt auf die Suche nach etwas Essbarem. Anfangs bewegten wir uns sehr vorsichtig über die glatten Gehsteige, wenig später kam die Sonne hervor und taute den eisigen Überzug auf, so dass wir weitaus schneller vorankamen.
Auf dem Weg in die Innenstadt schmiedeten wir einen groben Plan, wie wir der Reihe nach vorgehen würden. Zunächst zählte jeder den Geldbetrag in bar, welchen er bei sich trug. Falls irgendwo wider Erwarten ein Geschäft geöffnet wäre, wollten wir als erste Maßnahme ganz normal haltbare Lebensmittel einkaufen gehen, vorrangig selbstverständlich Konserven.
Schon nach wenigen Metern wurde es unübersehbar, dass sich seit gestern bereits so einiges verändert haben musste. Neben den überall nutzlos herumstehenden Autos waren erste Spuren der Verwüstung sichtbar.
Was ich eigentlich nicht für möglich gehalten hatte, war wohl längst zur bitteren Realität geworden. Es musste da draußen schon heute am zweiten Tag der Krise Menschen geben, die sich um Gesetz und Ordnung keine Gedanken mehr machten und für sich selbst zusammenrafften, was immer sie zwischen die Finger bekommen konnten.
Der erste Supermarkt einer kleinen regionalen Kette kam in Sicht. Selbstverständlich war mangels Beleuchtung hinter den mit Werbung plakatierten Schaufensterscheiben nichts als Dunkelheit zu erkennen. Dennoch zwang uns ein törichtes Fünkchen Hoffnung, bis zur Glas-Eingangstür zu gehen und nachzusehen, ob sie nicht doch zu öffnen ginge.
Natürlich war das nicht der Fall. Wir liefen um das Gebäude herum bis zur rückwärtigen Metalltür des Warenlagers, weil wir hofften, dort vielleicht Personal anzutreffen, welches uns unkonventionell ein paar Lebensmittel hätte verkaufen können.
Offensichtlich waren wir aber zu spät gekommen, jemand musste dem Anschein nach bereits hier gewesen sein. Die schnell verderblichen Lebensmittel aus den Eistruhen und Kühlregalen waren in und neben den Müllcontainern entsorgt worden.
»Nehmen wir uns doch einfach von hier etwas mit!«, schlug Alexandra spontan vor und begutachtete schon einmal die traurige Ansammlung von Joghurtbechern und aufgetauten Gemüsebeuteln, die neben den Müllcontainern aufgetürmt lagen.
Die anderen schüttelten entsetzt den Kopf. »Spinnst du? Was ist, wenn wir von diesem verdorbenen Gammel-Essen eine Lebensmittelvergiftung kriegen? Das Zeug riecht bereits streng, weil die Sonne voll draufscheint. Meinst du wirklich, die hätten etwas entsorgt, das noch essbar und damit verkäuflich gewesen wäre?«, fragte Selina und rümpfte angeekelt die Nase.
»Ach was, wir müssen einfach ein wenig wühlen und stöbern, es kann ja nicht alles gleichzeitig schlecht geworden sein! Schließlich haben wir Mitte Februar, da geht es nicht so schnell mit dem Schimmel und der Fäulnis«, konterte ich genervt. Alexandra und ich hätten nämlich überhaupt kein Problem damit gehabt, den Müllberg Stück für Stück zu untersuchen, um Brauchbares zu extrahieren.
Selina verschränkte trotzig die Arme. »Peter hat aber gesagt, wir müssen als Team arbeiten! Die Mehrheit von uns ist eindeutig dagegen, dass wir uns mit diesem dreckigen Müll aufhalten. Wir haben vorhin einstimmig beschlossen, zuerst nach geöffneten Märkten zu sehen, in denen man noch ganz normal gegen Bezahlung einkaufen kann. Schon vergessen?«
Das konnte ja heiter werden! Ich suchte Alexandras Blick und sah, dass sie die Augen nach oben verdrehte. Wir fragten uns wohl beide, ob ein gemeinsames Überleben mit solchermaßen anspruchsvollen und empfindlichen Mitstreitern überhaupt gelingen kann, oder ob die Mission zum Scheitern verurteilt ist. Zähneknirschend trotteten wir hinter unserer sogenannten Task Force her, die sich schon wieder in Bewegung gesetzt hatte.
Ich muss es kurz machen, denn mein Handgelenk schmerzt. Wenn ich zu lange schreibe, gibt das wahrscheinlich eine schöne Sehnenscheiden-Entzündung.
Warum soll ich auch ausführlich beschreiben, dass sich bei allen Supermärkten dasselbe frustrierende Bild bot?
Halt nein, um bei der Wahrheit zu bleiben: es waren zwei davon bereits aufgebrochen und restlos ausgeplündert worden. Aber das machte die Situation für uns auch nicht besser. Wir zählten uns nach wie vor zu den anständigen Menschen, die ihren Charakter und ihre Erziehung nicht bei der ersten Gelegenheit über Bord zu werfen gedachten. Unsere Reichweite war zudem begrenzt, wir konnten zu Fuß unmöglich alle Einkaufsmärkte der Stadt abklappern. Dafür wäre sogar eine Stadt wie Bayreuth zu weitläufig angelegt gewesen.
Zwei Dinge stellten wir außerdem an diesem Samstag fest: erstens formieren sich momentan Kräfte der Polizei und des Militärs, um eine gewisse öffentliche Ordnung zu gewährleisten. Sie tun sich nur ein wenig schwer damit, weil ja auch sie bei der Bewältigung ihrer Aufgabe auf technische Hilfsmittel und Fahrzeuge weitestgehend verzichten müssen.
Ein Soldat, den wir in der Innenstadt antrafen, sprach gar von einer geplanten Ausgangssperre und der baldigen Verhängung des Kriegsrechts. Man konnte ihm jedoch recht deutlich ansehen, dass er selber nicht wusste, wie dies de facto zu bewerkstelligen wäre. Zweitens hatte man im Hauptgebäude der Stadtverwaltung mittlerweile die städtische Großraum-Tiefgarage für die Allgemeinheit geöffnet, in welcher sich seit den 1970er Jahren auch ein großer Katastrophen-Luftschutzbunker befindet. Dort werden jetzt Decken und Lebensmittel für Bedürftige ausgegeben, so lange der Vorrat reicht. Auch könnte man dort Unterschlupf finden, falls man obdachlos ist.
Gut zu wissen, denn man kann derzeit schwer abschätzen, wie schlimm es noch kommen wird und ob die Krise zeitlich begrenzt ist. Wir haben auf unserem Weg so einige Polizisten und Soldaten befragt, keiner wusste uns das zu sagen; aber alle wirkten sie besorgt.
Wir kehrten heute Nachmittag also mit leeren Händen zu unserer Außenstelle des Rathauses zurück, bestiegen frustriert unsere Fahrräder und radelten zurück nach Hause. Jeder für sich alleine. Ich habe aufgrund der jüngsten Erfahrungen echte Angst vor der Zukunft bekommen.
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Sonntag, 16. Februar 2020
Für den heutigen Tag haben wir abgemacht, dass sich die fünf Task Force-Gruppen an unserer Rathaus-Außenstelle treffen, um die jeweiligen Erkenntnisse vom gestrigen Einsatz auszutauschen und passende Schlüsse daraus zu ziehen. Schließlich ist der Sonntag aufgrund der schwierigen Umstände nicht länger als Arbeitstag tabu.