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Unser Bericht für die Gruppe 1 wird wohl eher peinlich ausfallen, weil diese bislang so überhaupt nichts Sinnvolles in puncto Lebensmittelbeschaffung erreichen konnte. Mir steigt gleich wieder der Adrenalinspiegel, wenn ich an das zimperliche Verhalten meiner Kollegen von gestern denke. Na, die werden auch noch umdenken müssen!
Mich interessiert ganz besonders, was Klaus und seine Mitfahrer außerhalb der Stadt in Erfahrung bringen konnten. Außerdem werde ich vorher einen kleinen Umweg radeln und bei den Müllcontainern des Supermarktes stoppen, neben welchem gestern die aussortierten Lebensmittel deponiert waren. Ich habe nämlich meinen Küchenschrank durchsucht und hierbei festgestellt, dass meine Vorräte schon jetzt bedenklich zur Neige gehen.
Himmel noch mal, ein paar Kilo weniger auf den Hüften würden mir zwar bestimmt gut stehen! Aber Hungerattacken möchte ich trotzdem nicht erleiden müssen!
*
Heute sind deutlich weniger Kollegen hier am Rathaus eingetroffen, als an den vergangenen beiden Tagen. Ich denke, manche haben einfach noch nicht kapiert, dass unser bisheriges Leben dahin ist, wir uns vollkommen neu orientieren müssen. Diese allzu sorglosen Charaktere halten sogar eisern an ihrem arbeitsfreien Sonntag fest! Beamte sind eben naturgemäß oft starrsinnig und unflexibel.
Es wäre aber genauso denkbar, dass die ersten Mitstreiter erhebliche Zweifel an der Funktionsfähigkeit unserer AmtsGenossenschaft bekommen haben. So wie ich gestern auch.
Aber ich will von vorne beginnen! Ich radelte heute Morgen also als erstes hinunter zu dem kleinen Supermarkt, um ein paar der aussortierten Lebensmittel für mich zu ergattern. Schon von weitem sahen meine entsetzten Augen, dass der komplette Lebensmittel-Berg neben dem Müllcontainer bis auf das letzte Stück bereits abgetragen war.
Aktuell wühlten so vier bis sechs Personen hektisch im Container, um auch aus diesem noch alles herauszuholen, was brauchbar erschien. Es handelte sich dabei aber nicht etwa um zerlumpte Obdachlose, sondern um ganz normale, eher gut gekleidete Bürger.
Verflixt, da scheinen die ersten nach nicht einmal einer Woche schon Hunger zu leiden, was meine eigene Essensbeschaffung ab sofort extrem verkomplizieren wird; das ist mir bei diesem Anblick schmerzlich klar geworden. Wer zu spät kommt, den bestraft das Leben. Ich hasse es, wenn sich die abgedroschenen Phrasen meiner Mutter bewahrheiten!
Reichlich demotiviert und deprimiert traf ich anschließend bei meinen Leidensgenossen ein. Die diskutierten gerade darüber, weshalb eigentlich neuerdings ein solch penetranter Gestank über der Stadt liegt. Die Mülltonnen werden doch schließlich auch im Normalbetrieb nur alle 14 Tage geleert, ein Totalausfall der Müllabfuhr kann somit wohl kaum alleine der Grund für diese Geruchsbelästigung sein. Nicht im Februar.
Meiner miesen Stimmung gemäß warf ich einfach in äußerst sarkastischem Tonfall ein einziges Wort laut vernehmlich in die Runde: »Scheiße!«
Peter entglitt nachsichtig ein schwaches Lächeln. »Klar ist das eine ziemliche Scheiße! Aber trotzdem, wo kommt bitteschön dieser beißende Gestank her?«, versuchte er die Diskussion sachlich fortzusetzen und blickte fragend in die Runde.
Ich beharrte: »Sag ich doch gerade! Es ist Scheiße, die ihr hier riecht, jedenfalls hauptsächlich. Alles, was im Abwasserkanal halt so landet. Oder habt ihr etwa geglaubt, die Pumpen der Kläranlage würden nach dem Tag X noch funktionieren? Das riesige Klärbecken ist von hier aus … hm … nur so ungefähr zwei Kilometer weit entfernt!«
Damit war die Ursache hinreichend geklärt; gleichzeitig stand fest, dass wir mit dem Gestank weiterhin leben müssen und dass er sich vermutlich noch beträchtlich verstärken wird, sobald sich die Lufttemperatur im Frühjahr erhöht und zusätzlich der Inhalt der vollgestopften Bio-Mülltonnen kompostiert und unter ständiger Freisetzung von übelriechenden Gasen vor sich hin fault.
»Okay, dann wollen wir mal die Ergebnisse von gestern bekannt geben«, ging Peter nahtlos zur Tagesordnung über. Gleich zu Anfang musste ich für Gruppe 1 davon berichten, wie schwierig es in Zukunft wahrscheinlich werden wird, sich Lebensmittel zu besorgen. Dass es uns beim besten Willen nicht gelungen ist, entsprechende Möglichkeiten zu finden. Jedenfalls nicht, ohne Straftaten zu begehen.
»Genau das habe ich befürchtet!«, nickte Peter. »Da werden wir uns etwas anderes einfallen lassen müssen, wir diskutieren später noch drüber. Aber erst einmal wollen wir hören, was die anderen Gruppen erreichen konnten.«
Gruppe 2 war es gelungen, die Besitzer von drei weiteren Fahrzeugen zu finden, welche keinerlei Elektronik-Bauteile aufweisen und somit nach dem EMP noch fahrbereit sind. Man hatte sich darauf geeinigt, Gespräche über den sinnvollen Einsatz dieser alten Autos zu führen. Sie sollen künftig beispielsweise dann zum Einsatz kommen, wenn größere Gegenstände transportiert werden müssen oder längere Strecken zurückzulegen sind; Krankentransporte wären ebenso möglich wie gelegentliche Besorgungsfahrten auf dem Land.
Hausmeister Klaus hat überdies das Gespräch zweier Soldaten mitangehört, die sich eifrig darüber austauschten, dass die Bundeswehr zumindest über einzelne puristisch gebaute Jeeps verfügt, die einwandfrei funktionieren. Außerdem gedenkt man offensichtlich ausrangierte Museums-Panzer aus dem zweiten Weltkrieg zu reaktivieren, um die Straßen damit frei zu räumen. Schließlich blockieren überall noch die mitten in der Fahrt liegen gebliebenen Autos, Busse und Lastwagen die Zufahrtswege.
»Das ist doch schon mal besser als gar nichts!«, brummte Peter und bat Gruppe 3 um ihren Bericht. Klaus holte tief Luft und erzählte, wie er mit seinem Mustang auf verschiedenen Strecken versucht hatte, ohne Blechschaden aus der Stadt zu kommen, zunächst aber ohne Erfolg.
Viel zu viele aufgegebene Fahrzeuge stehen auf den Straßen herum und verhindern ein Durchkommen. Schweren Herzens musste Klaus deshalb seinen liebevoll restaurierten Mustang über unebene Feldwege holpern lassen, ansonsten hätte er die Mission von vorneherein abbrechen müssen.
Sie kamen nach einigen Umwegen und Irrfahrten durch den Wald bis nach Kulmbach und erfuhren in unserer Nachbarstadt im Grunde nicht mehr, als wir ohnehin schon wussten: Man geht auch dort von einem EMP aus, hat keine Ahnung, wie es weitergehen soll und ob nur ein begrenztes Gebiet von den Auswirkungen betroffen ist. Kulmbach hat es jedenfalls auch erwischt.
»Na schön, dann müssen wir wohl geduldig abwarten, ob Informationen von weiter draußen irgendwann bis hierher durchdringen!«, resignierte Peter.
»Aber wenigstens habe ich gute Neuigkeiten für euch! Mit der Gruppe 4 habe ich ein paar nützliche Gegenstände aufgetrieben. Ihr müsstet euch nur schnell mit dem Gedanken anfreunden, dass wir künftig aus praktischen Gründen in einer Art Camp leben sollten, wo Privatsphäre nicht mehr allzu groß geschrieben wird!« Peter erklärte uns, dass Klaus morgen mit seinem Mustang eine ganze Menge an Ausrüstungsgegenständen abholen könne. Seine Schwester führe nämlich in Erlangen ein kleines Geschäft für Besucher von Mittelaltermärkten, die sich dort an der historischen Lebensweise orientieren, in einfachen Gewändern herumlaufen und ein paar vorsintflutliche Tage ohne technische Hilfsmittel verbringen wollen. Sie habe einfach alles im Angebot, was man für ein Überleben ohne Strom benötige. Weil ihr Ladengeschäft in Erlangen jedoch sehr klein sei, lagere sie zu unserem Glück vieles hier in Bayreuth in einer geräumigen Garage, welche einem gemeinsamen Freund gehöre.
»Nun ja, und dort bin ich vorhin zu Fuß mit der Gruppe 4 gewesen. Wir haben das Schloss aufgebrochen und neugierig nachgesehen, was das Lager an Brauchbarem enthält. Ich bin vollkommen sicher, dass meine Schwester hiermit einverstanden wäre, wenn sie davon wüsste. Bis nach Erlangen zu fahren, um sie vorher zu fragen, hätte sie uns sowieso nicht zugemutet. Neuerdings ist das eine halbe Weltreise!
Was soll ich euch sagen? Früher habe ich jeden belächelt, der freiwillig dieses archaisch anmutende Zeug benutzte; oft erzählte meine Schwester begeistert witzige Anekdoten. Zum Beispiel, wie sie sich während der Mittelalter-Camps im Wald selber Donnerbalken bauten und sich den Hintern mit Blättern säuberten. Ich hielt das für eine amüsante Vorstellung, wie sie da alle aufgereiht sitzen und ihr Geschäftchen erledigen.
Aber jetzt? Wir sind selber nicht mehr weit von solchen Handlungsweisen entfernt, nicht wahr?«, schmunzelte Peter.
Klaus meldete sich zu Wort. »Und was genau wäre da morgen abzuholen? Brauche ich den Hänger?«
»Kann nicht schaden!«, nickte Peter. »Wir holen uns einen riesigen Kochkessel samt dreibeiniger Aufhänge-Vorrichtung, Feuerkörbe, einen Badezuber nebst großen Holzeimern, zerlegbare Zelte und ein paar andere Kleinigkeiten, wie zum Beispiel wärmende Schaffelle.«
»Zelte und Badezuber? Wozu brauchen wir das denn, wir haben doch alle Wohnungen mit Badewannen? Und selbst wenn wir uns dazu entschließen sollten, hier in einer Gemeinschaft zu leben – ein festes Dach über dem Kopf, Teeküchen und ein bisschen Komfort hätten wir dann auf jeden Fall!«, warf die Vorzimmerdame des Steueramts verwundert ein. »Da müssen wir doch nicht leben wie unzivilisierte Wilde!«
Peter seufzte; er schätzt es nämlich überhaupt nicht, wenn jemand sich beharrlich weigert, selbst nachzudenken und das Offensichtliche zu erkennen. Er fügte sich ins Unvermeidliche und erklärte dieser und anderen verwöhnten Damen, dass sich die Situation schon bald erheblich zuspitzen werde, wenn der Kampf ums Überleben erst voll in Gang kommt.
Er kündigte an, dass seiner Ansicht nach die Straßen bereits in Kürze nicht mehr sicher betreten werden können. Dass die Anarchie Einzug halten wird, auch im sonst eher beschaulichen Bayreuth.
Einzelpersonen, die nicht über passende Ausrüstung verfügen, würden dann die ersten sein, welche in dieser rabiateren Gesellschaft über Bord gehen; daher müsse man vorausschauend planen. Selbstverständlich werde man versuchen, zunächst in festen Gebäuden Quartier zu beziehen. Falls es in der Stadt aber zu gefährlich werde, dann sei es schlauer, sich mitsamt den Zelten in die Wälder zu verfügen. Fast wie Robin Hood!«, fügte er augenzwinkernd hinzu.
Die Sekretärin sah betreten auf ihre lackierten Fingernägel und schwieg, mühsam die Tränen zurückhaltend. Ich glaube, am heutigen Sonntag haben manche erst begriffen, wie sehr dieser EMP ihr gewohnt behäbiges Leben umgekrempelt hat.
Auch ich stehe vor einem neuen Problem. Die letzten sechs meiner Teelichter sind fast komplett heruntergebrannt, schon flackern die winzigen Flämmchen im verzweifelten Versuch, nicht im restlichen Wachs zu ersticken. Ich werde morgen früh weiterschreiben müssen, wenn ich meine Augen nicht ruinieren will. Meine beiden dicken Stumpen-Kerzen benötige ich leider für andere Zwecke, zum Beispiel, wenn ich nachts aufstehen muss. Ich hatte nie Angst vor der Dunkelheit, auch als Kind nicht.
Aber verglichen mit heute erscheint mir der Gedanke an die Nächte vor dem EMP fast unwirklich, weil die Stadt auch nachts voller Licht und Leben gewesen war. Jetzt herrscht tiefste Finsternis, und mit ihr kommen lähmende Ängste hoch, die ich bisher nicht gekannt habe. Deshalb brauche ich die Gewissheit, Kerzen zur Hand zu haben, falls ich mich gar zu sehr ängstige.
Es ist schon merkwürdig, wie schnell der Mensch sich auf neue Gegebenheiten einstellen kann, wenn er dazu gezwungen ist. Mir kommt mein früheres bequemes Leben jetzt schon wie ein fadenscheinig gewordener Traum vor, wie ein romantisch verklärtes Fatum Morgana.
Hat sich dieser schicksalsträchtige EMP tatsächlich erst vor wenigen Tagen ereignet? Wir alle haben satt und dekadent in einer höchst fragilen, trügerischen Sicherheit gelebt, und haargenau das wird vielen von uns jetzt zum Verhängnis.
*
Bevor ich nachher wieder zum Rathaus hinüberradle, schreibe ich schnell noch kurz die restlichen Ergebnisse des gestrigen Tages auf. Es reicht, wenn ich dort erst nach der Rückkehr von Peter und Klaus eintreffe; vielleicht kann ich dann ein bisschen dabei helfen, die sperrigen mittelalterlichen Gebrauchsgegenstände aus dem Auto zu wuchten und im Foyer des Rathauses einzulagern. Wer hätte jemals daran gedacht, dass sich die Eingangshalle dieser Behörde eines Tages zur Kommandozentrale einer aus Kollegen wild zusammengewürfelten Überlebensgemeinschaft mausern wird?
Wir können wahrscheinlich sowieso von Glück reden, dass sich die hochdotierten Chefs eher beim Rathaus I in der Innenstadt blicken lassen, um sich ordentlich wichtig zu machen, anstatt hier in der Außenstelle aufzuschlagen. Deshalb kommt uns wenigstens niemand in die Quere, der etwas dagegen haben könnte, dass wir hier campieren oder behördenuntypische Dinge lagern wollen. Ich hoffe, dass dies weiterhin so bleiben wird.
Zum Frühstück gab es heute eine kleine Dose Champignons, geschnitten, III. Wahl. So steht es auf dem Etikett. Nie hätte ich diese Dinger normalerweise pur gegessen, doch vorhin habe ich sie in Windeseile gierig verputzt, einfach aus der Dose heraus.
Was gäbe ich jetzt für eine Tasse Kaffee und ein schönes Vollkorn-Brötchen mit Marmelade! Ich glaube, ich wiederhole mich; es ist einfach zum Auswachsen, nichts läuft mehr wie gewohnt!
Aber zurück zum gestrigen Tag. Im Laufe des Nachmittags fanden sich insgesamt vier hilfebedürftige Bürger ein, welche dumme Fragen stellten und ausgerechnet von uns eine Lösung ihrer vielfältigen Probleme erwarteten. Nun, denen konnten wir leider nicht weiterhelfen! Wir rieten ihnen allen, doch lieber beim Rathaus I vorbeizuschauen, wo ja auch die Notunterkunft nebst Verpflegung in der Tiefgarage zur Verfügung stehe. Wir sind schließlich selbst mit der Situation völlig überfordert, genau wie alle anderen Bürger dieser Stadt.
Ach ja, der Bericht der Task Force Nr. 5 steht noch aus! Diese Gruppe hatte den Auftrag, sich um die Sicherheitsfragen unserer Gemeinschaft zu kümmern. Da jedoch niemand außer Hausmeister Klaus über Schusswaffen oder auch nur einen Waffenschein verfügte, trieben sie lediglich zwei Gaspistolen zur Selbstverteidigung, einen Baseballschläger und drei Döschen Pfefferspray auf. Beamte sind in der Regel nun mal keine gewaltbereiten »Rambos«, sondern mehr oder weniger pazifistische Schreibtischtäter.
Peter versprach aufgrund dieser eher mageren Ausbeute, im Lager seiner Schwester zusätzlich nach Langbögen und Pfeilen zu sehen. Besser als gar nichts, auch wenn das uns Menschen des 21. Jahrhunderts schon reichlich albern anmutet.
Ich schwinge mich jetzt mal auf mein Fahrrad und sehe zu, was heute so geht.
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Montag, 17. Februar 2020
Gleich zu Beginn möchte ich stolz anmerken, dass Peter mich vorhin ganz offiziell mit dem Niederschreiben unserer Geschichte betraut hat. Ich zeigte ihm diese Aufzeichnungen und er hat begeistert in der Runde daraus vorgelesen. Er verkündete im Anschluss daran, dass wir ab sofort eine frischgebackene ChronikSchreiberin unter uns hätten: meine Wenigkeit.
Das bedeutet, dass ich jetzt eine Art dienstlichen Auftrag zum Schreiben wahrnehme und sich deswegen künftig die Anderen darum kümmern werden, dass ich immer genügend Kerzen zur Verfügung habe, um auch nachts schreiben zu können. Hurra! Eine Sorge weniger.
Eine halbe Stunde später tauchte Klaus mit den Sachen aus dem Mittelalter-Lager auf. Die meisten Gegenstände sind aus Holz oder Gusseisen gearbeitet und wirken, als könnten sie selbst Jahrtausende mühelos überstehen. Als ich die ebenfalls mitgebrachten Schwerter sah, musste ich herzhaft lachen.
»WAS denn?«, grinste Peter schelmisch. »Das sind zwar bloß Schaukampf-Waffen, sie sind also kein bisschen scharf. Aber ein wenig Angst einflößen könnten sie eventuellen Angreifern durchaus, findet ihr nicht? Selbst wenn die Dinger recht stumpfe Klingen haben – über den Schädel gezogen bekommen möchte ich solch einen schmucken Zweihänder nicht unbedingt, ihr etwa?«
»Nö, nicht wirklich!«, bestätigte Alexandra und prüfte das Gewicht eines der Schwerter, indem sie es mit ausgestreckten Armen wie eine Kriegerprinzessin vor ihren Körper hielt. »Puh, ganz schön heftig! Wohin sollen wir die Sachen denn bringen? Gleich hierher in die Lobby?«
Peter überlegte angestrengt. »Nein, ich glaube, das wäre zu gefährlich! Wegen der riesigen Glasfront hier vorne, die es Einbrechern viel zu leicht macht. Was nützen einem die besten Waffen, wenn sie gleich jemand entwendet?
Ich bin davon überzeugt, dass es nicht mehr lange dauern wird, bis die ersten Mitbürger Straftaten begehen, um sich oder ihren Familien das Überleben auf Kosten anderer Menschen zu sichern. Dann müssen wir mit allem rechnen.«
Noch während er sprach, kam Peter offenbar die zündende Idee. Er winkte Klaus zu sich und fragte, ob er über die Schlüssel zum Tresorraum verfüge. Dies ist ein großes Zimmer mit vergitterten Fenstern im Erdgeschoss, welches in Vor-EMP-Zeiten für Sozialhilfe-Auszahlungen in bar gedient hatte.
»Für den Raum ja, aber natürlich nicht für den Tresor! Den verwalten die Kollegen aus der Stadtkasse.« Klaus kramte den richtigen Schlüssel für das Sicherheitsschloss hervor und sperrte auf, deutete eine kleine Verbeugung an. »Bitte einzutreten!«
Ich staunte. Normalerweise kannte man Hausmeister Klaus im Dienst als bärbeißigen, meist schlecht gelaunten Haudegen, der einen grundsätzlich erst einmal anfrotzelte, sobald man auch nur eine Glühbirne ausgetauscht haben wollte. Seit Beginn der Krise jedoch lief er zur Höchstform auf, zeigte schwarzen Humor und packte bereitwillig an, wo immer man ihn gebrauchen konnte.
Vielleicht sind manche Menschen einfach nicht für ein eintöniges, ereignisloses Leben hinter dem Laub-Föhn zu gebrauchen. Erst unter Belastung zeigen sie ihren wahren Wert, ihre Begabung und Zähigkeit.
Wir schafften unser ungefragt ausgeliehenes Mittelalter-Equipment in den Tresorraum und sperrten diesen sorgfältig wieder ab. Alle hoffen wir inständig, die Sachen niemals benutzen zu müssen, sie in naher Zukunft scherzend zurück in die Garage von Peters Schwester verfrachten zu dürfen. Über unsere paar Tage in der Steinzeit später den Enkelkindern witzige Anekdoten erzählen zu können, wie wir uns damals voller Zukunftsangst vorsorglich auf Schlimmeres eingestellt hatten.
Doch die verzweifelte Hoffnung, dass es sich nur um eine kurzzeitige Unterbrechung des gewohnten Lebens handeln könnte, um ein bloßes Intermezzo mit überschaubaren Schäden, schwindet mit jeder vergehenden Stunde. Wir alle fühlen das, die zunehmende Resignation ist meinen Kollegen mühelos anzusehen. Manchen mehr, anderen weniger.
»So! Habt ihr auch solchen Kohldampf? Dann sollten wir uns jetzt lieber einmal um etwas zum Essen kümmern! Folgt mir!« Peter steuerte mit dynamischem Schritt die Treppe an, welche in die fünf oberen Stockwerke des Rathauses II führte. Klaus, der alleinige Hüter des Generalschlüssels, beeilte sich, um rasch zu ihm aufzuschließen.
Wir anderen folgten. Ich keuchte neben Alexandra die Treppe hoch, welche die ungewohnte Anstrengung ebenfalls sichtlich mitnahm. Normalerweise benutzten fast alle Bediensteten den altersschwachen Aufzug, falls es mehr als ein Stockwerk zu überwinden galt oder Aktenstapel zu schleppen waren.
»Ich glaube, ich kann mir denken, was er vorhat!«, sinnierte Alex außer Atem. »Er will bestimmt nachschauen, was in den Teeküchen noch so an brauchbaren Lebensmitteln lagert! Klaus kann ja alles aufsperren, und dann werden wir schon sehen, ob sich das Treppensteigen gelohnt hat.«
Wir erreichten den fünften Stock, in welchem in normalen Zeiten städtische Steuerangelegenheiten bearbeitet werden. Zu unserem Erstaunen strebte Peter aber nicht die Teeküche an, sondern das vorderste Zimmer in der langen Reihe von Türen. Klaus fragte nicht lang und schloss auf.
»Wie euch bekannt ist, sind die Zimmer alle durch nicht versperrte Zwischentüren verbunden. So können wir schnell und systematisch in sämtlichen Räumen nach Lebensmitteln suchen. Am besten, wir teilen uns in zwei Gruppen: die einen überprüfen die rechte Seite des Flurs, die anderen die linke.
Vergesst bitte nicht, sorgfältig in alle Schreibtischschubladen zu sehen, auch in den Einbauschränken könntet ihr fündig werden. Nicht jeder Kollege hat dort drinnen ausschließlich Akten verstaut«, grinste Peter vielsagend.
»Und schaut auch nach anderen brauchbaren Sachen, zum Beispiel nach Wasser in Flaschen, Kerzen, Streichhölzern oder mechanischen Feuerzeugen!«
Selina, die Sekretärin des Steueramts, stand mit verschränkten Armen und gerunzelter Stirn etwas abseits im Flur. Ihr war überdeutlich anzusehen, dass sie voller Verachtung für Peters Anregung steckte. Das ungefähr 1,60 m große Persönchen mit den dunklen, sorgfältig gestylten Locken wirkte in diesem Augenblick ein wenig wie ein furioser Giftzwerg.
»Nein, das werden wir ganz bestimmt nicht tun!« Sie versuchte nach Kräften, ihre hohe, piepsige Stimme etwas resoluter klingen zu lassen, ihr Nachdruck zu verleihen. »Ich gehe nicht an fremde Schreibtische, das wäre Diebstahl und ein Eingriff in die Privatsphäre des jeweiligen Zimmerinhabers!
Habt ihr denn schon jeden Anstand, eure gesamte Erziehung verloren? Wir sind doch keine Wilden!« Selinas dunkle Augen verschossen wütend Blitze in Peters Richtung.
Peter seufzte genervt, wandte sich dann Selina zu. »So! Jetzt hör mir mal genau zu! Ich habe Verständnis für deine Einwände, die für gewöhnlich auch ihre Berechtigung hätten. Egal, was du von mir denken magst: auch ich begehe im Normalfall keine Diebstähle. Aber das heute ist etwas komplett anderes, hier geht es ums Überleben, nebenbei auch um das deine. Dies hier sind außerdem in erster Linie Diensträume, keine Privatwohnungen! Wo sind sie denn abgeblieben, die geschätzten Herren und Damen Mitarbeiter, welche sonst in diesen Zimmern arbeiten? Wir sind gerade mal 18 Personen aus dem gesamten Rathaus II, die sich regelmäßig einfinden, wenn auch nicht zu den regulären Dienstzeiten. Die meisten der restlichen Kollegen haben sich alle seit dem EMP-Ereignis nicht mehr blicken lassen, als wären sie hier überhaupt nicht mehr beschäftigt.
Wären sie bei uns, dann würden wir die Lebensmittel, die wir hoffentlich finden werden, selbstverständlich auch mit ihnen teilen. Jedoch – angesichts dieses totalen Desinteresses für den Dienst sind sie selber schuld, wenn hinterher die geliebten Gummibärchen aus der Schublade verschwunden sind!«
Mit diesen sarkastischen Worten ließ er Selina einfach stehen und schickte sich an, das erste der insgesamt zwölf Zimmer dieses Stockwerks zu durchsuchen. »Wir treffen uns nachher mitsamt der Ausbeute in der Teeküche!« Selina blieb auf demselben Fleck wie angewurzelt stehen und schmollte trotzig.
Vielleicht sollte ich mich etwas kürzer fassen. Mir schmerzt schon wieder der halbe Arm wegen all der vielen Schreiberei von Hand. Sooft ich früher meinen Computer verwünscht habe, weil mir das ständige Starren auf den Bildschirm und die Beantwortung der vielen täglichen E-Mails gründlich missfielen, so sehr hätte ich mir inzwischen ein funktionstüchtiges Gerät sehnlich herbeigewünscht.
Schriebe ich jedoch meinem Arm zuliebe nicht alles so detailliert und langatmig nieder, dann würde später niemand mehr unsere Gedanken und Gefühle in dieser schwierigen Zeit nachvollziehen können.
Ich werde besser eine kurze Pause einlegen, um mich ein bisschen zu schonen.
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Der Rest meines Berichtes von diesem frostigen Montag ist schnell erzählt. Wir fanden bei der Durchsuchung sämtlicher Diensträume und Teeküchen Unmengen an Süßigkeiten, einige Getränkekästen und mehrere Packungen H-Milch. Dazu Knäckebrot, ein bisschen Obst, Kaugummi und Müsliriegel.
In geräumigen Roll-Gitterboxen, die normalerweise für den Transport größerer Aktenmengen bereitstanden, transportierten wir diese Schätze während mehrerer Anläufe hinunter in den Tresorraum, der mittlerweile eher einem Warenlager glich. Die Anstrengung von jeweils sechs Männern war notwendig, die schweren Boxen über die Steintreppe nach unten zu bugsieren.
Eine dieser Gitterboxen enthielt aber keine Lebensmittel, sondern andere nützliche Gegenstände. Ich hatte bei meinem Rundgang durch die Zimmer schnell begeistert festgestellt, dass einige Kollegen sich die Amtsstunden offenbar mit ein wenig Romantik, einem Mindestmaß an Ambiente versüßt hatten; neben ganz profanen Teelichtern fanden sich viele mit Aroma, dazu Windlichter mit Stumpen-Kerzen darin. Mein nächtliches Schreiben war damit erst einmal gesichert.