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Amüsiert registrierte ich, dass sich Hausmeister Klaus in einem nach seinem Glauben unbeobachteten Moment verstohlen ein Pornoheft unter die Jacke steckte. Ich kannte den Macho-Kollegen im zweiten Stock, aus dessen Einbauschrank es stammte, und wunderte mich daher über gar nichts. Wozu bezahlte Dienststunden doch für manche Leute so dienen – echt faszinierend! Zeige mir deinen Schreibtisch, und ich sage dir, wer du bist.
Da gibt es zum Beispiel eine erklärte Tierschützerin, die das ganze Zimmer mit putzigen Hundefotos dekoriert hat und Gummiknochen in der Schublade hortet, gleich neben ihrem Stempelkissen. Oder einen Reggae-Fan, dessen Zimmer vor Bob Marley-Andenken und Postkarten aus Jamaika nur so strotzt, um ein paar Beispiele zu nennen.
Mein eigener Schreibtisch nimmt sich da eher langweilig aus. Das einzig exotische, das er beherbergt, sind verschiedene Kaffeemischungen aus aller Welt, die ich mir bis einschließlich letzten Donnerstag mit meiner auf dem Fensterbrett geparkten Maschine je nach Lust und Laune zubereitete. Eine mir stets willkommene Abwechslung war das, zwischen der Erstellung von Bescheiden und Sprechstunden für den Bürger. Ein tolerierter Luxus, den ich mir täglich mehrmals gönnte.
Ach, wie gerne hätte ich mir heute eine kräftige HochlandMischung aus Südamerika aufgebrüht, diejenige mit der sagenhaften »Crema« obendrauf!
Wie auch immer, unser Fischzug war recht erfolgreich gewesen. Morgen werden wir wieder zusammenkommen, einige der Lebensmittel gemeinsam vertilgen und ernsthaft darüber sprechen, ob wir uns, gegebenenfalls mitsamt Ehepartnern und Kindern, wirklich auf Zeit in einer Art Rathaus-Camp zusammen schließen wollen, bis die Zeiten wieder besser werden. Da wird sich am morgigen Tag wohl die Spreu vom Weizen trennen. Nicht jeder ist geeignet, im Kollektiv zu leben.
Bin ich es überhaupt? Auf jeden Fall wäre ich bereit, etwas Neues auszuprobieren, mich auf das Abenteuer einzulassen.
*
Dienstag, 18. Februar 2020
Ich bin wütend. Stinksauer sogar! Der heutige Tag brachte nicht viel Gutes mit sich. Daher kann ich echt froh sein, dass er sich langsam, aber stetig dem Ende zuneigt.
Heute ist mir nämlich erst so richtig bewusst geworden, wie selbstsüchtig, dumm und oberflächlich der Mensch eigentlich ist, während er sich größenwahnsinnig für die Krone der Schöpfung hält. Sollte der EMP weltweit zugeschlagen haben, dann wird man ja sicherlich bald sehen, wie es um das souveräne Leben dieses arroganten Primaten in Zukunft bestellt sein wird.
Am besten wird sein, ich erzähle von vorne und der Reihe nach. Heute Vormittag wollte ich wie üblich mit dem Fahrrad zum Rathaus II hinüberfahren. Leider fiel mir in letzter Minute ein, dass ich Peter versprochen hatte, eines meiner Bücher mitzubringen. In diesem dicken Buch geht es um Sinn oder Unsinn von Überlebenstrainings, es enthält Tipps und Tricks zum Überleben in der freien Natur zu jeder Jahreszeit, und das nahezu ohne Ausrüstungsgegenstände. Jenes Buch hatte mir mein Ex-Freund Mark zum vorletzten Geburtstag geschenkt, weil er in einem Anflug von Optimismus glaubte, ich würde so eine Aktion an einem Wochenende mit ihm durchziehen wollen. Da war er allerdings auf dem Holzweg gewesen, wie bei so vielen Punkten in unsere Beziehung. Peter meinte gestern, wir könnten uns aus diesem Band sicher einiges an nützlichen Informationen herausziehen.
Genervt ließ ich mein bereits aus dem Keller hochgeschlepptes Fahrrad kurz neben der Haustüre stehen und stürmte die Treppe hoch; ich würde nicht lange brauchen, denn das Buch lag ja auf der kleinen Kommode neben der Wohnungstüre fix und fertig zum Mitnehmen bereit.
Ich hatte zu lange gebraucht! Als ich die Treppe wieder hinunter hastete, hörte ich das charakteristische Klappern der Schutzbleche meines Fahrrades, was unzweifelhaft bedeutete, dass jemand es bewegen musste. Und tatsächlich: ich erhaschte einen allerletzten Blick auf meinen treuen Drahtesel, der soeben mit einem Mann als Fahrer eilig auf die Straße und aus meinem Blickfeld gesteuert wurde.
Wie lange hatte ich das Fahrrad aus den Augen gelassen, zwei Minuten vielleicht? Einfach geklaut, mitten aus einer belebten Wohnsiedlung! Wütend und entmutigt setzte ich mich erst einmal auf das kleine Treppchen vor der Eingangstüre meines Wohnblocks, um mich selber zu bemitleiden. Jetzt war ich also auch noch zur Fußgängerin wider Willen geworden. Kein Strom, keine Heizung, kein Essen, kein fahrbarer Untersatz. Ich würde zum Rathaus hinüberlaufen müssen und entsprechend lange für die Strecke brauchen. Mist, elender!
Als ich gerade aufstehen wollte, um mich unter gedachten Verwünschungen des rücksichtslosen Diebes in mein Schicksal zu ergeben und mich auf den Weg zu machen, kam mein Nachbar Ecki atemlos die Treppe heruntergehastet.
»Gabi, schnell! Du musst mitkommen, mit der Martha stimmt was nicht!« Er packte mich an der Hand und zerrte mich ins Haus, direkt in »Hartzer-Marthas« Wohnung. Schon beim Eintreten fiel mir der leicht süßliche, ekelhafte Geruch auf. Mir schwante Schlimmes.
»Da hinten liegt sie, ich trau mich gar nicht hinzugehen!«, jammerte Ecki und knibbelte nervös an seinen Fingern herum.
»Ich weiß ja nicht, was mir ihr los ist! Da wollte ich lieber keinen Fehler machen, mit erster Hilfe und ähnlichem Zeug habe ich nichts am Hut!«
Ich verdrehte die Augen. War ja wieder klar, dass solch eine undankbare Aufgabe jetzt ausgerechnet an mir hängen blieb! Martha rührte sich kein bisschen, und ich bahnte mir meinen Weg durch die in ihrer Wohnung durchaus übliche Unordnung, bis ich schließlich vor der fettleibigen, bläulich-blassen Frau stand, die einen üblen Geruch verströmte.
Ich überwand mühsam meinen Ekel und berührte Martha an jener Stelle, an welcher die Halsschlagader eigentlich spürbar pochen sollte. Die Haut fühlte sich wächsern und kühl an. Außerdem sah ich, dass Martha wohl beim Fallen mit dem Hinterkopf gegen die Tischkante geknallt sein musste, denn das Haar war mit Blut verklebt. Nichts, kein Lebenszeichen!
Tapfer kämpfte ich gegen die aufsteigende Übelkeit an. Ich bat den hibbeligen Ecki, nach einem kleinen Spiegel oder etwas anderem mit glänzender Oberfläche zu sehen und mir den Gegenstand zu bringen. In Filmen hatte ich oft gesehen, dass man mithilfe von Taschenspiegeln herausfinden konnte, ob bei Opfern von Unfällen oder Verbrechen vielleicht noch eine schwache Atmung vorhanden wäre.
Ecki nahte nach einer gefühlten Ewigkeit tatsächlich mit einem kleinen, verdreckten Spiegel, den ich zunächst angeekelt mit einem Zipfel von Marthas Tischtuch notdürftig säubern musste. Danach hielt ich ihn möglichst dicht vor Mund und Nase der Frau, um herauszufinden, ob er wegen Atemluft beschlagen würde. Doch nach wenigen Sekunden wurde mir klar, dass dies nicht der Fall war. »Sie ist tot!«, bestätigte ich Ecki.
Der geriet völlig aus dem Häuschen. »Aber wieso? Hat sie jemand umgebracht? Wir müssen sofort die Polizei holen und den Krankenwagen, jemand muss sie abtransportieren! Ich kann doch nicht mit einer Leiche im selben Haus wohnen!« Ecki hyperventilierte, wirkte total panisch. In seinem unkoordinierten
Bewegungsdrang sah er ein bisschen aus wie eine moderne Version des Rumpelstilzchens.
In diesem Moment verlor ich vollends die Kontrolle über meine Magenfunktionen, ein wohlbekannter Geschmack stieg mir von der Speiseröhre in den Mund. Hektisch hüpfte ich über Marthas Unordnung, um mich im Badezimmer schleunigst zu übergeben.
»Komm, ich muss jetzt ganz schnell hier raus!« Dieses Mal packte ich Ecki an der Hand, zerrte ihn aus der Wohnung und die Treppe hinunter, bis wir draußen auf dem Parkplatz standen. Ich musste mich erst einmal hinsetzen, denn meine Knie zitterten, der Kreislauf begann zu streiken. Ecki hingegen lief mit gerunzelter Stirn im Kreis herum und ich fragte mich ernsthaft, ob sich sein Gehirn nun womöglich endgültig in den gnädigen Wahnsinn verabschiedet hatte.
Langsam und vorsichtig stellte ich mich wieder auf meine wackeligen Beine, packte den rasenden Ecki resolut an beiden Oberarmen, um ihn auszubremsen.
»Jetzt beruhigst du dich erst einmal und hörst mir zu! Also: du kannst deine abgefahrenen Mord-Theorien, Strahlenangriffe von Außerirdischen oder sonstigen Ideen gleich wieder wegpacken!
So wie es aussieht, ist Martha einfach unglücklich hingefallen, hat sich hierbei an der Ecke des Couchtisches ein Loch im Kopf zugezogen. Bestimmt war sie schwach, ihr Kreislauf könnte plötzlich zusammengebrochen sein. Kennst sie doch, die hatte bestimmt nicht viele Lebensmittel im Haushalt auf Vorrat, und seit Freitag gibt es schließlich nichts mehr zu kaufen. Sehr organisiert oder einfallsreich war sie noch nie, unsere Frau Nachbarin.
Na ja, sie hat viel Blut verloren, lag da bewusstlos in ihrer Wohnung. Vermutlich ist sie gar nicht wieder aufgewacht und vielleicht an Austrocknung gestorben, was weiß ich, bin ja auch keine Medizinerin! Aber wir können weder Polizei noch Krankenwagen holen. Hast du etwa schon wieder vergessen, dass kein System mehr funktioniert?«
Ecki sah durch mich hindurch, als wären meine Worte bei ihm gar nicht bis ins Bewusstsein vorgedrungen. Wahrscheinlich stand er unter Schock, war durchgedreht, oder sogar beides auf einmal. Verdammt, was sollte ich jetzt bloß machen? Das Fahrrad war geklaut, ich fühlte mich schwach auf den Beinen, wir hatten eine Leiche im Haus liegen und Nachbar Eckerts Verstand hatte sich in eine abstruse Parallelwelt verflüchtigt. Ein bisschen viel für einen einzelnen Vormittag, auch wenn man hart im Nehmen ist! Ein lautes metallisches Schleifgeräusch, untermalt von Poltern und dem ohrenbetäubenden Röhren eines Motors, riss mich aus meinen düsteren Überlegungen. Ich ließ Ecki an Ort und Stelle stehen, schleppte meinen ausgelaugten Körper über den Parkplatz der Wohnanlage zur Straße, welche das städtische Klinikum mit einer breiten Ringstraße verband. Was war jetzt wieder Neues im Gange?
Der Anblick, welcher sich mir bot, hätte locker aus einem Endzeit-Movie stammen können. Ein vorsintflutlicher Panzer schepperte röhrend im strahlenden Sonnenschein langsam die Fahrbahn entlang und schob hierbei alles zu Blechknäueln zusammen, was ihm im Wege stand. Am Fahrbahnrad türmten sich deformierte Autos, nur die Einfahrten wurden frei gehalten. Auch wenn die Szenerie unwirklich und beängstigend anmutete: wir wurde schlagartig klar, dass diese Aktion des Militärs auch ihre Vorteile haben konnte! Klaus wird mit seinem Mustang nun viel problemloser überall durchfahren können, und das ist sehr gut. Vielleicht kann er dann auch Marthas Leiche abtransportieren, oder die Polizei wird es tun, oder … ich eilte zurück zu Ecki, um ihm die freudige Nachricht zu überbringen. Doch der verrückte Ecki war spurlos verschwunden, auch in seiner Wohnung konnte ich ihn nicht auftreiben.
Als ich sinnierend vor seiner verschlossenen Wohnungstüre stand, fiel mir siedend heiß eine grobe Ungereimtheit auf. Wieso war eigentlich Marthas Wohnungstür offen gestanden, warum hatte Ecki überhaupt Zugang zur Wohnung gehabt und die Frau da drin auffinden können? Vom Treppenhaus aus hätte man sie in all der Unordnung auch gar nicht entdeckt!
Ich konnte mich nicht erinnern, dass Ecki jemals irgendetwas mit Martha zu tun gehabt hatte, denn die beiden pflegten stets bloß mit abschätzigen, teilweise vermutlich frei erfundenen Geschichten über einander herzuziehen. Die ASO-Tante und der UFO-Freak. Es mutet höchst unwahrscheinlich an, dass Ecki seine soziale Ader entdeckt und sich für Marthas Wohlbefinden interessiert haben könnte. Und jemand, der bewusstlos ist, öffnet schließlich keine Wohnungstüren.
Mich beschlich ein schrecklicher Verdacht! Konnte es nicht ebenso gut möglich sein, dass der hungrige Ecki von Martha Lebensmittel abstauben wollte, die beiden darüber in Streit gerieten und Handgreiflichkeiten zu Marthas Sturz führten? Sie musste ihn selbst in die Wohnung gelassen haben, da bestand für mich kein Zweifel.
Ecki hatte mir vor Monaten einmal erzählt, er sei aufgrund von »Missverständnissen« schon zweimal wegen schwerer Körperverletzung angezeigt worden. Ich hatte damals still in mich hineingelacht und mir bildhaft vorgestellt, dass er wahrscheinlich seine Opfer für Außerirdische gehalten haben mochte und die Faustschläge für notwendig hielt, um die Welt vor einer Invasion zu retten. Bei Ecki wusste man außerdem nie, welche Geschichten ins Reich der Fantasie gehörten.
Aber jetzt, nach Marthas mysteriösem Tod, sah ich Eckis Verhalten in einem etwas anderen Licht. Zumal er sich sang und klanglos in einem unbeobachteten Moment einfach abgesetzt hatte.
Ich beschloss, endlich zum Rathaus hinüber zu wandern. Vielleicht konnte ich mit Peter oder Alexandra über die Sache sprechen. Auch um sicherzugehen, dass ich aufgrund meines überreizten Gefühlslebens keine Fehlschlüsse aus dem Erlebten zog. Seit die Welt aus den Fugen geraten war, konnte mir die permanente Überforderung ziemlich zusetzten und seltsame Denk-Effekte auslösen.
Eine Entscheidung hatte mir der wahnsinnige Ecki jedoch bereits dankenswerterweise abgenommen: ich würde nun auf jeden Fall am Rathaus-Camp teilnehmen. Die Aussicht, mit einer Leiche und einem mutmaßlich verrückten Mörder im Haus zu leben, erschien mir wenig attraktiv.
Nach einer kleinen Pause geht es weiter! Ich packe jetzt meine Sachen für morgen zusammen; meinen Schlafsack, den Inhalt meiner Hausapotheke, ein paar Klamotten und sonstige persönlichen Gegenstände. Wenn es erst noch dunkler in der Wohnung wird, ist das Auffinden der Sachen sicher nicht mehr so einfach. Außerdem werde ich die Eingangstür verbarrikadieren. Wegen Ecki, dem ich vorsichtshalber nicht mehr über den Weg traue. Falls er es wirklich getan hat, könnte er mich als Zeugin ebenfalls beseitigen wollen. Man weiß nie, was in einem kranken Gehirn wie dem seinen so vorgeht, nicht wahr?
*
Als ich nach meinem anstrengenden Fußmarsch beim Rathaus ankam, fiel mir sofort auf, dass es dort viel zu ruhig war. Kein Mensch saß in der Lobby, die Glastür hatte man versperrt. War ich zu spät eingetroffen, hatte sich die Versammlung bereits aufgelöst? Schon bahnte sich wieder bitteres Selbstmitleid seinen Weg durch mein arg strapaziertes Gehirn. Was für ein mieser Tag!
»Gabi? Komm, hier sind wir!«, hörte ich Alexandras Stimme. Sie kam über den mit Raureif überzogenen Rasen gelaufen, was seltsame Raschel-Geräusche verursachte. Sie nickte mir zu und signalisierte, ich solle ihr bitte folgen.
Wir bogen soeben um die Hausecke, als mir Brandgeruch in die Nase stieg. »Ist eisig kalt heute! Da haben wir uns gedacht, ein Feuer könnte bestimmt nicht schaden!«, erklärte Alexandra lächelnd. »Wo hast du denn heute dein Fahrrad gelassen?«
»Ist eine lange Geschichte!«, knurrte ich. »Die erzähle ich dir nachher, wenn ich mich ein bisschen ausgeruht und beruhigt habe.«
Meine Kollegin Alexandra zeichnet es von jeher aus, dass sie jede Menge Taktgefühl besitzt, immer die richtige Dosis von Distanz und Nähe findet. Sie spürt, wann man lieber nicht reden möchte, oder wann man für Scherze, Anregungen oder Zuspruch empfänglich ist. Niemals drängt sie sich auf, und niemals nervt sie einen im falschen Moment. Deswegen mag ich sie auch so gut leiden, suche oft ihre Nähe.
Auch in diesem Moment akzeptierte sie auf Anhieb, dass ich momentan keine weiteren Informationen von mir geben möchte. Sie legte mir nur die Hand auf die Schulter und schob mich in die Richtung von Walters Terrasse, um welche wir anderen Bediensteten ihn stets beneidet hatten.
Das Rathaus II ist eigentlich ein früheres Schwestern-Wohnheim, denn es befindet sich auf dem Gelände eines ehemaligen Krankenhaus-Komplexes, der aufgegeben wurde, als das neue hochmoderne Klinikum an anderer Stelle in Betrieb ging. Seither sind in den alten Gebäuden auf dem weitläufigen Park-Gelände diverse Behörden, unter anderem auch die Außenstelle des Rathauses, untergebracht.
Oft haben wir uns darüber aufgeregt, dass man uns in dieses etwas heruntergekommene, teilweise nur notdürftig renovierte Schwestern-Wohnheim gesteckt hat. Andererseits bringt das aber auch Vorteile mit sich, welche die Kollegen in der Innenstadt nicht genießen können.
So verfügt beispielsweise jedes Zimmer über ein eigenes Waschbecken und jedes Stockwerk über einen geräumigen Balkon, auf den man sich zum Rauchen zurückziehen kann. Einem großen Eckzimmer im Erdgeschoss, welches zum Versicherungsamt gehört, ist sogar eine breite Terrasse angegliedert.
Blickdichte Büsche umrahmen diese mit Waschbetonplatten gepflasterte Außenfläche. Genau deswegen wurde sie in der Vergangenheit gerne für Sektempfänge genutzt, wenn Kollegen ihren Geburtstag feierten oder einen der Chef einfach zwischendurch nicht finden sollte. Zimmerinhaber Walter stellte »seine« Terrasse dann stets großzügig zur Verfügung und rauchte selber gerne mal ein Zigarillo an der frischen Luft.
Auf eben dieser Terrasse war nun ein Feuerkorb aufgestellt worden, der neben ergiebigen Rauchschwaden auch heimelige Wärme verströmte. Ich zählte 14 Kollegen und Kolleginnen, die munter plaudernd drum herum standen und sich die Hände wärmten. Auch eine Schnapsflasche machte die Runde, weshalb ich mich unwillkürlich an eine Horde von Wermut-Brüdern erinnert fühlte, die rund um eine brennende Penner-Tonne steht und ausgiebig ihrem Alkoholismus frönt.
»Auch mal? Wärmt schön durch!« Walter Zimmerer kam mit der Pulle auf mich zu, wollte sie mir in die Hand drücken.
Ich schüttelte den Kopf. »Nee, lieber nicht. Mein Kreislauf ist nämlich ein bisschen schwach, weil ich nichts im Magen habe. Da käme Alkohol jetzt nicht so gut, fürchte ich!«
»Sag das doch gleich!« Alex verschwand in Walters Zimmer, kam kurz darauf mit zwei Müsli-Riegeln und einer Packung Gummi-Erdbeeren zurück.
»Wir haben auch schon was gegessen, du bist bloß zu spät aufgetaucht!«, lachte sie. »Wirst sehen, das hilft, es wird dir gleich besser gehen! Und dann würde ich an deiner Stelle sehen, dass du doch noch ein Schlückchen vom Wodka abbekommst. Das hilft echt gut gegen die saumäßige Kälte!«
Ich musste mich krampfhaft bemühen, nicht alles einfach hinunterzuschlingen, sondern langsam und mit Bedacht zu essen. Hatte ich denn jemals so etwas Leckeres verspeist, war es wirklich erst wenige Tage her, dass solche Genüsse ganz einfach und jederzeit zu haben waren? Wieder befiel mich ein Gefühl der Unwirklichkeit, als würde ich all das nur träumen.
Langsam kehrten meine Lebensgeister zurück, ich fühlte mich besser und nach einigen Schlucken Alkohol auch leichter, unbelasteter. Das seltsame Beamten-Biwak machte fast schon Spaß, ich lebte im Augenblick und genoss die Sonne und die trockene Wärme des lodernden Feuers.
Später sprach ich noch mit Peter und Alexandra über meine Erlebnisse vom Vormittag. Beide teilten meine Bedenken und Vermutungen über Ecki, hielten diesen Zeitgenossen wegen einer sehr wahrscheinlichen Geisteskrankheit für unberechenbar und gefährlich. So kamen wir schnell überein, dass ich schon morgen mit Sack und Pack im Rathaus-Camp einziehen sollte.
Außer mir hatten sich elf weitere Kollegen zu diesem Schritt entschlossen, drei davon würden Familienmitglieder mitbringen. Alle anderen wollten versuchen, sich selber durchzuschlagen und würden zu unseren Treffen somit wohl nicht wiederkommen. Unter ihnen ist auch die überempfindliche Selina, welche nach ihrer Scheidung alleine in einer schicken Penthaus-Wohnung lebt. Ihr räume ich kaum Überlebens-Chancen ein, das muss ich ehrlich zugeben.
Ich werde also heute Nacht, bevor ich zu Bett gehe, alle Rollläden herunterlassen, die Möbel mit Betttüchern abdecken und meine paar Habseligkeiten bereitstellen, um morgen meine Wohnung auf unbestimmte Zeit zu verlassen.
All meine Erinnerungen an ein bequemeres Leben, die vielen Fotoalben mit Urlaubsbildern, die technischen Geräte und Sammlerstücke werde ich zurücklassen müssen. All das, was mir früher so wichtig und wertvoll erschienen ist, hat momentan keinen praktischen Nutzen mehr für mich, wird mir beim Überleben nicht helfen können. Schade, aber nicht zu ändern.
Wird die Wohnung unangetastet bleiben oder bald schon skrupellosen Plünderern zum Opfer fallen? Ich weiß es nicht, doch mir bleibt ohnehin keine Wahl. Es handelt sich ja nur um Gegenstände. Sollte die Krise jemals enden, dann kaufe ich mir einfach alles neu. Viel schöner als vorher. Mit diesem tröstlichen Gedanken beende ich für heute meine Aufzeichnungen.
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Mittwoch, 19. Februar 2020
Beim Auszug des Volkes Israel aus Ägypten kann es bestimmt auch nicht anstrengender zugegangen sein. Heute habe ich nämlich meine Wohnung sorgfältig abgesperrt und die notwendigsten Habseligkeiten in einem großen Trekking-Rucksack und zwei zusätzlichen Taschen hinüber zum Rathaus II geschleppt.
Wie schwer einem diese paar Kilogramm doch vorkommen können, wenn man sie erst einmal eine Dreiviertelstunde lang auf den Schultern trägt! Ich bin so etwas nicht gewohnt. Bisher habe ich natürlich stets das Auto benutzt, sobald irgendetwas Schweres transportiert werden musste.
Die körperliche Anstrengung war das Eine. Die andere, weitaus schlimmere Neuerung schien mir jedoch das Gefühl einer nagenden Unsicherheit zu sein.
In den Blicken vieler Menschen hat sich seit vergangener Woche spürbar etwas verändert, ist eine schier unheimliche Transformation vonstatten gegangen. Misstrauen und Gier ist in den rot geränderten Augen zu lesen, was mich doch ziemlich ängstigt. Manch einer schien bei meinem Anblick zu überlegen, ob ich in meinen Behältnissen etwas von Interesse mit mir führen könnte, was einen spontanen Überfall rechtfertigen würde.
Nein, ich habe mich heute nicht wohl in meiner Haut gefühlt! Falls jemand über mich hergefallen wäre, was hätte ich dagegen schon ausrichten können?
Erleichtert ließ ich meine Taschen nach der zum Glück sicheren Ankunft im Rathaus II fallen, erhielt zur Stärkung gleich einen Apfel und ein Glas Milch von Peter in die Hand gedrückt. Er sah mir wohl an, in welch desolatem Zustand ich mich befand. Im Gegenzug wühlte ich die verbliebenen Lebensmittel aus dem Rucksack, die ich von zu Hause mitgebracht hatte. Ein Glas Marmelade, ein Glas Senf, Teebeutel, Mehl, Zucker und mehrere Packungen Spaghetti, welche ich in den vergangenen Tagen im Küchenschrank oft sehnsüchtig anschmachtete, jedoch nicht hatte zubereiten können. Wie auch, ohne heißes Wasser, ohne Kochgelegenheit? Hier liegen die Dinge anders, wir verfügen über eine Feuerstelle, über Töpfe und Kessel.
Peter zeigte mir dann »mein« Zimmer im ersten Stock. Jeder Camp-Einwohner erhielt zum Schlafen ein eigenes Zimmer zugeteilt, nur Kinder teilen sich eines zu mehreren oder werden bei den Eltern einquartiert. Peter meinte, das Haus weiter oben zu besiedeln, sei Blödsinn – man müsse dann jedes Mal die Treppen überwinden. Deswegen habe er nicht »mein« angestammtes dienstliches Zimmer für mich reserviert, sondern dieses hier.
Da hat er Recht, ohne Aufzug sind hoch gelegene Stockwerke nun einmal schwer zu erreichen. Ich warf also meinen Schlafsack auf den hässlich abgenutzten Teppichboden, stellte meine Kosmetikartikel auf den Waschbeckenrand und verstaute die Klamotten im Schrank. Den Rest meiner Sachen beließ ich in den Taschen, stellte diese nur unten in den Einbauschrank.
Den Schreibtisch rutschte ich mit Peters Hilfe unters Fenster, damit ich als Chronik-Schreiberin das Tageslicht möglichst lange zum Arbeiten nutzen konnte. Kerzen hatte er auch bereits für mich reserviert, lud sie allesamt vor mir auf dem Tisch ab.
Das war sie also, meine neue Heimat! Ein mickriges Zimmer in der »Kriegsopferfürsorgestelle«. So vertraut mir die Diensträume als jahrelanger Arbeitsplatz bei der Stadt hätten sein sollen, so fremdartig fühlten sie sich als Wohngelegenheit an. Es ist eben wirklich alles eine Sache der Einstellung, des Blickwinkels und der damit verbundenen subjektiven Wahrnehmung.
»Herzlich willkommen, fühl dich wie zu Hause!«, bemerkte Peter mit ein bisschen Ironie in der Stimme. »Wir sind übereingekommen, die Zimmer nicht abzusperren, auch nachts nicht. Man kennt und vertraut sich ja untereinander, nicht wahr?
Außerhalb der Schlafenszeiten halten wir uns meist unten in der Lobby auf, oder aber draußen am Feuerkorb, wo wir auch zusammen kochen werden. Du kannst dich selbstverständlich zum Schreiben zurückziehen, wann immer du willst. Ansonsten werden wir alles gemeinsam tun, ob wir nun essen, beraten, uns schützen oder was immer zukünftig so anfallen wird. Bist du einverstanden?«