- -
- 100%
- +
Ich nickte. »Klar, klingt ja auch vernünftig! Aber heute muss ich dringend noch einen letzten Alleingang machen. Ich möchte nachsehen, wie es meinen Eltern geht, ob sie einigermaßen klarkommen und noch etwas zum Essen haben. Heute Abend bin ich wieder da!«
Peter runzelte die Stirn. »Du willst alleine durch die Stadt laufen? Das ist eigentlich überhaupt nicht mehr ratsam. Mir sind schon merkwürdige Elemente da draußen begegnet, welche die Zivilisation und ihre Regeln bereits abgelegt zu haben scheinen. Die Straßen werden zunehmend gefährlich, weißt du?«
»Habe ich vorhin schon selber gemerkt!«, bestätigte ich und fand den Gedanken, einsam und alleine zur Wohnung meiner Eltern zu wandern, selber nicht mehr sehr geheuer. »Ich werde Alexandra fragen, ob sie nicht mitkommen und mich begleiten möchte!«
»Prima Idee! Hättest du vorher gerne eine Tasse Kaffee? Über dem Feuer köchelt zufällig gerade eine ganze Kanne davon!«, verriet Peter grinsend. Er kannte meine Vorliebe für dieses belebende Getränk in all seinen Variationen.
Und ob ich wollte! Dankbar nahm ich unten auf der Terrasse meine Tasse entgegen und hielt sie wie einen Schatz fest umklammert, wärmte mir nebenbei daran die Hände. Ganz sicher handelte es sich hier nicht um die besten Bohnen weltweit, die für diesen Kaffee verarbeitet worden waren; mir dünkte diese erste Tasse seit Tagen jedoch trotzdem wie ein ausgewähltes Geschenk des Himmels.
In kleinen, bewusst genossenen Schlucken nahm ich das Heißgetränk wie in einem feierlichen Ritual zu mir; ich fühlte, wie es mich belebte. Wie oft hatte ich im Dienst meinen edlen Kaffee einfach so nebenbei in mich hineinkonsumiert, ohne dem Geschmack jedes einzelnen Tropfens auf meiner Zunge nachzuspüren! Man weiß eben oft erst, was die Dinge einem wert sind, wenn man sie verloren hat.
Alexandra, diese gute Haut! Sie sagte sofort zu, dass sie mich gerne begleiten werde, kaum dass ich meine Frage gestellt hatte. Peter stattete uns beide vorsichtshalber noch mit einer Dose Pfefferspray aus, dann machten wir uns gleich auf den Weg. Bei Einbruch der Dunkelheit wollten wir aus Sicherheitsgründen schließlich spätestens zurück sein, und zu Fuß scheinen sich selbst verhältnismäßig kurze Strecken schier endlos hinzuziehen. Jetzt gehe ich hinunter zum Abendessen, weiterschreiben kann ich nachher immer noch. Ich bin schon sehr gespannt, was die Jungs im großen Hängekessel so zubereitet haben, es riecht auf dem Flur jedenfalls schwer nach Eintopf!
*
Es gab vorhin wirklich Eintopf, meine Nase hat mich nicht getrogen! Walter und Wolfgang rührten mit behäbigen Bewegungen im großen »Druidenkessel«, wie ich den schmiedeeisernen Giganten, welcher an einer standfesten dreibeinigen Vorrichtung mittels einer dicken Kette befestigt ist, künftig nennen werde. Das Ding erinnert mich nämlich extrem an den Kessel des gallischen Druiden Miraculix, oft und gerne habe ich die Comic-Abenteuer von Asterix und Obelix gelesen. Genau wie fast jede Person, die ich kenne.
In diesem Kessel brodelte jedoch kein Zaubertrank, vielmehr köchelte da ein dickflüssiger, sämiger Eintopf aus Kartoffeln, Fleischstücken und verschiedenen Gemüsesorten lecker duftend vor sich hin. Erst der unverhoffte Kaffee, und jetzt das! Ich beglückwünschte mich innerlich ausgiebig zu meiner klugen Entscheidung, hierher zu ziehen. Diese kulinarischen Highlights hätte ich sonst unweigerlich verpasst. Es mussten anscheinend auch andere Mitbewohner ihre allerletzten Vorräte von zu Hause mitgebracht und zur Verfügung gestellt haben.
Seit sich dieser für die Technik so destruktive EMP ereignet hat, habe ich sowieso den Eindruck, als hätten in mein vorher recht eintöniges Leben mehr Kontraste, mehr Höhen und Tiefen Einzug gehalten.
Innerhalb dieser wenigen Stunden, die seither vergangen sind, war ich wechselweise mit Hunger, Angst, Freude, Genuss, totaler Erschöpfung und Kameradschaftsgeist konfrontiert worden. Allesamt starke Emotionen und Erlebnisse, die zuvor in meinem Leben ziemlich unterrepräsentiert gewesen waren, oder zumindest im Alltag bei weitem nicht so intensiv ausfielen. Die Bandbreite des bewussten Erlebens hat sich für mich irgendwie erweitert, ich fühle neuerdings den aufregenden Puls des Lebens. Im Positiven wie im Negativen.
Schon seltsam, aber dieser Aspekt der Katastrophe beginnt bereits, mir zu gefallen. Ganz schön abgefahren, sich solche Gedanken in einem beginnenden Desaster zu machen, oder?
Wenn ich nur an den Weg zu meinen Eltern denke, den ich vor wenigen Stunden mit Alexandra gegangen bin! Früher fuhr ich gelegentlich nach dem Dienst mit dem Auto kurz dort vorbei, suchte jeweils schon nach kurzer Zeitdauer und ein paar nichtssagenden Gesprächen hektisch nach einem Vorwand, mich verabschieden und endlich nach Hause in den Feierabend fahren zu können.
Ich wollte meine wohlverdiente Ruhe haben. Abends noch etwas Freizeit träge vor dem Fernseher genießen können, bevor ich mich am folgenden Tag erneut in die berufliche Tretmühle stürzen musste. Ein fades Leben – meine Eltern hatten das Ihre, ich lebte mein eigenes.
Und heute? Dieselbe Welt, dieselbe Umgebung, dieselbe Jahreszeit, dieselbe Familie. Dennoch ist nichts mehr so, wie ich es mein ganzes bisheriges Leben lang als unumstößlich gewiss wahrgenommen habe.
Alexandra und ich brachen am frühen Nachmittag auf, die genaue Uhrzeit lässt sich zurzeit nicht mehr ohne weiteres herausfinden. Aber das ist egal, wen müsste es auch kümmern, wie spät es gerade ist? Das enge Korsett der Zeitplanung war so ziemlich das erste, wovon ich und alle anderen Betroffenen nach dem EMP befreit wurden. Jawohl, befreit! Genauso empfinde ich das. Bei Temperaturen um die 0 Grad schneite es leicht, nass und schwer klatschten die nur halb gefrorenen Schneeflocken zu Boden. Meine Eltern wohnen nicht allzu weit entfernt, vielleicht so um die zwei Kilometer. Das ist eine Distanz, welche auch zu Fuß bequem zu erreichen ist. Obwohl ich mit dem Auto schon sehr oft dieselbe Strecke gefahren bin, drängte sich mir gleich der Eindruck auf, als würde ich heute diesen Weg zum allerersten Mal zurücklegen.
Es muss an der erhöhten Aufmerksamkeit liegen. Daran, dass mein Fokus auf ganz anderen Details ausgerichtet ist. Wo mich früher Ampeln, viel zu langsam zockelnde Verkehrsteilnehmer oder Parkmöglichkeiten interessieren mussten, da konnte ich heute ganz andere Kleinigkeiten bewusst wahrnehmen.
Hier der Blick in einen romantischen Hinterhof zwischen Backsteingebäuden, dort eine Mutter, die ihren beiden Mädchen soeben ihre letzten Äpfel in die Hand drückt, um sie vorläufig vor dem Hungern zu bewahren, all das war neu für mich. Gleichzeitig war es ratsam, die fremden Menschen im Auge zu behalten, die einem so begegneten. Alles im Hinblick darauf, ob man sich vor ihnen aufgrund der Ausnahmesituation in Acht zu nehmen hatte, oder ob es sich eher um friedliche Zeitgenossen zu handeln schien. Alexandra erging es offenbar ganz ähnlich. »Ich vermisse die Aktenleserei gar nicht, findest du das eigentlich merkwürdig?«, fragte sie nachdenklich. »Es gibt doch so viele andere Dinge, so viele Möglichkeiten, seinen Tag auszufüllen und interessant zu gestalten. Nur hatten wir vor lauter eintöniger Arbeit überhaupt nicht die Möglichkeit dazu!«
Ich sah ihr in die Augen und nickte verständnisvoll, während wir gemächlich eine alte Gaststätte passierten, die schon seit längerer Zeit ihre Pforten geschlossen hatte.
»Schau mal, zum Beispiel hier! Die haben dort hinten, wo einst der Biergarten gewesen sein mag, noch diese schönen alten Metallschilder hängen! Sie sind zwar weitgehend verrostet, aber mir haben diese bunten Werbetafeln schon als Kind sehr gut gefallen. Mir würde es echten Spaß machen, so ein uraltes ›AfriCola‹-Schild schön vom Rost zu befreien, es neu zu lackieren und zu bemalen. Einfach als Wandschmuck.«
»Genau!«, strahlte Alex. »Ich liebe Tätigkeiten, von denen am Ende des Tages etwas bleibt. Wenn ich etwas erschaffen habe, das ich später noch sehen und anfassen, mich daran erfreuen kann, meine Tätigkeit einen Sinn hatte.
Da stellt sich dann viel leichter ein Erfolgserlebnis ein, als das bei unserem Job im Rathaus der Fall ist … nein, war, meine ich natürlich! Wenn ich von dort am Abend nach Hause gegangen bin, war ich einfach nur ausgelaugt und genervt. Der Aktenstapel vom Morgen war erledigt, dafür lag ein neuer da. Es fiel mir immer schwerer, hieraus eine Befriedigung zu ziehen!«
»Du sprichst mir aus der Seele!« Die nächsten paar hundert Meter gingen wir schweigend nebeneinander die Straßen entlang, jeder hing seinen eigenen Gedanken nach. Meinen Schal fest um den Kopf gewickelt, wanderte ich durch den Schneeregen, ohne mir wie sonst Gedanken um meine Frisur zu machen. Man wird inzwischen nicht mehr für eine tolle Haartracht oder die neueste Mode bewundert, sondern eher für Organisationstalent und Mut. Plötzlich blieb Alex abrupt stehen. »Ach, du lieber Himmel!
Schau mal, es hat schon angefangen!«
Ich sah in die von ihr angezeigte Richtung auf der anderen Straßenseite und stellte fest, dass man wohl eine kleine Metzgerei mit angeschlossenem Lebensmittelladen ausgeplündert hatte. Die Fensterscheiben waren eingeschlagen worden, Glasscherben und Verpackungsteile lagen wüst auf dem Gehweg verstreut.
»Das wird jetzt wohl überall Schule machen!«, stellte ich angewidert fest. Dennoch beschlich mich eine leise Ahnung, dass selbst grundanständige Leute wie Alex oder ich noch in Situationen geraten mochten, in denen wir einige unserer anerzogenen Grundsätze fallen lassen müssten, um zu überleben.
Aber heute noch nicht! Man konnte natürlich auch leicht mit dem Finger auf andere zeigen, so lange man selbst einen Teller Eintopf im Magen hatte.
Wir erreichten die Straße, in welcher meine Eltern vor fünf Jahren ihre Eigentumswohnung gekauft hatten. Lange mussten sie damals nach einer behindertengerechten Wohnung im Erdgeschoss suchen, die den Bedürfnissen meines nach einem Schlaganfall gehbehinderten Vaters gerecht werden konnte; doch die Geduld bei der monatelangen Suche war schließlich belohnt worden, ihre neue Wohnung war ebenso funktional wie schön.
»Sieh mal, diese Fahrbahn ist schon von den während der Fahrt liegen gebliebenen Fahrzeugen befreit worden! Sollten wir jemals zu unserem ›alten‹ Leben zurückkehren können, werden die Versicherungsgesellschaften wohl erst einmal alle blitzartig pleitegehen! Ich möchte nicht wissen, wie viele Totalschäden sich alleine in dieser Straße konzentrieren!«
Ich musste trotz des unschönen Anblicks der ineinander verkeilten Blechlawinen lächeln. »Du hast vielleicht Sorgen! Na, ich habe ja vorläufig auch noch gut lachen: Mein ›schöner Autowagen‹ steht schließlich äußerlich wohlbehalten zu Hause in seiner Parkbucht!
Wobei ich übrigens ohnehin der Meinung bin, dass das Geldsystem sich nicht so einfach von heute auf morgen wieder erholen wird; weder für die Versicherungskonzerne, noch für sonstige Wirtschaftsunternehmen wird in der ersten Zeit nach der Krise
›Business As Usual‹ problemlos wieder funktionieren. Besonders dann nicht, falls es weltweit zum Zusammenbruch der öffentlichen Ordnung und aller elektronischen Systeme gekommen sein sollte, was wir ja nach wie vor nicht sicher wissen.
So, wir sind am Ziel angelangt, meine Eltern wohnen hier in Nummer 31. Ich gehe mal eben um die Hausecke, um hinten an die Terrassentür zu klopfen!«
Sorry liebe Leute, mir fallen alle paar Minuten die Augen zu. Die Buchstaben auf dem Blatt vor mir verschwimmen schon zu einem schwarzen Einheitsbrei. Ich werde mich jetzt besser mit einem Extrapaar dicker Strick-Socken an den Füßen in meinem Schlafsack zusammenrollen. Weiterschreiben kann ich morgen immer noch, ich muss mich ja zum Glück nicht mehr dem starren Diktat fester Arbeitszeiten beugen.
Wann werde ich es wohl endlich lernen, mich kürzer zu fassen?
Gute Nacht, allerseits!
*
Ach, ist das herrlich! Ich komme soeben vom Kaffeetrinken mit meinen Mitbewohnern zurück, sogar ein paar Schoko-Kekse haben alle zum Frühstück erhalten! Frisch gestärkt kann ich nun meinen Bericht von gestern fertigstellen.
Ich muss mich allerdings ein bisschen beeilen, denn nachher wollen wir uns unten in der Lobby zum Brainstorming wiedertreffen, und meine Unterwäsche muss ich auch noch von Hand im Waschbecken reinigen. Lauter ungewohnte Tätigkeiten, die da neuerdings auf einen warten.
Gestern klopfte ich also behutsam an die Terrassentür meiner Eltern; schon durch die Scheibe bemerkte ich, dass beide mit versteinerten Gesichtern auf der Couch saßen und deprimiert dreinsahen. Freilich, die beiden sind in ihrem Alter nicht mehr sehr beweglich und verbringen daher normalerweise täglich viel Zeit vor dem Fernseher, welcher jetzt jedoch nicht mehr funktioniert.
Sich unterhalten können sie ebenfalls nicht. Mein Vater vermag seit seinem Schlaganfall nicht mehr zu sprechen, weil das Sprachzentrum im Gehirn damals schwer getroffen worden ist. Da hat tragischerweise auch eine jahrelange logopädische Behandlung keinerlei Verbesserung zeitigen können. Oft schon stürzte mein Vater deswegen in den Zustand einer tiefen, lähmenden Verzweiflung ab, aus dem man ihn nur mühsam wieder hervorholen konnte.
Als Alexandra und ich meinen Eltern schließlich Gesellschaft leisteten und ihnen von unserem neuen Camp-Leben erzählten, heiterte sich deren Stimmung sichtlich auf. Ich schlug ihnen vor, doch möglichst den Versuch zu starten, etwas Ähnliches mit der Nachbarschaft aus dem hiesigen Wohnblock ins Leben zu rufen. Dann könnten die Menschen gegenseitig aufeinander sehen, keiner wäre in seinem Elend alleine gelassen.
Zuerst hatte meine Mutter ein paar Bedenken, weil sie einige der Nachbarinnen nicht leiden mochte. Aber dann stellte sie immer mehr Fragen, wie wir denn gewisse Unstimmigkeiten überbrückt hätten. Mein Vorschlag ist zumindest auf fruchtbaren Boden gefallen, und das finde ich beruhigend.
Wir erfuhren, dass gestern überall im Wohnblock Soldaten an die Türen geklopft hatten, um der Bevölkerung eine wichtige Mitteilung zu machen. Ab morgen Abend gelte bis auf weiteres eine nächtliche Ausgangssperre, weil inzwischen der Notstand in Deutschland verhängt worden sei.
»In Deutschland? Bist du dir sicher, dass der Soldat wirklich ›in Deutschland‹ gesagt hat?«, fragte ich meine Mutter eindringlich. Sie nickte nur traurig.
Zum Schluss ließ ich mir von Mama noch die Vorräte in der Speisekammer zeigen; ich wollte sichergehen, dass diese in den nächsten Tagen noch nicht zur Neige gehen würden. Doch es verhielt sich genauso, wie ich es mir schon gedacht hatte: Die Generation aus dem Zweiten Weltkrieg ist offensichtlich noch immer in der Gewohnheit gefangen, Lebensmittel für den Notfall zu horten. Was ich früher mitleidig belächelt hatte, das stellt sich nun als vorausschauendes Handeln heraus. Nein, verhungern werden die beiden noch lange nicht!
Beim Abschied drückte ich meine Eltern so lange an mich, wie ich es seit der Kindheit nicht mehr getan hatte. In solchen Krisensituationen rücken Familien anscheinend trotz aller Differenzen automatisch wieder näher zusammen, weil sie sich gegenseitig brauchen. Blut ist eben doch dicker als Wasser!
Ich musste meine Mutter mit Nachdruck daran hindern, uns noch eine Art von gut gefülltem »Care-Paket« für den ach so weiten Nachhauseweg ins Rathaus II zusammenzustellen. Ich flunkerte halbherzig, dass wir mehr als genug Lebensmittel zur Verfügung hätten, sie sich also keine Sorgen zu machen brauche. Mit trotziger Miene drückte sie aber dennoch jeder von uns eine Salami in die Hand, bevor wir gehen durften.
Alexandra und ich traten den Rückweg an; wieder war mir stellenweise nicht ganz wohl in meiner Haut, denn wir gewahrten beispielsweise in einer Seitenstraße ein Grüppchen von Jugendlichen, welches anscheinend etwas Verbotenes im Schilde führte. Viele Augenpaare verfolgten uns aufmerksam, bis wir aus dem Blickfeld verschwunden waren.
Unsere Salamis hatten wir vorsichtshalber rechtzeitig unter den Jacken verschwinden lassen, um bloß keine Begehrlichkeiten zu wecken. Außerdem hielt ich das Döschen mit dem Pfefferspray in der Hosentasche fest umklammert, um es im Notfall schnell einsatzbereit zu bekommen. Diese Tage der Neuordnung bergen neben positiven Erfahrungen auch beängstigende Schattenseiten, das ist leider unübersehbar.
Ja, und zu Hause habe ich dann gleich an diesem Bericht weitergeschrieben, während Alexandra Peter von der angeblich deutschlandweiten Inkraftsetzung einer Nacht-Ausgangssperre berichtete. Wie schnell doch die Tage verfliegen! Ich weiß schon gar nicht mehr, wie sich Langeweile anfühlt.
*
Donnerstag, 20. Februar 2020
Jeder einzelne Tag bringt etwas Unvorhergesehenes, worauf wir aus der Situation heraus kreativ und vor allen Dingen unmittelbar reagieren müssen. Da ist besonnene Diplomatie genauso gefragt wie Einfallsreichtum, welcher auch noch auf die Sekunde genau abrufbar sein muss.
Heute sind wir beispielsweise haarscharf an einer Räumung unseres Rathaus-Camps vorbeigeschrammt. Hätten wir unseren Anführer Peter nicht gehabt, so wäre sicherlich einiges schief gegangen.
Es ist schon merkwürdig! Nie haben wir den schmächtigen und körperlich eher kleinen Peter zum Anführer gewählt oder ihn in irgendeiner Form mit dieser schwierigen Aufgabe betraut. Er ist ganz natürlich von Anfang an in diese anspruchsvolle Rolle hineingewachsen, besitzt eindeutige Führungsqualitäten, die jeder in unserer aus der Not geborenen Zweckgemeinschaft wie selbstverständlich anerkennt.
Dabei hat er bis vor einer Woche in seiner Eigenschaft als Beamter niemals eine leitende Position bekleidet, er verhielt sich eher unauffällig und tat seinen Dienst gerade so nach Vorschrift. Katastrophen wie diese scheinen die wahren Talente der Menschen zuverlässiger ans Tageslicht zu bringen, als jeder hoch dotierte Selbstfindungskurs. Auch dann, wenn diese Fähigkeiten zuvor ein ganzes Leben lang tief in der Persönlichkeit vergraben unauffällig geschlummert haben, der Inhaber selbst nichts von seinem Glück geahnt hat.
Nach dem Morgenkaffee nebst kleinem Frühstück saßen wir heute wie gewohnt in der Lobby zusammen, um über legale Möglichkeiten der Lebensmittelbeschaffung nachzudenken. Die Vorräte schmelzen bereits sichtbar dahin, wir müssen unbedingt rechtzeitig für Nachschub sorgen.
Wir kamen nach kurzer Diskussion überein, zunächst die Innenstadt zu rein informativen Zwecken aufzusuchen. Es muss in einem ersten Schritt abgeklärt werden, was dort aktuell vor sich geht, wie sich die Dinge in der Zwischenzeit entwickelt haben. Wir planten also zum Auftakt eine Art »Katastrophen-Stadtbummel«. Sind nach der ersten Orientierungslosigkeit womöglich sogar Apotheken, Arztpraxen, Banken oder Supermärkte provisorisch wieder geöffnet? Ist Geld als Zahlungsmittel überhaupt noch im Umlauf, oder hat bereits der Tauschhandel Einzug gehalten? All diese Fragen galt es abzuklären, bevor man weitere Pläne schmieden konnte.
»Wenn wir nachher alle gemeinsam losziehen, dann nimmt bitte jeder seine gesamten Geldbestände in bar mit, welche er noch in Besitz hat. Falls Geschäfte geöffnet haben sollten, dann müssen wir nämlich so viel als möglich ergattern, bevor die Warenbestände endgültig ausverkauft sind. Mit Nachschub ist schließlich nach Lage der Dinge nicht wirklich zu rechnen!«, verfügte Peter nach einer kurzen Denkpause.
»Sollten Bankfilialen wider Erwarten Bargeld herausrücken, müssen zusätzlich die Girokonten geleert werden. Mein eigenes selbstverständlich auch! Das Sparen können wir uns momentan sparen!«, versuchte er sich an einem sarkastischen Witz.
Ich sinnierte betroffen vor mich hin, sagte in Gedanken meinen komplizierten Finanzplanungen adieu. Was hatte ich mir von meiner angesparten Kontoeinlage nicht alles kaufen wollen! Nach heutigen Verhältnissen lauter sinnloses Zeug, auf das ich da meine Zeit und Energie verschwendet hatte. Mein Blick glitt verträumt zur großen Glasfront hinaus, als ich mir diese Extravaganzen bildlich vorstellte, welche mir den bis dato tristen Alltag zwischendurch versüßen sollten. Doch plötzlich war ich hellwach!
»Da kommt einer!« Die Köpfe meiner Mitbewohner flogen herum, alle betrachteten mit fragenden Blicken die Gestalt, welche sich langsam aus dem morgendlichen Eisnebel schälte und mit ausladenden, selbstsicheren Schritten auf den Eingang zustrebte.
»Mist!«, stöhnte Peter. »Erkennt ihr ihn etwa nicht? Das ist dieser arrogante Schönling Frieder, der immer alles besser kann und weiß als das halbe Universum. Was will ausgerechnet dieser Blödmann im Kaschmir-Mantel denn hier? Das kann nichts Angenehmes oder Vernünftiges sein!«
Peter erhob sich seufzend, um den geschniegelten »Blödmann im Kaschmir-Mantel« gleich an der Glastür in Empfang zu nehmen und möglichst stehenden Fußes abzuwimmeln.
Ich muss ein wenig ausholen. Frieder ist wohl das, was man unter Kollegen wenig freundlich einen »Schleimscheißer«,
»Arschkriecher« oder, verbal etwas stilvoller, verächtlich einen »Emporkömmling« nennt.
Obwohl von allerhöchstens durchschnittlicher Intelligenz, verstehen sich solche Menschen meisterlich auf das Dampfplaudern – das ist die hohe Kunst, mit vielen Worten eigentlich gar nichts zu sagen, dabei aber großen Eindruck bei ähnlich strukturierten Mitbürgern zu schinden. Man kennt dieses verrückte Phänomen von Politikern zur Genüge, nicht wahr?
Frieder hat zusätzlich Intrigen, Mobbing und seine Ellbogen beharrlich als Hilfsmittel benutzt, um sich mit der Zeit auch ohne herausragende dienstliche Leistungen eine recht gute Position innerhalb der biegsamen Behördenstruktur der Stadtverwaltung zu sichern. Wer nicht für ihn ist, ihn nicht ausgiebig hofiert und bauchpinselt, der ist automatisch gegen ihn und wird gnadenlos bekämpft. Bei den meisten Kollegen genießt er deswegen auch nicht gerade das höchste Ansehen, wird hinter seinem Rücken »der Un-Frieder« genannt.
Frieder Weiland legte auch seinem Ruf gemäß prompt los, kaum dass Peter die Glastür aufgesperrt hatte. »Was ist denn hier los? Entspricht es Ihrer Dienstauffassung, einfach tatenlos in der Halle herum zu hocken? Drüben im Rathaus I wird jede Hand dringend zum Zupacken gebraucht, und Sie machen sich hier einen lustigen Tag mit Zeltlager-Romantik!
Wer hat Ihnen überhaupt genehmigt, sich in diesen Diensträumen aufzuhalten? Was soll der Bürger denken? Hier sieht es aus und riecht wie in einem Unterschlupf für Gammler!
Ich muss sie bitten, das Rathaus II umgehend zu verlassen, Sie halten sich hier unbefugt auf! Entweder, Sie gehen freiwillig und halten sich anschließend zu unserer Verfügung, oder ich muss Meldung machen und ihre abartige Truppe gegen Ihren Willen auflösen lassen!«
Peter ließ sich nicht im Mindesten beeindrucken, obwohl Frieder Weiland gut und gerne an die zwei Meter und damit beinahe zwei Köpfe größer war. Wie die beiden dort in gespannter Körperhaltung im Eingangsbereich standen und sich gegenseitig abschätzig taxierten, fühlte man sich unwillkürlich an die Geschichte von David und Goliath aus der Bibel erinnert.
Frieder hatte sein giftstrotzendes Pulver erst einmal im üblich arroganten Tonfall verschossen, seinem Kontrahenten Peter jedoch nicht den beabsichtigten Schaden zugefügt. Im Gegenteil, dieser wirkte leicht amüsiert und legte nun seinerseits in ruhigem, vollkommen beherrschten Ton los.
»Herr Weiland, ich muss mich doch sehr wundern! Sollte es Ihnen etwa entgangen sein, dass der Notstand ausgerufen wurde und nun das Militär in dieser Stadt das Sagen hat? Bedienstete der Stadtverwaltung sind allerhöchstens noch Erfüllungsgehilfen, die sich den Weisungen der Soldaten ohne Fragen zu beugen haben; hierbei ist es übrigens ganz gleich, welchen Dienstgrad wir Mitarbeiter der Stadtverwaltung innehaben – was auch für Ihre Person gilt! Nun, ich weiß nicht, was Ihr Aufgabengebiet beinhaltet; wir haben heute Morgen jedenfalls von den Streitkräften den ausdrücklichen Befehl erhalten, hier unbedingt auszuharren, falls hilfesuchende Bürger unseren Rat benötigen sollten. Was im Übrigen vereinzelt schon geschehen ist! Sehen Sie zum Beispiel diese Frau mit den kleinen Kindern dort drin?«
Peter zeigte vielsagend auf die beiden Buben, welche mit unserem Kollegen Kai und seiner Ehefrau in unserem Camp eingezogen waren und seither Leben in die Bude brachten. Zurzeit schmiegten sich die Rabauken allerdings dekorativ an ihre Mutter, als handele es sich tatsächlich um eine bemitleidenswerte Flüchtlingsfamilie.